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Magazin Mitbestimmung

: Schlecker der Gesundheitsbranche

Ausgabe 01+02/2011

BRANCHENREPORT Leiharbeit in den Kliniken trifft vor allem die Mitarbeiter mit einfachen Tätigkeiten. Vielfach dient sie dazu, überhaupt den Betrieb aufrechtzuerhalten. Von Guntram Doelfs

Guntram Doelfs ist Journalist in Berlin./Foto: Kirsten Neumann/ddp

Noch vor fünf Jahren war Leiharbeit im deutschen Gesundheitswesen nahezu unbekannt, Billigarbeit am Krankenbett allenfalls ein Exotenproblem. Inzwischen hat sich die Lage in den deutschen Krankenhäusern gründlich geändert. Immer mehr Beschäftigte finden sich als Leiharbeiter in klinikeigenen "Servicegesellschaften" wieder. Wie beunruhigend der Trend zur Leiharbeit ist, zeigt eine Betriebsrätebefragung des ver.di-Landesverbandes Bayern an bayerischen Krankenhäusern. Danach verfügen 60 Prozent der antwortenden Kliniken bereits über Tochtergesellschaften. Von diesen betreiben wiederum 40 Prozent eine Gesellschaft mit Arbeitnehmerüberlassung, beschäftigen also Leiharbeiter. Binnen fünf Jahren wuchs der Anteil der Beschäftigten in solchen Klinik-Tochtergesellschaften in Bayern von drei (2005) auf 11,3 Prozent.

"Das Sparmodell der Leiharbeit greift intensiv um sich und nimmt an Brisanz zu", warnt Dirk Völpel-Haus, der im ver.di-Bundesvorstand den Fachbereich Gesundheits- und Sozialwesen leitet. Auch die Autoren der bayerischen ver.di-Studie ziehen ein bitteres Fazit. "Es geht nur um eines: ‚Teure‘ Beschäftigte der Kliniken gegen ‚billigere‘ Beschäftigte auszutauschen, den Krankenhaustarifvertrag zu umgehen und Lohnkosten abzusenken."

Eine wesentliche Ursache für den Einsatz von Leiharbeitern an deutschen Kliniken liegt laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung im rasant gestiegenen Kostendruck und dem dadurch mitverursachten rapiden Stellenabbau. So habe der Wechsel von tagesgleichen Pflegesätzen "zum System der Fallpauschalen den Zwang zur betriebswirtschaftlichen Effizienz in den Krankenhäusern nachhaltig erhöht", heißt es dort. (Infos zur Studie hier zum Download)

Die überwiegende Anzahl der Personalservicegesellschaften (PSG) sind 100-prozentige Töchter der Kliniken. Daneben holen sich einige wenige Klinikbetreiber bei der Gründung einer PSG auch gleich Zeitarbeitsfirmen mit ins Boot. Ein prominentes Beispiel dafür ist Vivantes, der größte kommunale Klinikbetreiber in Deutschland.

Schlimmer sieht es bei einigen privaten Trägern aus. Schwarzes Schaf der Branche ist nach Auffassung von ver.di der Klinikkonzern Asklepios, dem die Gewerkschaft bereits das wenig schmeichelhafte Label "Schlecker der Gesundheitsbranche" verpasste. "Bei Asklepios wird Leiharbeit inzwischen massiv zur Tarifflucht und zum Tarifdumping benutzt. Das Unternehmen ist neben der Rhön Klinikum AG der einzige Konzern, mit dem wir keine konzerntarifvertraglichen Regelungen haben", so Völpel-Haus. Außer bei den Ärzten versuche der Konzern mittlerweile "auf Gedeih und Verderb, Leute nur noch über Leiharbeitsfirmen einzustellen". Asklepios hat diese Vorwürfe immer zurückgewiesen, wollte sich aber auf Anfrage nicht zum Thema Leiharbeit äußern.

Dass es an öffentlichen Krankenhäusern ähnlich laufen kann, zeigte das Beispiel des Universitätsklinikums Essen. Über Jahre bekamen im Klinikum nur noch Ärzte und Krankenschwestern eine Festanstellung. Neue Mitarbeiter im nichtmedizinischen Bereich wurden dagegen in der hauseigenen Personalservicegesellschaft beschäftigt, wohin auch Stammbeschäftigte abgeschoben wurden. In der PSG galt der Tarif des Interessenverbandes der Deutschen Zeitarbeitsbranche (IGZ), der erheblich unter dem an öffentlichen Kliniken üblichen Tarif des öffentlichen Dienstes liegt.

Was das konkret in Zahlen bedeutet hat, rechnet Alexandra Willer vor, Personalratsvorsitzende am Uniklinikum in Essen. "Die rund 300 Beschäftigten der Personalservicegesellschaft bekamen weder eine betriebliche Altersversorgung noch eine Jahressonderzahlung und haben sechs Tage weniger Urlaub. Bei einer ledigen Verwaltungsangestellten mittleren Alters macht das zwischen 300 bis 400 Euro netto im Monat aus." Die Vorgänge am Uniklinikum Essen gerieten durch den heftigen Widerstand des Personalrates und von ver.di in die Öffentlichkeit und beschäftigten im vergangenen Jahr sogar den Bundestag.

Gleichwohl ist Leiharbeit in deutschen Krankenhäusern nicht für alle Beschäftigten ein Thema. Es trifft jene, die sowieso schon wenig(er) verdienen. Leiharbeit nimmt stark zu in den nichtmedizinischen Bereichen wie Reinigung, Küche oder bei der Sterilisation von OP-Besteck und Hilfstätigkeiten auf den Stationen. Dagegen "finden sich in den Servicegesellschaften bislang nur in Ausnahmefällen examinierte Pflegekräfte oder Ärzte", heißt es in der ver.di-Studie. Die Beobachtung deckt sich mit der Einschätzung vieler Branchenexperten. Kurz: Je geringer die Qualifikation, desto ausgeprägter ist der Trend zur Leiharbeit.

Porträt des Leihdoktors Markus Nitschke (pdf zum Download)

Gleichzeitig kehrt sich die Situation bei der Leiharbeit nahezu vollständig um, je höher die medizinische Qualifikation der Beschäftigten ist. Auch hier liegen die Gründe im irrsinnigen Spardruck an den deutschen Kliniken. So sind "in den vergangenen acht Jahren rund 50 000 Vollzeitpflegestellen in den Krankenhäusern entfallen. Teilweise sind 15 Prozent der Stellen unbesetzt", schildert Michael Isfort, stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Institutes für Pflegeforschung (dip). Er ist Autor des "Pflege-Thermometers", der größten Befragung von Pflegekräften zur Situation der Pflege in den Krankenhäusern.

Weil gleichzeitig die Zahl der Patienten konstant geblieben ist, kümmert sich laut der Böckler-Studie heute eine Vollzeit-Pflegekraft um ein Viertel mehr Patienten als vor acht Jahren. Pflegekräfte in den Krankenhäusern leiden unter einer immensen Arbeitsverdichtung. Die Folge: Jobfluktuation und eine Flucht in die Teilzeitarbeit. Daraus wiederum erwächst ein Fachkräftemangel mit teilweise dramatischen Zügen. In der Pflege werden qualifizierte Leiharbeitskräfte nicht mehr nur dazu eingesetzt, kurzfristige Arbeitsspitzen oder Krankheitsausfälle zu überbrücken. Zeitarbeiter werden inzwischen auch dazu eingesetzt, "den wachsenden Überstundenberg der Stammbelegschaften abzubauen oder um in einigen Fälle den Betrieb überhaupt noch aufrechterhalten zu können", schildert Isfort. Ein Beispiel dafür sei die Intensivmedizin, das Nadelöhr der Kliniken. "Weil es hier an ausgebildetem Pflegepersonal fehlt, mussten Kliniken sogar schon Operationen absagen."

Bei hoch spezialisierten Fachpflegern im Intensiv- oder Anästhesiebereich ist die Nachfrage inzwischen so hoch, dass wie bei Fußballspielern Ablösesummen geboten werden, um Fachkräfte abzuwerben. Matthias Molchin (Name geändert) gehört zu jener noch kleinen Gruppe von spezialisierten Pflegefachkräften. Der 55-jährige gebürtige Stuttgarter arbeitet seit 2008 als Leiharbeiter. Als Spezialist mit Zusatzqualifikationen in der Intensivmedizin und als Rettungsassistent heuert er für mehrere Monate bei einer Klinik an und zieht dann weiter. Molchin nutzt die Leiharbeit zum eigenen Vorteil. 2200 Euro netto verdiene er, sagt er, dazu kämen Zulagen. Zudem habe der letzte Arbeitgeber die Miete übernommen. "Man kann viel herausholen, wenn man entsprechend qualifiziert ist", sagt er.

Nur sind solche "spezialisierten Arbeitsnomaden", wie ver.di-Experte Dirk Völpel-Haus sie nennt, weder repräsentativ für Leiharbeit im Gesundheitssektor noch ist ihre Zahl groß. Wie weit verbreitet der Einsatz von Fachpflegekräften (im Fachjargon "Examinierte") als Leihbeschäftigte in den Kliniken tatsächlich ist, ist mangels belastbarer Zahlen schwer abzuschätzen. Aber der Trend ist klar: Laut Böckler-Studie hat sich seit 2005 die Zahl der Leiharbeiter in der Pflege verfünffacht.

Es scheint jedoch, dass die Zeiten, da sich Kliniken - ohne dass jemand aufmuckt - auf Kosten ihrer Mitarbeiter sanieren, vielfach vorbei sind. Denn der Widerstand von Betriebsräten und Gewerkschaften erzielt - medial unterstützt - Wirkung. So scheiterte der Schweizer Klinikkonzern Ameos nach Angaben von ver.di beim Versuch, eine weitere kommunale Klinik in Deutschland aufzukaufen, nachdem die Leiharbeitspraktiken des Konzerns öffentlich wurden.

Auch das Uniklinikum Essen hat auf den öffentlichen Druck reagiert. Im November verkündete Eckhard Nagel, der neue Ärztliche Direktor, dass es die "Beschäftigung von Mitarbeitern im Sinne der Arbeiternehmerüberlassung an unserer Klinik so nicht mehr geben wird". Nagels sozialethische Begründung lässt aufhorchen: Das Universitätsklinikum Essen habe einen klaren gesellschaftlichen Auftrag, der darin bestehe, Menschen, die krank sind, "ohne Ansicht der Person in sozialer Verantwortung zu behandeln", sagte Direktor Nagel. Und fügte hinzu: "Und das muss sich natürlich auch widerspiegeln im Hinblick auf die Mitarbeiter."


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BROSCHÜREN UND LEIHARBEITSSTUDIEN (pdf zum Download)

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