zurück
HBS Böckler Impuls

Arbeitsmarkt: Strategien für mehr Arbeitsplätze

Ausgabe 12/2009

Die weltweite Wirtschaftskrise trifft den Kern des deutschen Arbeitsmarktes. Das WSI skizziert, wie Jobs geschützt werden und neue entstehen können. Vor allem durch klugen Umgang mit der Arbeitszeit - aber auch durch die richtige soziale Absicherung und mehr öffentliche Dienstleistungen.

Obwohl die Abwärtsspirale der Weltwirtschaft den Exportweltmeister besonders hart trifft, hat die Arbeitslosigkeit in Deutschland bislang weniger zugenommen als im übrigen Europa. Warum das so ist und was Beschäftigungspolitik leisten kann, wenn der Druck demnächst nochmals zunimmt, analysiert ein Forscherteam des WSI. Untersuchungen des WSI zeigen: Die Zahl der in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden ist in den vergangenen Monaten durchaus vergleichbar stark zurückgegangen wie in früheren Abschwüngen. Dass die Jobverluste bisher dennoch recht glimpflich ausgefallen sind, hat vor allem eine Ursache: Die Arbeitzeit vieler Beschäftigten wurde an die gesunkene Nachfrage angepasst - mithilfe von staatlich geförderter Kurzarbeit und vielfältigen betrieblichen Lösungen.

Im März gab es 1,2 Millionen Empfänger von Kurzarbeitergeld. Die reduzierten ihr Pensum um bis zu einem Drittel, die Bundesagentur für Arbeit erstattet ihnen 60 Prozent des ausgefallenen Arbeitsentgeltes.  Bis zum Frühjahr wurden auf diese Weise gut 430.000 Stellen gesichert, berichtet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Auch die Unternehmen haben eine beachtliche interne Flexibilität bewiesen: Überstunden und Guthaben auf Zeitkonten wurden abgebaut, Arbeitszeitverlängerungen zurückgenommen, Regelarbeitszeiten angepasst. Der Tarifvertrag Metall etwa ermöglicht über Jahre hinweg eine Variation der Regelarbeitszeit um bis zu 25 Prozent. All das trug dazu bei, dass die befürchteten Massenentlassungen bislang ausblieben.

In und nach der Krise: Auf die Arbeitszeit kommt es an

Durch die Arbeitszeit-Verkürzungen sind überraschend robuste Beschäftigungsbrücken entstanden, erklären die Wissenschaftler. Sie raten, diese Instrumente weiterzuentwickeln - um den Arbeitsmarkt in der Krise zu stabilisieren und nach ihrem Ende neu zu ordnen. Der wichtigste Pfeiler ist das Kurzarbeitergeld; dessen maximale Bezugsdauer sollte von zwei auf drei Jahre ausgedehnt werden, regt das WSI an. Damit Beschäftigte Freiräume für das Nachholen eines Abschlusses gewinnen, könnte außerdem die Pflicht aufgehoben werden, dass der Arbeitnehmer dem Betrieb jederzeit zur Verfügung stehen muss. Bislang deuten erste Erkenntnisse darauf hin, dass es auch in Zeiten von Kurzarbeit erhebliche Probleme gibt, Weiterbildung und Arbeitszeiten miteinander in Einklang zu bringen. Dabei ist der Zeitpunkt günstig für die Betriebe, ihre Beschäftigten jetzt zu qualifizieren. Tun sie das, können sie sich später die aufwendige Suche nach Spezialisten ersparen, erklären die Wissenschaftler.

Um Beschäftigte auch nach dem Auslaufen des Kurzarbeitergeldes in den Firmen zu halten, "sollten Beschäftigung sichernde Arbeitszeitverkürzungsmodelle für Betriebe oder ganze Branchen entwickelt und staatlich gefördert werden". Es seien hierfür Regelungen denkbar, bei denen der Staat nicht den Verdienstausfall übernimmt, sondern die Sozialversicherungsbeiträge auf das Niveau vor der Arbeitszeitverkürzung aufstockt. Ein weiterer Ansatzpunkt: Wenn jemand durch krisenbedingte Arbeitszeit-Reduktion zum Geringverdiener wird, könnte der Staat vorübergehend das Arbeitsentgelt ohne Bedarfsprüfung mit Arbeitslosengeld II (ALG?II) aufstocken. In vielen Branchen bieten die Tarifverträge zudem noch weiteren Spielraum dafür, die Regelarbeitszeit anzupassen.

Die Arbeitszeit hat eine enorme Bedeutung für die Steuerung des Arbeitsmarktes - diese Lehre lässt sich laut WSI schon jetzt aus der  Krise ziehen. Allerdings werde dieses Potenzial außerhalb der Krisenzeiten nur wenig genutzt. In Deutschland sind die Möglichkeiten zur individuellen Arbeitszeitgestaltung trotz des gesetzlichen Anspruchs auf Teilzeit unterentwickelt, bemängeln die Wissenschaftler. Mehrere Studien belegen: Beschäftigte in Vollzeit möchten gerne weniger Stunden je Woche arbeiten, Teilzeitkräfte dagegen mehr. Die Arbeitszeitregelungen kommen ihren Wünschen indes nicht entgegen. In der Praxis reduzieren überlange Arbeitszeiten von Vollzeitkräften die Beschäftigungschancen von Jobsuchenden, starre Zeitregeln erschweren die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Qualifizierung. Die Flexibilität von Arbeitszeiten orientiere sich fast nur an den Interessen der Arbeitgeber, bemängelt das WSI.

