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HBS Böckler Impuls

Tarifsystem: Kleine Fortschritte bei Niedrigtarifen

Ausgabe 17/2011

Die Zahl der tariflichen Vergütungsgruppen im Niedriglohnbereich ist seit Frühjahr 2010 gesunken. Aktuell sehen 13 Prozent Stundenlöhne von weniger als 8,50 Euro vor.

Das Tarifsystem hat in den vergangenen Jahren die Lohnentwicklung in Deutschland stabilisiert. Das zeigen verschiedene Untersuchungen der Hans-Böckler-Stiftung. So lagen die tariflichen Löhne und Gehälter nach Daten des WSI-Tarifarchivs 2010 real um knapp sieben Prozent höher als im Jahr 2000. Deutlich schwächer entwickelten sich die Bruttoverdienste, also die Größe, bei der unter anderem auch die Löhne von Beschäftigten ohne Tarifvertrag erfasst werden: Sie sanken in diesem Zeitraum nach Abzug der Preissteigerung um vier Prozent. Allerdings zeigen die Analysen des Tarifarchivs auch Schwächen des Tarifsystems. Sie lassen sich nicht nur an der gesunkenen Tarifbindung ablesen. Ein weiterer Indikator ist für die Forscher die Zahl der tariflichen Vergütungsgruppen mit Einstiegslöhnen im Niedriglohnbereich.

Für ihre aktuelle Auswertung haben die Wissenschaftler mehr als 4.700 Vergütungsgruppen aus Tarifverträgen untersucht, die DGB-Gewerkschaften abgeschlossen haben. Dabei betrachten sie 41 Branchen und Wirtschaftsbereiche. Die große Mehrheit der Vergütungsgruppen, nämlich

87 Prozent, sieht Stundenlöhne von 8,50 Euro und mehr vor. Insgesamt 76 Prozent beginnen mit einem Stundensatz von mindestens 10 Euro. Letzteres gilt in großen Branchen wie der Metall- und der Chemieindustrie, der Entsorgungswirtschaft, dem Bank- und dem Bauhauptgewerbe für alle oder nahezu alle Tarifgruppen. Das Tarifsystem setzt so Untergrenzen deutlich oberhalb der Niedriglohnschwelle, die bei rund neun Euro liegt.

In 617 Vergütungsgruppen ist das jedoch anders. Das entspricht 13 Prozent aller untersuchten Gruppen. Bei sieben Prozent liegen die Einstiegslöhne unter 7,50 Euro, bei weiteren sechs Prozent sind es zwischen 7,50 Euro und 8,50 Euro pro Stunde. Zwar dürften manche der unteren Tarifgruppen nur für recht wenige, gering qualifizierte Mitarbeiter gelten. Aber in etwa einem Dutzend Wirtschaftszweige sind tarifliche Niedriglöhne relativ weit verbreitet, so das Tarifarchiv. Dazu zählen verschiedene Handwerks- und Dienstleistungsbranchen sowie die Landwirtschaft – Wirtschaftsbereiche, in denen es oft viele kleinere Unternehmen und relativ wenig organisierte Arbeitnehmer gibt. Immerhin: Zuletzt ist der Anteil der Tarifgruppen unter 8,50 Euro zurückgegangen. Bei der vorigen Auswertung im März 2010 lagen noch 16 Prozent unter dieser Lohnschwelle.

„Gewerkschafter stehen in schwierigen Branchen bei Tarifverhandlungen immer wieder vor der Alternative, niedrigen Tarifen zuzustimmen oder ganz auf eine tarifliche Regulierung der Arbeitsbedingungen zu verzichten“, sagt Reinhard Bispinck, der Leiter des Tarifarchivs. „Umso wichtiger ist es, dass durch neue Tarifabschlüsse in den letzten anderthalb Jahren eine Verbesserung der Tarifsituation erreicht werden konnte. Insbesondere in den ausgeprägten Niedriglohnbranchen Bewachungsgewerbe, Erwerbsgartenbau, Friseurhandwerk, Gebäudereinigerhandwerk und Hotel- und Gaststättengewerbe konnte die Zahl der Vergütungsgruppen unter 7,50 Euro gesenkt werden.“

Bispincks Analyse zeigt auch, dass sehr niedrige Tarifvergütungen besonders in Ostdeutschland ein Problem sind. So gelten Vergütungsgruppen unterhalb von 7,50 Euro mehrheitlich in ostdeutschen Tarifbereichen. Die Vergütungsgruppen zwischen 7,50 und 8,50 Euro sind hingegen überwiegend in westdeutschen Tarifbereichen anzutreffen. Zudem sind auch bei Mindestlohntarifverträgen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz einige Vergütungsgruppen unter 8,50 Euro angesiedelt.

Die Ergebnisse der Untersuchung sprechen nach Auffassung des Tarifexperten für die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro. „Er würde auch für viele Tarifbeschäftigte eine effektive Erhöhung ihrer Einkommen bedeuten“, so Bispinck.

  • 13 Prozent der Vergütungsgruppen aus aktuellen Tarifverträgen liegen unter 8,50 Euro Stundenlohn. Dieser Anteil ist in den vergangenen anderthalb Jahren gesunken. Zur Grafik
  • Niedrigtarife unter 7,50 Euro gibt es vor allem in Ostdeutschland. Vergütungsgruppen zwischen 7,50 und 8,50 sind dagegen häufiger im Westen anzutreffen. Zur Grafik

Reinhard Bispinck/WSI-Tarifarchiv: Tarifliche Vergütungsgruppen im Niedriglohnbereich 2011 (pdf) - Eine Untersuchung in 41 Wirtschaftszweigen, Elemente qualitativer Tarifpolitik 72, Düsseldorf, November 2011

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