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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Absurde Relationen"

Ausgabe 05/2012

Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann erläutert Fehlentwicklungen bei der Einkommensverteilung und schlägt Fairness als Orientierungsmaß bei der Lohnfindung vor: "Gute Unternehmensführung setzt die Enthronung des Gewinns voraus."

Herr Thielemann, das höchste CEO-Gehalt im DAX liegt derzeit bei rund 17 Millionen Euro. Gleichzeitig haben wir Tarifverträge, die Jahresgehälter von weniger als 10.000 Euro vorsehen. Ist das noch Soziale Marktwirtschaft?
Bei den Einkommen haben wir uns extrem weit von der Idee der Sozialen Marktwirtschaft, der fairen Teilhabe aller, entfernt. Solche Relationen sind absurd. In den USA ist die Situation noch viel dramatischer. Dort verdienen die Manager der Top-40-Hedgefonds im Durchschnitt pro Jahr 300 Millionen Dollar. Das ist gar nicht mehr vorstellbar. Auch in Deutschland werden die Individualeinkommen nicht wirklich beleuchtet. Dieser Abschied von der Sozialen Marktwirtschaft hat seine Wurzel in simplizistischer Marktgläubigkeit.

Meinen Sie die Extreme oder das gesamte Lohngefüge, wenn Sie von absurden Relationen sprechen?
Es geht mir um mehr als nur das Lohngefüge. Eigentlich sollten wir darüber sprechen, wie sehr die Kapitaleinkommen gegenüber den Arbeitseinkommen gewachsen sind. Absurde Verschiebungen hat es vor allem in Deutschland und in den USA gegeben. Die Managervergütungen sind nur ein kleiner Baustein des Gesamtbildes. Dabei sind sie eher den Kapital- als den Arbeitseinkommen zuzurechnen. Man sollte nicht immer so tun, jede Vergütung sei Ausdruck von Wertschöpfung. Irgendwann ist es angemessener, von Abschöpfung zu sprechen.

Skizzieren Sie doch mal das Gesamtbild, von dem Sie sprechen.
Die Nicht-Regierungs-Organisation Faireconomy hat für die USA die Einkommen nach Einkommensquintilen untersucht. Zwischen 1949 und 1979 wuchsen alle Einkommen ungefähr im gleichen Tempo. Seitdem bekommt die obere Gruppe fast alles. Nach Einschätzung des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz verdient ein normaler US-Arbeitnehmer heute weniger als 1969, während die Einkommen der reichsten ein Prozent steil nach oben geschossen sind. Das ist schlicht nicht leistungsgerecht. Diese Entwicklung haben wir auch in Deutschland, wenn auch nicht in ganz so grotesken Ausmaßen.

In den USA wird das Auseinanderdriften der Einkommen in der ökonomischen Forschung intensiv thematisiert, in Deutschland kaum. Warum?
Offensichtlich will niemand eine Neid-Diskussion vom Zaun brechen. Dabei dient das Neid-Argument nur dazu, von der Verteilungsfrage abzulenken. Doch die Frage der Gerechtigkeit der Einkommensrelationen ist selbstverständlich legitim und höchst bedeutungsvoll. Es geht ja nicht bloß um Solidarität mit Unbeteiligten, sondern um die Fairness zwischen denjenigen, die zur Wertschöpfung beitragen. Fairness ist der Gegengedanke zum reinen Marktprinzip. Für die Marktradikalen zählt nur der Erfolg – egal ob er sich der Wertschöpfung oder der Abschöpfung verdankt.

Viele Bosse würden gern den individuellen Anteil am Gewinn ermitteln und die Vergütungen und Löhne entsprechend ausgestalten.
Abgesehen von den Schwierigkeiten der Messung – diese Sicht setzt voraus, dass ein Unternehmen allein und radikal auf höchstmögliche Gewinne und sonst gar nichts zugeschnitten sein dürfte. Pardon, aber Gewinnmaximierung ist unter gar keinen Umständen rechtfertigungsfähig. Natürlich müssen Unternehmen Überschüsse erzielen. Aber Gewinnerzielung ist von Gewinnmaximierung scharf zu trennen.

