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Magazin Mitbestimmung

Lohndumping: Berichte aus der Schattenwelt

Ausgabe 07/2015

Viele osteuropäische Wanderarbeiter sind in Deutschland einem Lohn- und Sozialdumping ausgesetzt, das man längst überwunden glaubte. Die DGB-Beratungsstellen der „Fairen Mobilität“ sind oft die einzigen Partner im Kampf um ihre Rechte. Von Carmen Molitor

Am 15. Mai 2015 nach Feierabend wurden die beiden Eisenflechter Petricá Suhaniea und Ionut Poamá-Neagrá obdachlos. Duschen, etwas essen und sich von einer anstrengenden Woche auf einer Baustelle im Europaviertel in Frankfurt am Main erholen – so hatten sich die beiden Wanderarbeiter aus Rumänen ihren Freitagabend vorgestellt. Doch als sie müde in ihre Unterkunft in Frankfurt-Griesheim zurückkehrten, eröffnete ihnen ihre Vermieterin, dass sie ihre Zimmer räumen müssen. Ihr Arbeitgeber hatte die Miete nicht mehr beglichen. Die Rumänen sollten das Wohnheim, in dem rund 1500 mobile Arbeiter aus Ost- und Südosteuropa leben, bis 20 Uhr verlassen.

Der 32-jährige Suhaniea und sein 27-jähriger Kollege Poamá-Neagrá erzählen, dass sie schon vorher Lohnabschläge nicht oder nur verspätet bekamen. Als nun ihre Unterkunft nicht mehr bezahlt wurde, schrillten bei ihnen alle Alarmglocken. Suhaniea war im September, Poamá-Neagrá schon vor gut einem Jahr auf Empfehlung von Verwandten und Freunden aus Rumänien nach Deutschland gekommen, um für die Kaczor Bauunternehmen GmbH mit Sitz in Offenbach zu arbeiten. Ein paar Monate gut zu verdienen und dann wieder nach Hause zurückzugehen, lautete ihr Plan. Suhaniea will im September seine Hochzeit groß feiern und braucht dafür Geld.

Die Baufirma Kaczor, bei der die beiden Männer Jobs fanden, wurde von einem serbischen Geschäftsführer geleitet und schien gut im Geschäft. Sie erledigte als Subunternehmerin Aufträge für namhafte Generalunternehmer wie Bilfinger oder Züblin, auch auf kommunalen Baustellen. Viele der rund 300 Beschäftigten, die für Kaczor in Hessen und Baden-Württemberg arbeiteten, stammten aus Rumänien, Kroatien, Polen und Ungarn. Erfahrene Bauarbeiter, die für wenig Geld viel arbeiten und wenig Fragen stellen. So wie die Eisenflechter Petricá Suhaniea und Ionut Poamá-Neagrá. Sie hatten wechselnde Verträge – Suhaniea bekam zuerst einen deutschen Arbeitsvertrag, ein paar Monate später wurde er als entsandter Mitarbeiter aus Rumänien geführt, dann hatte er wieder einen deutschen Vertrag. Was hinter den Winkelzügen steckte, erschloss sich den beiden Rumänen nicht. Wie die meisten ihrer Kollegen verstehen sie kein Deutsch und wissen kaum etwas über hiesige Arbeitnehmerrechte.

Die beiden Eisenflechter arbeiteten für Kaczor durchschnittlich zehn Stunden täglich auf einer Baustelle des Generalunternehmers d+b Bau in Frankfurt. Bis sie Mitte Mai unvermittelt aus ihrer Unterkunft geworfen wurden – ein Schicksal, das am gleichen Tag auch andere Kaczor-Beschäftigte teilten. Am Wochenende sprach sich unter den Rumänen, Kroaten und Polen herum, dass ihr Arbeitgeber nicht nur in Frankfurt, sondern auch auf Baustellen in Oberursel, Mainz-Gustavsburg, Heilbronn, Stuttgart-Esslingen und Lörrach teilweise seit März 2015 keine Löhne mehr ausgezahlt hatte. Gleich am Montag drauf fuhren rund 100 Beschäftigte zum Firmenhauptsitz nach Offenbach. Er wirkte verlassen, der Geschäftsführer war mit ihrem Geld abgetaucht.

Kein Job und keine Unterkunft, weder Geld für ein Hotel noch für die Rückfahrt nach Rumänien: Petricá Suhaniea und Ionut Poamá-Neagrá wussten nicht weiter. „Es war schrecklich. Der wichtigste Gedanke war, etwas Geld zu bekommen, um nach Rumänien zurückfahren zu können“, erinnert sich Suhaniea. „Hunger kann man einige Zeit aushalten. Aber wo sollten wir denn nur schlafen?“ Die Zimmerwirtin gewährte ihnen eine Nacht Gnadenfrist in ihrer bisherigen Unterkunft, dann standen sie auf der Straße.

