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Magazin Mitbestimmung

: Verschwindet das Arbeitsrecht?

Ausgabe 01+02/2011

LIBERALISIERUNG Unternehmensjuristen und Anwälte dominieren mit einer privatrechtlichen Sichtweise zunehmend das Arbeitsrecht. Von Britta Rehder

Britta Rehder ist Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.

In den vergangenen Jahren wurde viel über die Liberalisierung des Arbeitsrechts diskutiert: über die Schwächung des Flächentarifvertrags, über die Auswanderung von Betrieben aus den Arbeitgeberverbänden, über politische Angriffe auf die Sozialpartnerschaft oder über die Infragestellung kollektiver Arbeitsbeziehungen durch den Europäischen Gerichtshof. Dabei blieb eine andere Facette des Liberalisierungsprozesses weitgehend unbeachtet - nämlich das tendenzielle Zurückdrängen des kollektiven Arbeitsrechts als eigenständiges Rechtsgebiet. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die professionellen Interessen der Vollblutjuristen, sondern sie ist auch für Betriebsräte und Gewerkschaften politisch hochrelevant.

Wie kann ein Rechtsgebiet schrittweise verschwinden? Indem seine zentralen Annahmen einfach umgedeutet werden. Man kann das Arbeitsrecht privatrechtlich als Vertragsrecht behandeln. Der Arbeitsvertrag ist dann nicht anders zu betrachten als jeder andere Vertrag, dessen zentrale Rechtsnorm die individuelle Vertragsfreiheit ist. Ein solches Verständnis hat die Subdisziplin der Arbeitsrechtswissenschaft immer abgelehnt. Diese Position ist untrennbar mit dem Namen des Juristen Hugo Sinzheimer verbunden. Sinzheimer war Sozialdemokrat und stark beeinflusst vom marxistischen Denken. Für ihn war die Machtasymmetrie zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite das zentrale Problem auf den Arbeitsmärkten, das es zu lösen galt. Dagegen basiert die vom Privatrecht proklamierte Vertragsfreiheit auf der Annahme freier und gleicher Vertragspartner, denn sonst wären die geschlossenen Verträge ja nicht frei.

Nach Sinzheimer gilt diese Annahme im Arbeitsleben jedoch nicht, weil der einzelne Arbeitnehmer auf sein Beschäftigungsverhältnis angewiesen und dadurch erpressbar ist. Das kollektive Arbeitsrecht soll den Arbeitnehmer schützen und die Machtasymmetrie aufheben. Nur gewerkschaftlich organisiert und im Kollektiv bestehe die Möglichkeit, durch Streiks ein Äquivalent zur Marktmacht des Unternehmers herzustellen, so Sinzheimer. Überbetrieblich ausgehandelte Tarifverträge sollten unabdingbare Mindeststandards setzen. Erst auf dieser Basis hätten Arbeitnehmer eine Wahl, und erst dann könne die Norm der Vertragsfreiheit auch für sie gelten.

Die Unterschiede zwischen Vertrags- und Arbeitsrecht könnte man in einem Satz zusammenfassen: Für einen Privatrechtler ist das Arbeitsrecht das Recht der Arbeit und des Arbeitsvertrags, während ein Arbeitsrechtler es dezidiert als Recht der Arbeitnehmer bezeichnen würde, das die Marktmacht des Arbeitgebers kompensieren soll.

Dieser Unterschied ist hochpolitisch, denn er wirkt sich auf die Interpretation vieler Rechtsnormen aus. Ein prominentes Beispiel ist das Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. III TVG). Es besagt, dass ein Arbeitsvertrag dann von einem geltenden Tarifvertrag abweichen darf, wenn dies zugunsten des Arbeitnehmers geschieht, wobei im Tarifvertragsgesetz nicht festgelegt wird, wie die Günstigkeit definiert und gemessen wird. Stattdessen beschäftigen sich die Arbeitsgerichte seit Jahrzehnten mit diesem Fragenkomplex. In den 90er Jahren musste zum Beispiel die Frage entschieden werden, ob es für einen Arbeitnehmer günstiger ist, auf Lohn bzw. Gehalt zu verzichten, wenn er dafür seinen Arbeitsplatz behält. Ein Privatrechtler würde dies bejahen. Für ihn ist das Günstigkeitsprinzip der Hort der Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht. Der Arbeitnehmer soll möglichst frei entscheiden dürfen, welche Regelung für ihn günstiger ist.