Was zeichnet eine faire Lohnfindung aus?
Es sollte vor allem um Anforderungen, Belastungen, Qualifikationen und um den Leistungseinsatz gehen. Dazu zählt durchaus auch das Bemühen. Wenn ich bestimmen könnte, was faire Löhne sind, könnten Philosophen Könige sein. Dann bräuchten wir auch keine Tarifverhandlungen mehr. Die Abwägung, was wir als einen fairen Lohn ansehen, ist unter anderem Aufgabe der Verhandlungspartner vor Ort – und nicht die Aufgabe des Ethikers. Seine Aufgabe ist es, zu klären, um welchen Typus von Frage es sich handelt und welche Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Es darf keiner Seite darum gehen, das Letzte herauszuholen.

Warum ist das so wichtig?
Keiner von uns arbeitet allein, jeder ist von Vorleistungen und Kooperationen abhängig. Und jeder arbeitet zugleich gegen andere. Letzteres bedeutet, dass jede individuell erfolgreiche Strategie, jede Innovation den Wettbewerbsdruck auf andere erhöht. Das gilt für das Dumping genauso wie für Top-Gehälter. Innovation bedeutet, um Schumpeter zu zitieren, schöpferische Zerstörung. Zerstört wird der Einkommensstrom anderer.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Der Wettbewerb sollte nicht unbeschränkt ablaufen. Sonst werden wir zu Sklaven des Wettbewerbs. Innovationen sind nicht einfach gut. Sie machen mich reich – und andere ärmer. Der Wettbewerbsdruck wird erhöht. Das treibt das Wachstum voran. Doch auch der Stress steigt. Dient das Ganze noch dem guten Leben? Solche Fragen müssen erlaubt sein. Es geht nicht um ein Ja oder Nein, sondern darum, wie viel Wettbewerb wir zulassen. Das ist vor allem eine politische, eine weltinnenpolitische Frage, aber auch eine unternehmenspolitische. Es gibt Unternehmen, die sehr konservativ agieren. Sie bieten jahrzehntelang das gleiche, gute Produkt an und sind dennoch sehr erfolgreich.

Deutlich mehr Unternehmen dürften mit einer konservativen innovationskritischen Unternehmensphilosophie Schiffbruch erlitten haben.
Natürlich gibt es das. Aber sie sind baden gegangen, weil andere den Wettbewerb verschärft haben. Ist dies einfach gut? Worauf zielt eigentlich Ihre Frage? Dass wir die stetig steigende Wettbewerbsintensität überhaupt nicht mehr infrage stellen dürfen? Heute dreht sich doch alles, individuell wie politisch, um die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir nehmen dies demütig hin, oder wir fassen eine Beschränkung des Wettbewerbs ins Auge.

Wie soll Ihr Vorschlag in einer globalisierten Wirtschaft funktionieren, wo die Anteileigner in San Francisco oder in Shanghai eine andere Vorstellung zur Wertschöpfung haben als Sie jetzt entwickeln?
Weil alles andere alternativlos ist, soll die Wertschöpfung nach dem Shareholder-Value-Modell ablaufen, sodass das Maximale für die Aktionäre dabei herausspringt? Das Unternehmen ist dann ein austauschbares Instrument der unstillbaren Renditewünsche derjenigen, die man Prinzipale nennt.

Sie sagen, der ungebremste globale Wettbewerb in der Realwirtschaft sei destruktiv?
Er ist das eigentliche Problem hinter der Finanzmarktkrise. Man hat das Kapital hofiert, ihm erlaubt, Standorte grenzenlos gegeneinander auszuspielen. Die Folge ist: Dem Kapital fließen gigantische Wertschöpfungsanteile zu. Die USA sind mittlerweile industriell entkernt. Sollen wir so weitermachen? Die Märkte beliebig offenhalten, auch fürs Kapital, oder eben nicht?

