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HBS Böckler Impuls

Geringverdiener: Niedriglohn: Wissenschaftliche Vorstöße in eine Grauzone

Ausgabe 02/2006

7,8 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland zu niedrigen Löhnen - oder sind es nur 3,3 Millionen? Trotz völlig unterschiedlicher Berechnungsweisen der Forschungsinstitute schälen sich inzwischen allgemeingültige Entwicklungstrends heraus: Der Niedriglohnsektor wächst nicht nur, er verfestigt sich.

In der aktuellen Debatte um Kombilohn und Mindestlöhne ist der Niedriglohnsektor quasi die Startrampe für alle Argumente. Die Forschungsinstitute machen es da niemandem leicht. Sie rechnen mit völlig unterschiedlichen Konzepten und Daten und kommen zu sehr verschiedenen Angaben. Jüngste Studien:

IAB: 3,9 Millionen Vollzeitbeschäftigte gehörten im Jahr 2001 zu den Geringverdienern, mehr als jeder Sechste oder 17,4 Prozent. Verdienstgrenze: 1.630 Euro brutto.

WSI: 7,8 Millionen Menschen mit Fulltimejob lebten 1997 als Geringverdiener und erhielten prekäre Löhne (23,8 Prozent im Westen, 26,0 Prozent im Osten) oder sogar Armutslöhne (12,1 West, 9,5 Ost). Verdienstgrenze für den Armutslohn: 1.442 Euro brutto.

IAT: 6,9 Millionen Geringverdiener, darunter 3 Millionen mit Vollzeitarbeit, die anderen in Teilzeit oder geringfügiger Beschäftigung.  22 Prozent aller Beschäftigten bekommen im Osten weniger als 1.296 und im Westen keine 1.709 Euro. Stundenlöhne wurden hier auf Vollzeit hochgerechnet.

OECD: 15,7 Prozent der Beschäftigten, die im Jahr 2000 über 15 Stunden arbeiteten, sind Niedriglöhner. Trotz dieser großen Spannweite zeigen sich die Aussagen zu den Entwicklungstrends doch "weitgehend robust gegenüber unterschiedlichen Niedriglohnschwellen" (IAB). Der wichtigste Befund: In den 90er-Jahren, vor allem ab 1997, hat der Anteil der Niedriglohnbeschäftigung zugenommen, laut IAB-Definition von 15,8 auf 17,4 Prozent in 2001.

Niedriglohnsektor als Chance? Niedriglohn-Arbeitsplätze werden mit der Hoffnung verbunden, dass mit ihnen dauerhaft mehr Arbeitsplätze entstehen, und zwar solche mit einfachen Arbeiten für gering Qualifizierte. Sie könnten hier das Sprungbrett zu besser entlohnten Jobs finden.

Mit seiner Niedriglohnstudie hat das IAB diesen Hoffnungen im vergangenen Jahr einen Dämpfer verpasst: Niedriglohnjobs sind häufig instabil und nur von kurzer Dauer - und damit einer langfristigen Integration abträglich. "Für viele  Arbeitnehmer wird der Niedriglohnsektor zudem zur Niedriglohnfalle", analysierte das Institut. Nur noch eine Minderheit (ein Drittel) der Geringverdiener schaffte es im Zeitraum 1996 bis 2001, in eine bessere Position aufzusteigen. Viel weniger als im untersuchten Vergleichszeitraum zuvor.

Der Niedriglohnsektor hat sich also in den vergangenen beiden Jahrzehnten verfestigt. "Im internationalen Vergleich stellt dieser Trend eine Besonderheit dar", betont das IAB. Selbst in den Ländern mit einem größeren Niedriglohnsektor, etwa in Großbritannien, ist die Aufstiegsmöglichkeit nicht so stark blockiert wie in Deutschland, so ein Zwölf-Länder-Vergleich der EU-Kommission.

Wer arbeitet im Niedriglohnsektor? Frauen, junge Leute, gering Qualifizierte - bestimmte Beschäftigtengruppen sind unter den Niedrigverdienern deutlich überrepräsentiert. Unabhängig von den umstrittenen Schwellenwerten sind auch die Ergebnisse der Strukturanalyse des WSI: Sie widerlegen viele gängige Annahmen über Niedriglohnempfänger:
 
=> Der Niedriglohnsektor ist kein Sammelbecken von gering Qualifizierten, denen es an Produktivität mangelt und die darum schlecht bezahlt werden. Tatsächlich haben zwei von drei Niedriglöhnern eine Berufsausbildung vorzuweisen oder sogar ein Studium absolviert.

=> Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland nicht der Bereich, der durch die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern in Billigjobs entstanden ist - diese machen nur 8,9 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten aus.

=> Niedriglöhner sind nicht überwiegend jung und unerfahren (und somit eher vorübergehend betroffen): Laut WSI sind fast zwei Drittel älter als 30, 25 Jahre und älter sind dem IAB zufolge sogar 83,9 Prozent.

=> Nur eine Minderheit der Geringverdiener, nämlich ein Drittel, übt tatsächlich einfache Tätigkeiten aus.