Ein Arbeitsrechtler würde dies demgegenüber vehement ablehnen, denn er geht ja davon aus, dass der einzelne Arbeitnehmer aufgrund seiner Erpressbarkeit gar keine freie Wahl treffen kann: Selbstverständlich würde sich der Beschäftigte für den Arbeitsplatz und gegen den höheren Lohn aussprechen. Ein Privatrechtler würde also das Günstigkeitsprinzip tendenziell gegen den Tarifvertrag wenden bzw. zur Aushebelung des Tarifvertrags nutzen. Ein Arbeitsrechtler würde hingegen argumentieren, dass das Prinzip erst oberhalb der tariflichen Standards angewendet werden darf, denn erst auf der Basis dieser Mindeststandards hätten auch Arbeitnehmer eine freie Wahl.

Das arbeitsrechtliche Denken von Hugo Sinzheimer und anderen wurde maßgeblich in der Weimarer Republik entwickelt. Und spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war es in Deutschland institutionalisiert, auch im Rechtssystem bzw. in der juristischen Profession. So wurden weitgehend eigenständige Arbeitsgerichte etabliert und damit das Berufsbild des Arbeitsrichters geschaffen, zudem hielt das neue Rechtsgebiet Einzug in die Studienpläne der Universitäten. Das Arbeitsrecht wuchs, aber es entwickelte sich sehr ungleichmäßig in den Segmenten des Rechtssystems.

Die Institutionalisierung als Sonderrechtsgebiet (und damit die Absicherung seiner spezifischen Annahmen der Machtasymmetrie) konzentrierte sich von Beginn an auf die Arbeitsgerichte, während es sich in den anderen Bereichen - Anwaltschaft, Universitäten - kaum als eigenständig etabliert hat. Dieser Segmentationseffekt bildet eine strukturelle Basis für die seit den 80er Jahren stattfindende Rückkehr des privatrechtlichen Vertragsdenkens in das Arbeitsrecht. Die genannten Gerichtsprozesse aus den 90er Jahren um die Interpretation des Günstigkeitsprinzips sind ein Ausdruck dieser Entwicklung.

Hier zeigt sich auch die asymmetrische Institutionalisierung des arbeitsrechtlichen Denkens: Es waren Anwälte und Rechtsprofessoren, die die privatrechtliche Neuinterpretation forcierten. Und es waren die Richter an den Arbeitsgerichten, die diese Interpretation nicht akzeptierten. Die Macht der Arbeitsgerichte, liberale Neuinterpretationen abzuschmettern, sollte nun nicht zu der Annahme verleiten, alles sei in bester Ordnung. Vielmehr sollte man sich bewusst machen, dass es strukturelle Entwicklungen auf dem Juristenmarkt gibt, die das Arbeitsrecht schrittweise in die Defensive drängen.

Welche sind das? Schon früh wurde die mangelnde Bereitschaft der Universitäten beklagt, sich auf die neue Rechtsentwicklung einzulassen. Schon in den 1950er Jahren monierte der damalige Bundesarbeitsminister Anton Storch, dass die Universitäten das Arbeitsrecht boykottieren würden. In den 60er Jahren kritisierten die Arbeitsgerichtspräsidenten den Mangel an geeignetem Nachwuchs, den sie - ebenso wie Storch - auf ein zu geringes einschlägiges Lehrangebot zurückführten. Sie forderten die Einrichtung eines arbeitsrechtlichen Lehrstuhls an jeder rechtswissenschaftlichen Fakultät - was nicht realisiert wurde. In den 70er Jahren bemängelte Wolfgang Däubler, das Arbeitsrecht komme an den Universitäten nach wie vor nicht über eine Randexistenz hinaus.

Schaut man sich die Entwicklung arbeitsrechtlicher Lehrstühle an den deutschen Universitäten an, so ist der und die hauptamtliche "Professor/in für Arbeitsrecht" immer eine Ausnahmeerscheinung geblieben. Zwar ist das Rechtsgebiet parallel zur Expansion des Bildungssektors stark mitgewachsen: Existierten 1968 nur 27 Universitätsprofessuren mit einer Widmung für das Arbeitsrecht im Titel, so lag ihre Zahl im Jahr 2009 bei 96. Gleichzeitig ist der Anteil eigenständiger Arbeitsrechtsprofessuren, die ausschließlich dem Arbeitsrecht gewidmet sind, aber immer marginal geblieben bzw. sogar noch geschrumpft, nämlich von 23 auf 4 Prozent.