Die Alternativen sind Kapitalverkehrskontrollen, Schutzzölle und Protektionismus.
Selbst unverdächtige Kreise reden mittlerweile wieder über Kapitalverkehrskontrollen. Ist es nicht eigenartig, dass diese in den Wirtschaftswunderjahren gang und gäbe waren? Ebenso ein austariertes Zollsystem. Zölle setzen Hürden für den ungebremsten Wettbewerb. Man kann sich auch andere wettbewerbsbeschränkende Regulierungen vorstellen. Etwa eine Beschränkung der variablen Vergütung von Managern. Der Trend zur variablen Vergütung führt dazu, dass auch andere Unternehmen, die diesen Weg nicht gehen wollen, ihn gehen müssen. Dies ist fatal für die gute Unternehmensführung.

Man muss Maß halten und Extreme meiden – auch, wenn andere nicht mitmachen?
Dies ist der gemeinsame Nenner einer gut funktionierenden, einer menschlichen Marktwirtschaft: die Einbettung der Marktverhältnisse in Gesichtspunkte des guten Lebens und des fairen Zusammenlebens. Daraus erwächst im demokratischen Prozess die Herausforderung, zu einer Regulierung zu finden, die sicherstellt, dass der Verantwortungsbewusste nicht das Nachsehen hat. Gute Regulierung soll nicht verantwortungsbewusstes Handeln erübrigen, das wäre Überregulierung. Sie soll es nur zumutbar machen.

Was macht gute Unternehmensführung aus?
Gute Unternehmensführung muss einen fairen Ausgleich zwischen den verschiedensten Ansprüchen finden, die mit dem Unternehmen zusammenhängen. Da haben die Kapitaleinkommen durchaus ein Recht, aber auch nicht mehr. Gute Unternehmensführung setzt die Entthronung des Gewinns voraus. Wenn das in die Köpfe kommt und wir aufhören, in den Ausbildungssystemen genau das Gegenteil zu vermitteln, dann haben wir einen ganz anderen Geist im Unternehmen. Die Sozialunternehmen verfahren ja schon längst in diesem Sinne.

Sehen Sie in den Sozialunternehmen Vorbilder für die Wirtschaft insgesamt?
Ja. Dort steht nicht mehr Gewinnmaximierung im Vordergrund, sondern substanzielle Ziele treten an ihre Stelle. Das ist großartig. Bei der Alternativen Bank Schweiz (ABS) ist dieses Ziel, soziale und ökologische Projekte zu fördern. Natürlich ist das aufgrund des Wettbewerbs extrem schwierig, weil größere Konkurrenten billiger sein können. Dennoch herrscht dort ein guter Geist, und der notwendige Anfang ist gemacht. Nur so lässt sich Unternehmensführung rechtfertigen.
 
Sie haben für die ABS, ein Sozialunternehmen mit etwa 80 Mitarbeitern, Lohnempfehlungen entwickelt. Nach welchen Prinzipien?
Die ABS bringt die Idee der Gemeinsamkeit ihres Erfolgs dadurch zum Ausdruck, dass sie in den Statuten das Verhältnis zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Lohn bei maximal 1:5 festgelegt hat. Tatsächlich lag es bei 1:3,4, als ich 2008 den Auftrag annahm. Das Management fand das etwas zu egalitär und wollte verstärkt Momente eines Pay-for-Performance einführen. Dies habe ich zurückgewiesen.

Bei der ABS moderate Differenzierungen beim Basislohn und sogar finanzielle Belohnungen für besonderen Einsatz. Haben Sie die Löhne bei der ABS ungleicher gemacht?
Man muss Erfolg und die Erfüllung von Vorgaben strikt von Leistung und Leistungseinsatz trennen. Das Erste läuft auf eine Anreizsteuerung hinaus, das Zweite lässt gelegentliche Belohnungen durchaus zu. Vorrang bei all dem muss der Grundgedanke der Fairness haben: Wer mitgewirkt hat, verdient eine angemessene Vergütung für seinen Leistungseinsatz. Allzu großen Ausschlägen sind damit Grenzen gesetzt. Eine Unternehmensführung, die ihre Mitarbeiter zu pawlowschen Hunden degradiert, die durch Anreize dazu gebracht werden müssen, bestimmten Vorgaben zu genügen, gerät mit dem Moralprinzip unmittelbar in Konflikt.