SYSTEMATISCHER LOHNBETRUG

Fälle wie der von Kaczor werfen ein Schlaglicht auf eine Schattenwelt des deutschen Arbeitsmarkts. Dort stehen selbst die grundlegendsten sozialen Errungenschaften nur noch auf dem Papier, gelten aber in der Praxis nicht mehr. Arbeitgeber diktieren willkürlich die Wochenarbeitszeit, umgehen trickreich Mindestlöhne und Arbeitsschutzvorgaben, verändern abgeschlossene Verträge nach Belieben, kürzen systematisch Löhne oder unterschlagen sie, zahlen keine Lohnfortzahlungen bei Krankheit oder Urlaub und gewähren keinen Kündigungsschutz. Wer krank wird, fliegt raus. Wer gegen unzumutbare Bedingungen aufmuckt, muss gehen oder wird bedroht. Vor allem mobile Beschäftigte aus Ost- und Südeuropa, die sich nur für kurze Zeiträume in Deutschland aufhalten, erleben diese De-facto-Rechtlosigkeit täglich. Dabei ist es unerheblich, ob sie über eine Entsendung durch Firmen aus dem Heimatland, durch grenzüberschreitende Leiharbeit, als Scheinselbstständige oder als Werkvertragsbeschäftigte von Subunternehmern arbeiten.

Baustellen mit ihren undurchschaubaren Verflechtungen von Generalunternehmen, Subunternehmen und Subsubunternehmen bieten besonders guten Nährboden für die Ausbeutung von europäischen Billigarbeitskräften. Zwar gelten in der Baubranche schon seit Jahren tarifliche Mindestlöhne. Aber das nutzt nur dem etwas, der seinen Lohn überhaupt verlässlich erhält. Doch ein Teil der Subunternehmen und Werkvertragsnehmer zahlt beispielsweise systematisch den letzten Lohn nicht aus, der Beschäftigten bei einer zeitlich befristeten Entsendung zusteht. Man verlässt sich dreist darauf, dass ein Großteil der Beschäftigten diese Ansprüche nicht einklagt, weil ihnen die Sprachkenntnis, das Wissen, die Zeit und das Geld fehlen, um ein langwieriges Verfahren vor einem deutschen Arbeitsgericht durchzustehen.

Systematischer Lohnbetrug auf dem Bau klappt besonders gut, wenn Arbeiter entsendet werden, die ohne jegliche Ersparnisse einreisen und zum Überleben dringend Bargeld brauchen. Ihr Chef zahlt ihnen einige Hundert Euro Vorschuss, mit dem sie sich über Wasser halten können. Er behält aber immer wieder den vereinbarten Monatslohn ein und vertröstet die Belegschaft damit, dass er noch kein Geld vom Generalunternehmer erhalten habe. Damit die Arbeiter bei der Stange bleiben, zahlt er ihnen ab und zu geringe Abschläge. Irgendwann ist er nicht mehr zu erreichen, taucht unter. Dramatisch wird es, wenn er auch die Unterkunft der Beschäftigten angemietet hatte. Die Arbeiter werden sofort nicht nur arbeits- sondern auch obdachlos. So wie ein Teil der 300 geprellten Beschäftigten des Baunternehmens Kaczor. 

DIE BERATER UND IHR SCHÄRFSTES SCHWERT

Doch anders als die meisten Betroffenen forderten sie lautstark und öffentlichkeitswirksam ihren Lohn ein und suchten sich einen Partner. Sie fanden ihn bei der „Fairen Mobilität“ in Stuttgart und Frankfurt, zwei von insgesamt sechs Beratungsstellen für mobile ost- und mitteleuropäische Beschäftigte. Im Rahmen eines Modellprojekts hatte der DGB-Bundesvorstand sie 2011 mit Projektpartnern gegründet, Mitte 2016 läuft die Finanzierung aus. Die Faire-Mobilität-Beraterinnen und -Berater haben zum großen Teil selbst polnische, rumänische, ungarische, kroatische oder mazedonischen Wurzeln. Die Kombination aus arbeitsrechtlichem Fachwissen und der Kenntnis von Sprache und Kultur der Ratsuchenden gibt es anderswo kaum. Die Beratungsstellen können sich vor Anfragen kaum retten. Sehr häufig geht es um nicht ausgezahlte Löhne.

Auf der Kaczor-Baustelle in Stuttgart-Esslingen avancierte der Generalunternehmer Züblin zum Sparringspartner für die „Faire Mobilität“. 26 Kroaten, Polen, Ungarn und Rumänen waren dort um den Lohn betrogen und obdachlos geworden. „Dort sprachen wir zuerst den Züblin-Betriebsrat an“, berichtet Beraterin Katarina Frankovic. Denn eine gesetzliche Regelung gibt es, durch die Beschäftigte bei Subunternehmen eine reelle Chance auf die Auszahlung ihres unterschlagenen Nettolohnes haben: die Generalunternehmerhaftung. Laut § 14 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes haftet der Auftraggeber dafür, dass Beschäftigte in von ihm beauftragten Werkvertrags- oder Subunternehmen ihr Geld erhalten. So hatte der Bau-Multi zwar schnell signalisiert, dass er grundsätzlich zahlen werde, doch die Abwicklung gestaltete sich zäh. Die Esslinger Kaczor-Beschäftigten gingen gemeinsam mit Frankovic – und begleitet von der lokalen Presse – zum Arbeitsgericht, um ihre Ansprüche anzumelden. Züblin war nicht amüsiert. 

Eine mediale Berichterstattung zu initiieren ist in vielen Fällen das schärfste Schwert, das die „Faire Mobilität“ hat. „Dass man vor das Arbeitsgericht zieht, verkraften die großen Firmen locker“, sagt Katarina Frankovic. „Aber nicht, wenn sie mit den Fällen in die Öffentlichkeit kommen.“ Der Druck lohnte sich: Züblin stellte den betroffenen Arbeitern kurzfristig Unterkunft und Verpflegung und zahlte später auch einen Teil des ausstehenden Nettolohns. 

ÖFFENTLICHKEITSWIRKSAME PROTESTE

Besonders öffentlichkeitswirksam gerieten die Kaczor-Proteste auf der Baustelle im Frankfurter Europaviertel, wo die Eisenflechter Petricá Suhaniea und Ionut Poamá-Neagrá gearbeitet hatten. Hier demonstrierten Arbeiter aller fünf Baustellen zusammen und forderten von unterschiedlichen Generalunternehmern ihre Löhne ein. Vor dem Bautor trafen sie auch Letitia Matarea-Türk, Beraterin der „Fairen Mobilität“ in Frankfurt mit rumänischen Wurzeln, die sie zuvor schon mit Anfragen bombardiert hatten. In enger Zusammenarbeit mit der IG BAU kümmerte sich Matarea-Türk um insgesamt 60 Kaczor-Beschäftigte auf den Baustellen in Frankfurt, Mainz, Heilbronn und Oberursel. 

„Es geht zuerst immer darum, die genauen Daten über die Ansprüche so schnell wie möglich zu erfassen“, erklärt die studierte Politikwissenschaftlerin ihre Vorgehensweise. „Sonst sind die Betroffenen verschwunden. Wir müssen uns bemühen, die Gruppe zusammenzuhalten, weil man sonst keinen Druck gegenüber dem Generalunternehmer aufbauen kann.“ Kontaktadressen werden notiert, eine penible Liste der Ansprüche und geleisteten Arbeitsstunden für jeden Einzelnen erstellt. Die von ihr betreuten Kaczor-Arbeiter traten alle in die IG BAU ein, die sich für die Durchsetzung der Lohnforderungen starkmachte. 14 ehemals Beschäftigte brachte man einige Tage in Notunterkünften der Stadt Frankfurt und später in einer Bildungsstätte der IG BAU unter.

Auch hier war der entscheidende Trumpf das große öffentliche Interesse für die Proteste. „Wir haben vom ersten Tag an Zeitungen und lokales Fernsehen hinzugezogen“, berichtet Matarea-Türk. „Diese Strategie hat funktioniert: Wir haben innerhalb von zwei Wochen das Geld von allen Generalunternehmern bekommen.“ Faber Schnepp zahlte für die Bauarbeiter aus Oberursel den vollen geforderten Betrag, Bilfinger übernahm Mainz, d+b Bau in Frankfurt und Dreßler in Heilbronn beglichen gut zwei Drittel. „Es war ein glücklicher Fall!“, sagt die Beraterin.

Petricá Suhaniea und Ionut Poamá-Neagrá arbeiten weiterhin in Deutschland, sie pendeln jetzt jeden Tag 150 Kilometer zu einer Baustelle nach Bad Kissingen und zurück. Die Firma sitzt in Offenbach, ein Serbe ist Geschäftsführer. „Wir sind froh, dass wir überhaupt einen Job haben“, sagt Suhaniea schulterzuckend. „In Rumänien ist es noch schwerer.“ Sie wollten einfach ein besseres Leben, ergänzt Poamá-Neagrá: „Vielleicht ändert sich das System einmal, und wir bekommen mehr Sicherheiten, normale Arbeitsverträge und Lohnabrechnungen, auf denen alle geleisteten Stunden stehen.“ Er lächelt. Und ahnt wohl, dass es wahrscheinlicher ist, dass sie bald der nächste Chef übers Ohr haut.

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