Der Arbeitsmarkt braucht soziale Absicherung

Die Krise trifft den Arbeitsmarkt in einer schwierigen Phase. Das einstige Normalarbeitsverhältnis des männlichen Industriearbeiters hat an Bedeutung verloren, zunehmend mehr Menschen arbeiten in Teilzeit, Minijobs, Leiharbeit und befristeten Arbeitsverhältnissen. Das sind Folgen der internationalen Arbeitsteilung und gesellschaftlicher Veränderungen, aber auch von politischen Entscheidungen, so das WSI. Die Reformen der vergangenen Jahre führten zu einer "Spaltung und Segmentierung" des Arbeitsmarktes, die das finanzielle Fundament der sozialen Sicherungssysteme untergraben und einen großen Teil der Beschäftigten mit hohen Prekaritätsrisiken allein lässt.

Von 2003 bis 2007 verdoppelte sich infolge der Hartz-Reformen die Zahl der Leiharbeitnehmer. Die Leiharbeiter waren jedoch die ersten, die seit April 2008 ihre Jobs verloren, ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung liegt inzwischen wieder unter zwei Prozent. Die Wissenschaftler warnen davor, Arbeitsmarktpolitik weiterhin zulasten prekärer, schlecht qualifizierter und weiblicher Beschäftigter zu betreiben: "Verheerend wäre es, wenn es aus kurzfristigen Kostengründen zu einer weiteren Einschränkung der Ausbildungs- und Weiterbildungsaktivitäten käme."

Die Krise sollte stattdessen genutzt werden, um notwendige Korrekturen in der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik zu vollziehen, schreiben die Autoren. In den vergangenen Jahren dominierte die Ansicht, der Sozialstaat behindere das Funktionieren des Arbeitsmarktes. Das WSI wendet dagegen ein, der Sozialstaat sichere den Arbeitsmarkt ab und unterstütze ihn. So werde eine wichtige Funktion der sozialen Sicherungssysteme erst in der Krise richtig spürbar: Sie schützen nicht nur den Einzelnen, sondern stützen als "automatische Stabilisatoren" im Abschwung die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Der Sozialstaat reduziert somit die konjunkturelle Verwundbarkeit. Auch aus diesem Grund befürworten die Wissenschaftler des WSI eine Erhöhung des Regelsatzes für das ALG II.

Außerdem weisen die Forscher auf die wichtige Aufgabe des ALG I hin: Die Versicherungsleistung ermöglicht effizienteres Suchen auf dem Arbeitsmarkt. Wer länger suchen kann, findet eher die zu ihm passende Stelle. Darum rät das WSI dazu, die maximale Bezugsdauer des ALG I auf einheitlich zwei Jahre zu verlängern. Um die Finanzen der Arbeitslosenversicherung zu stützen, schlagen die Forscher eine Wieder­einführung der Defizithaftung des Bundes vor.

Die Krise trifft den Kern des Beschäftigungsmodells

Die aktuelle Krise ist sowohl eine Konjunktur- wie auch eine Strukturkrise. "Besonders dramatisch zeigt sich dies momentan in den bisher exportstarken, industriellen Leitbranchen Deutschlands - der Automobilindustrie, Teilen des Maschinenbaus und der chemischen Industrie", schreiben die Autoren. Die reale Bruttowertschöpfung im Produzierenden Gewerbe sank von März 2008 bis März 2009 um mehr als 20 Prozent, im Verarbeitenden Gewerbe gar um 22 Prozent. Dass führte dazu, dass es ausgerechnet in Baden-Württemberg den bundesweit stärksten Anstieg der Arbeitslosigkeit gab, um mehr als 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In Brandenburg dagegen ging sie um 4,8 Prozent zurück, wenngleich von einem weit höheren Niveau. Innerhalb von einem Jahr nahm in der Bundesrepublik die Zahl der arbeitslosen Männer um 9 Prozent zu, die der Frauen sank um 5 Prozent.

Die Forscher erwarten, dass nach der Krise in einigen Branchen weniger Menschen arbeiten als vorher. Folglich gehe es mittelfristig darum, alternative Beschäftigungschancen zu ermöglichen. Der Umbruch auf dem Arbeitsmarkt erfordere eine Neuausrichtung von Industrie- und Branchenpolitik sowie der Bildungs- und Familienpolitik. Besonders viel versprechend sei ein öffentlich finanzierter Ausbau der sozialen Dienstleistungen, also der Kinderbetreuung und -erziehung, der Kranken- und Altenpflege. All diese Aufgaben lassen sich nur schlecht über den Markt lösen, darum sollte der Staat einspringen, empfiehlt das WSI. In Deutschland bestünden "erhebliche Wachstumspotenziale". Das Beispiel der skandinavischen Länder mache den doppelte Nutzen der staatlichen Investitionen in Soziale Dienstleistungen sichtbar: Es entstehen zum einen zahlreiche Arbeitsplätze in diesen Branchen, zum anderen ermöglicht das vielen Beschäftigten, ihren Beruf besser mit dem Familienleben zu vereinbaren.

  • Kürzer arbeiten statt Entlassen: So wurden in der ersten Phase der Wirtschaftskrise Jobverluste vermieden. Zur Grafik
  • Die Krise trifft nicht alle Branchen gleich - in manchen entstehen sogar mehr neue Stellen. Zur Grafik
  • Im übrigen Europa stieg die Arbeitslosigkeit seit Beginn der Krise deutlich stärker an. Zur Grafik

Claudia Bogedan, Alexander Herzog-Stein, Christina Klenner, Claus Schäfer: Vom Schutzschirm zum Bahnbrecher - Anforderungen an die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in der Wirtschaftskrise (pdf), WSI-Diskussionspapier Nr. 167, August 2009

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen