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HBS Böckler Impuls

Mitbestimmung: Rechtslücken bei der Europa-AG

Ausgabe 11/2012

Haben Unternehmen bereits einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat, bleibt die Mitbestimmung bei der Umwandlung in eine SE unangetastet. Ist dies aber nicht der Fall, lässt sich per SE ein Zustand mit weniger oder ganz ohne Mitbestimmung einfrieren.

Seit sieben Jahren können Unternehmen die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, kurz SE) als Rechtsform wählen. Inzwischen gibt es nach einer aktuellen Analyse des Unternehmensrechtlers Roland Köstler 100 operativ tätige Unternehmen mit mehr als fünf Beschäftigten in Deutschland, die als SE firmieren. Der Mitbestimmungsexperte der Hans-Böckler-Stiftung hat die Entwicklung der SE-Landschaft in den vergangenen Jahren beobachtet – vor allem mit Blick auf die Unternehmensmitbestimmung. Seine Analyse: Das prägende Merkmal der Verhandlungen über die Mitbestimmung im neuen Unternehmen war stets das Vorher-Nachher-Prinzip. „Hatten Unternehmen vorher Arbeitnehmer im Aufsichtsrat – sei es Parität oder Drittelbeteiligung – so blieb es dabei.“ Das bedeutet aber auch: Kleinere Unternehmen, die bisher gar keine Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat oder nur eine Drittelbeteiligung hatten, können sich mithilfe der SE dauerhaft der 1976er-Mitbestimmung entziehen – auch wenn sie über die im Mitbestimmungsgesetz festgelegte Schwelle von 2.000 Arbeitnehmern hinauswachsen. „Ist man einmal eine SE“, so Köstler, „wird der reine Personalaufbau danach nicht mehr als ein Fall für neue Verhandlungen angesehen“ – ein Punkt, den der Jurist bereits bei der jüngsten Revision des SE-Rechts vor zwei Jahren kritisiert hatte.

Rechtsformwechsel meist vor Erreichen der Mitbestimmungsschwelle. Von den 100 „normalen“ deutschen SE – diese Bezeichnung dient zur Abgrenzung von der großen Zahl nur auf dem Papier existierender oder Mini-SEs – hatten 86 bei der Gründung weniger als 2.000 Arbeitnehmer. Egal, wie groß sie in den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden: Paritätisch besetzte Aufsichtsräte wird es bei ihnen nicht geben. In über der Hälfte dieser Fälle ist die Unternehmensmitbestimmung sogar bei Null eingefroren. Hier gibt es gar keine Belegschaftsvertretung im Aufsichtsrat.

Als problematisch stuft Köstler auch Fälle ein, in denen operativ tätige Unternehmen eine auf Vorrat gegründete, mitbestimmungsfreie SE zur Umfirmierung nutzen. So geschah es bei 26 der 100 normalen SE. Zwar gebe es ein Gerichtsurteil, demzufolge nach der „Aktivierung“ einer solchen Vorratsgesellschaft neu über die Mitbestimmung verhandelt werden muss. Eine entsprechende Klarstellung, die dies für jeden Einzelfall garantiert, zum Beispiel eine Überwachungspflicht durch die Registergerichte, fehle jedoch.

 
  • In Deutschland gibt es 100 "normale" SEs, von denen die meisten wegen ihrer Größe keine 1976er-Mitbestimmung haben - und selbst bei steigender Beschäftigtenzahl wohl nie eine bekommen werden. Zur Grafik

Roland Köstler ist Referatsleiter und Experte für Unternehmensrecht und Unternehmensmitbestimmung in der Hans-Böckler-Stiftung

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