Offensichtlich wird es mit allzu egalitären Ansätzen schwer, hoch qualifizierte Fachkräfte zu finden.
Auch bei der ABS gab es Stimmen, die sagten, dass wir mit einem Lohngefüge von 1:5 nicht genug gute Leute finden. Ich habe dann immer gefragt: Wer sind die guten Leute? Die, die den höchsten Shareholder-Value ermöglichen? So zu denken wäre das Ende der ABS als Sozialunternehmen. Die Wettbewerbssituation ist kein einfaches Problem. Grundsätzlich wird es durch Regulierung entschärft.

Seit der letzten Finanzmarktkrise sind Debatten um Verteilungsgerechtigkeit en vogue. Hat sie wirklich etwas verändert?
Diese Debatten sind gewiss keine Mode, sie behandeln ein ernsthaftes Problem. Das Bild ist ambivalent. Die Wirtschaftswissenschaften stecken in einer Krise. Die Bürger begehren auf. Alles andere ist beim Alten geblieben. Das Kapital wird weiterhin hofiert, nur anders. Durch Bürgschaften und die EZB. Und durch eine neoliberale Agenda, die nun, wie zuvor in Deutschland, in ganz Europa Rosskuren durchführen will, wie es der Ökonom Hans-Werner Sinn formulierte. Wohin soll dies führen? In die Plutonomie, in der die Wohlhabenden, gespeist aus Kapitaleinkommen, immer größere Anteile der Wertschöpfung für sich abzweigen? Joseph Stiglitz sagt: Wer vor der Krise marktgläubig war, ist es nach der Krise immer noch. Genau so ist es. Die Marktgläubigkeit ist noch voll in den Köpfen. Wir brauchen eine Revolution der ökonomischen Denkungsart. Weg von der Markthuldigung, hin zur Marktmoderierung.

Auf der Website Ihrer Denkfabrik für Wirtschaftsethik findet man das Memorandum „Für eine Erneuerung der Ökonomie“, das überwiegend linke Ökonomen unterzeichnet haben.
Finden Sie? Ich finde dort vor allem Soziologen, Politikwissenschaftler, Theologen, einige heterodoxe Ökonomen. In der offenen Unterzeichnerliste finde ich viele Leute in Leitungsfunktionen – die offenbar der Ökonomisierung ihrer Organisation überdrüssig sind. Oder Meinhard Miegel. Ein Linker? Mit dem Links-rechts-Schema kann ich nicht so viel anfangen. Aber wenn rechts gleich marktgläubig ist, dann bin ich gerne links.

Das Gespräch führten Guntram Doelfs und Kay Meiners / Foto: Michael Hughes

Zur Person

Ulrich Thielemann, Jahrgang 1961, ist Direktor der Denkfabrik für Wirtschaftsethik MeM (Menschliche Marktwirtschaft) in Berlin und stellvertretender Vorsitzender des Beirates des Ökosozialen Forums Deutschland. Von 2001 bis 2010 war er Vizedirektor des Instituts für Wirtschafts­ethik der Universität St. Gallen. In seinen Vorträgen und Schriften wirbt er dafür, ethische Maximen zur Grundlage des Wirtschaftens zu machen. Seine Kritik am „mangelnden Unrechtsbewusstsein“ in der Schweiz für die Funktion des Landes als Steueroase führte dort 2009 zu einem öffentlichen Eklat. Im gleichen Jahr erschien seine Habilitationsschrift „Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept. Kritik des Neoliberalismus“.

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