Zum großen Teil sind die niedrigen Löhne nicht individuell durch die Person des Geringverdieners erklärbar, sondern nur durch die Beschäftigung in bestimmten Wirtschaftsbereichen. Gut 80 Prozent der Geringverdiener arbeiten in Kleinst- und kleinen Betrieben, 63 Prozent im Dienstleistungssektor, etwa 17 in Privathaushalten.

Niedriglohnsektor als Problem? Als Problem wird der Niedriglohnsektor nicht nur aus sozialen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen gesehen, weil er die private Kaufkraft und Binnennachfrage schwächt.

Reinhard Bispinck, Tarifexperte beim WSI, sieht "für jede entwickelte Volkswirtschaft ein alarmierendes Zeichen", wenn selbst mit einer Vollzeittätigkeit nur ein Lohn erreicht wird, der weder die Arbeitsleistung noch den Mindestbedarf einer Person, geschweige denn einer Familie deckt.

"Armut trotz Arbeit"? Niedriglöhne für Vollzeitarbeit bedeuten nicht zwangsläufig ein Leben in Armut, insbesondere wenn noch andere Einkünfte erzielt werden oder mehrere Einkommen in einem Haushalt zusammenfließen. In den meisten Verteilungsstudien wird die Einkommensarmut heute an den privaten Haushalten festgemacht, nicht am Arbeitslohn für eine Person.

Der Armutsbericht der Bundesregierung zeigt jedoch auf, wie sehr sich das Risiko, in Armut abzurutschen, durch Niedriglöhne erhöht. Insbesondere, wenn Aufstiegsmöglichkeiten versperrt sind und Betroffene zwischen Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlten Jobs hin- und her pendeln.

Gibt es einen "gerechten Lohn"? Eine Messlatte für einen "gerechten Lohn" gibt es nicht, auch die Wissenschaft liefert sie nicht. Offiziell existiert nur eine einzige verbindliche Norm - an die sich aber niemand hält. Die Europäische Sozialcharta (ESC) von 1961 legt fest, dass ein Lohn unter 60 Prozent des nationalen Netto-Durchschnittslohns nicht angemessen ist. 2003 waren das nach Berechnungen des WSI 1.012 Euro, und 3,3 Millionen Menschen in Deutschland verdienten weniger. (Brutto entspricht das in etwa den 1.442 Euro, die das WSI als Grenze für den Armutslohn ansetzt).

Gesetzliche Mindestlöhne gibt es in Deutschland nicht. Die eigentliche Haltelinie nach unten ist im System der Bundesrepublik immer noch der Tarifvertrag. Viele der untersten Tariflöhne liegen mit 4, 5 und 6 Euro brutto aber inzwischen voll im Niedriglohnbereich, vor allem, aber nicht nur in Ostdeutschland. Hinzu kommt, dass durch die nachlassende Tarifbindung immer weniger Menschen von Tarifverträgen profitieren.

Als "heimlicher Mindestlohn", so Bispinck und sein Kollege Claus Schäfer*, wirkt die Pfändungsfreigrenze: netto 985 Euro (brutto 1.360  Euro) lässt der Gerichtsvollzieher dem einzelnen zum Leben.

Kann ein Lohn sittenwidrig sein? Das entscheiden Gerichte, und auch nur, wenn es Kläger gibt. Bisher gilt noch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2004, das selbst einen Lohn unterhalb des Sozialhilfeniveaus nicht beanstandete. In der Bevölkerung gibt es aber deutliche Übereinstimmung, was gerecht und was ungerecht ist. Nach einer DIW-Studie finden nur 23 Prozent die hohen Managergehälter gerecht, 29 Prozent die niedrigen Hilfsarbeiterlöhne.

  • In Deutschland gibt es mehr Niedriglohn-Beschäftigte als in der gesamten EU. Zur Grafik
  • Vier Gruppen mit einem hohen Risiko, nur einen Niedriglohn zu bekommen. Zur Grafik
  • Gerade nach 1998 drifteten die Löhne auseinander. Zur Grafik
  • Vier Gruppen mit einem hohen Risiko, nur einen Niedriglohn zu bekommen. Zur Grafik
  • Die Pfändungsfreigrenze bestimmt ein Existenzminimum für Überschuldetet. Auch wer keine Schulden hat, sollte so viel Geld für seine Arbeit bekommen und behalten, sagt das WSI. Zur Grafik

Reinhard Bispinck, Claus Schäfer: Niedriglöhne und Mindestlöhne, in: Thorsten Schulten, Reinhard Bispinck, Claus Schäfer (Hrsg.): Mindestlöhne in Europa, VSA-Verlag, Hamburg 2006.

Rhein, Thomas; Gartner, Hermann; Krug, Gerhard  (2005): Niedriglohnsektor: Aufstiegschancen für Geringverdiener verschlechtert, in: IAB Kurzbericht 3/2005.

Stefan Liebig, Jürgen Schupp: Entlohnungsungerechtigkeit in Deutschland?, in: DIW-Wochenbericht  47/2004.

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