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Vom Nachzügler zum Vorreiter Böckler Impuls

Mindestlohn: Vom Nachzügler zum Vorreiter

Ausgabe 04/2022

In vielen europäischen Ländern reichen die Mindestlöhne nicht aus, um das Existenzminimum zu sichern. Höhere Lohnuntergrenzen sind notwendig. Deutschland könnte vorangehen.

Deutschland könnte der europäischen Mindestlohnpolitik neuen Schwung verleihen. Zwar liegt die Bundesrepublik mit einem Mindestlohn von aktuell 9,82 Euro hinter anderen westeuropäischen EU-Ländern zurück. Aber mit der bereits beschlossenen Anhebung auf 10,45 Euro zum 1. Juli und auf 12 Euro zum 1. Oktober 2022 könnte Deutschland „vom Nachzügler zum Vorreiter“ aufsteigen, schreiben Malte Lübker und Thorsten Schulten im WSI-Mindestlohnbericht 2022. Auch in anderen Ländern gebe es Bemühungen, die Untergrenze auf ein angemessenes Niveau anzuheben. Die Erkenntnis, dass die bestehenden Mindestlöhne selbst bei einer Vollzeittätigkeit nicht ausreichen, um Armut zu überwinden, setze sich nach und nach durch. 

Wie Deutschland haben die meisten europäischen Staaten ihre Mindestlöhne zum Jahreswechsel erhöht. Der mittlere Zuwachs in der EU betrug zum 1. Januar 2022 4,0 Prozent und fiel damit etwas größer aus als im Vorjahr mit 3,1 Prozent. Die zuletzt starken Preissteigerungen haben allerdings dazu geführt, dass von den Erhöhungen real weniger bei den Menschen ankommt. Das gilt auch für Deutschland. Erst durch die Anhebungen im Sommer und Herbst können Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten, mit deutlichen realen Zuwächsen rechnen. Mit einem Mindestlohn von 12 Euro stünde die Bundesrepublik innerhalb der EU an zweiter Position nach Luxemburg, wo aktuell eine Lohnuntergrenze von 13,05 Euro gilt. Außerhalb der EU haben Australien mit umgerechnet 12,91 Euro und Neuseeland mit 11,96 Euro ein ähnliches Niveau. In Großbritannien wird der Mindestlohn im April dieses Jahres auf umgerechnet 11,05 Euro angehoben.

Zwölf Euro sind angemessen

Eine Untergrenze von 12 Euro entspräche in Deutschland in etwa 60 Prozent des Medianlohns. Diese Schwelle gilt international als Richtwert für ein angemessenes Mindestlohnniveau. Auch die Europäische Kommission bezieht sich in ihrem Entwurf für eine Europäische Mindestlohnrichtlinie, die mit großer Wahrscheinlichkeit in diesem Jahr verabschiedet wird, auf diese Schwelle. Nach Berechnungen der Industrieländer-Organisation OECD lag Deutschland zuletzt mit einem Wert von nur 50,7 Prozent noch weit darunter. Im Vergleich zum nationalen Lohnniveau deutlich höhere Mindestlöhne haben beispielsweise Portugal mit 65,1 Prozent und Frankreich mit 61,2 Prozent. Außerhalb der EU sind Neuseeland mit 64,7 Prozent, Korea mit 62,5 Prozent und Großbritannien mit 57,6 Prozent in den letzten Jahren den Schritt zu höheren Mindestlöhnen gegangen, ohne dass es zu nennenswerten Beschäftigungsverlusten gekommen ist. In Großbritannien soll der Mindestlohn bis 2024 sogar auf zwei Drittel des Medianlohns steigen. Keinen Mindestlohn haben Österreich, die nordischen Länder und Italien. In diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat unterstützt wird. Faktisch ziehen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze ein, sodass der Niedriglohnsektor deutlich kleiner als in Deutschland ist.

Die WSI-Experten Lübker und Schulten konstatieren einen Aufbruch in der deutschen und europäischen Mindestlohnpolitik, die sich nun stärker als früher am Ziel eines angemessenen Lohnniveaus orientiert. Impulse dazu kämen nicht nur von der EU-Kommission, sondern auch aus dem Europäischen Parlament. Das hatte im November mit großer Mehrheit einen eigenen Richtlinienvorschlag verabschiedet, der in Teilen deutlich über den Kommissionsvorschlag hinausgehe, so die Forscher. 

Die Wissenschaftler regen an, die Schwelle von 60 Prozent des Medianlohns als Kriterium für künftige Anpassungen des Mindestlohns in Deutschland gesetzlich zu verankern. „Dieser Schritt würde das Mandat der Mindestlohnkommission stärken und ihren Handlungsspielraum für die Zukunft erweitern“, bilanzieren Lübker und Schulten. „Dies würde verdeutlichen, dass es der Bundesregierung um die nachhaltige Etablierung eines angemessenen Mindestlohn­niveaus geht.“ Im März 2021 hatten Arbeitsminister Hubertus Heil und der damalige Finanzminister Olaf Scholz in einem gemeinsamen Papier angekündigt, den bisherigen Prüfkatalog im Mindestlohngesetz um das 60-Prozent-Kriterium zu ergänzen. Im kürzlich vom Kabinett verabschiedeten Entwurf des Mindestlohnerhöhungsgesetzes fehlt allerdings eine entsprechende Passage.

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