Dabei hat die Verknüpfung des Arbeitsrechts mit dem bürgerlichen Recht besonders stark an Bedeutung gewonnen. 1968 machte diese Kombination nur 27 Prozent der gebündelten Arbeitsrechtsprofessuren aus. Im Jahr 2009 ist sie demgegenüber mit fast 87 Prozent der Fälle absolut dominant. Die Aussage von Däubler, das Arbeitsrecht komme an den Universitäten über eine Randexistenz nicht hinaus, stimmt heute so nicht mehr. Aber das Arbeitsrecht hat sich niemals wirklich vom Privatrecht gelöst, bzw. im Zweifelsfall sind es Privatrechtler, die an den Universitäten die Ausbildung der Arbeitsrechtler übernehmen - mit allen inhaltlichen Implikationen über das Rechtsdenken, die das haben kann. Ein prominentes Beispiel ist Volker Rieble, der an der Universität München einen Lehrstuhl für Arbeitsrecht und bürgerliches Recht innehat und dabei Ersteres als Bestandteil von Letzterem behandelt. Er gehört immer zu denjenigen Autoren, die das Vertragsdenken im Arbeitsrecht stärken. (Unterstützt wird er dabei von einem universitären An-Institut, das von der Arbeitgeberseite finanziell getragen wird.)

Eine wichtige Ergänzungsfunktion bei der Ausbildung zukünftiger Arbeitsrechtswissenschaftler haben diejenigen Richter, die (überwiegend als Honorarprofessoren) in der universitären Lehre tätig sind. Vorstellbar ist eine Arbeitsteilung, bei der die Richter das Arbeitsrecht unterrichten, während sich die hauptamtlichen Lehrstuhlinhaber eher dem bürgerlichen Recht zuwenden, um alle Rechtsgebiete abzudecken. Das bedeutet, dass die Arbeitsrichter in nicht unerheblichem Maße ihren Nachwuchs selbst ausbilden. Um die Ausbildungsfunktion wahrnehmen zu können, ist ein wissenschaftsnahes Profil der Arbeitsrichter hilfreich. Als promovierter oder sogar habilitierter Jurist ist der Zugang zur Lehre einfacher (und sind die Prüfungsberechtigungen üblicherweise umfangreicher). Der für das deutsche Rechtssystem viel zitierte "forschende Richter" schlägt damit nicht nur eine Brücke zum rechtswissenschaftlichen Diskurs, sondern auch - und das ist in diesem Fall besonders wichtig - zur Universität als Lehranstalt. Doch ist der Anteil der promovierten oder habilitierten Richter - zumindest am Bundesarbeitsgericht - im Zeitverlauf aber rückläufig gewesen und von knapp 79 (50er Jahre) auf 51 Prozent (nach 2000) gesunken.

Das zweite Segment des Rechtssystems, das hier betrachtet wird, ist die Anwaltschaft. In der Weimarer Republik war die Anwaltschaft von den Gewerkschaften immer als größter Feind des Arbeitsrechts bekämpft worden, weil sie ihre Marktinteressen vor allem durch Dienstleistungen für die Arbeitgeberseite zu realisieren suchte. Zudem hatte man ihre Konkurrenz vor Gericht bei der Interessenvertretung der Beschäftigten gefürchtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich eine Arbeitsteilung, und die Gewerkschaften lernten, sich mit der Anwaltschaft zu arrangieren. Die Verbände verfügten zumindest bei ihren Mitgliedern über den ersten Zugriff - durch den gewerkschaftlichen Rechtsschutz -, suchten aber auch die Unterstützung bevorzugter Anwaltskanzleien, zu denen sie stabile Beziehungen aufzubauen versuchten.

Gleichwohl ist bei Rechtsanwälten die Identifikation mit den machtasymmetrischen Grundannahmen des Arbeitsrechts am wenigsten gewährleistet. Erstens ist die Spezialisierung vieler "Wald-und-Wiesen-Anwälte" häufig gering. Zweitens bieten viele Anwälte arbeitsrechtliche Beratung als Teil des Wirtschaftsrechts an und praktizieren damit die explizite Abhandlung des Arbeitsrechts als Privatrecht. Und drittens impliziert selbst eine Spezialisierung nicht notwendigerweise eine affirmative Bindung an das Rechtsgebiet, denn eine Anwaltskanzlei kann sich ja auch auf das Arbeitsrecht konzentrieren, um - ähnlich wie in der Weimarer Republik - Unternehmen dabei zu unterstützen, die Geltung des Rechts zu unterlaufen oder zu bekämpfen. Ein beliebtes Beispiel ist die in Gewerkschaftskreisen berühmt-berüchtigte Anwaltskanzlei Naujoks, die einen erheblichen Teil ihres Geschäfts damit bestreitet, im Arbeitgeberauftrag Betriebsräte zu verhindern oder zu attackieren.

Gleichzeitig ist die Gruppe der Anwälte zahlenmäßig die größte: 3000 im Fachverband organisierten Fachanwälten für Arbeitsrecht stehen nur 1100 Arbeitsrichter und eine Handvoll Professoren (plus Mitarbeiter) gegenüber. Dabei sind die Unternehmenssyndizi noch nicht einmal mitgerechnet. Spätestens bei der Prägung des rechtswissenschaftlichen Diskurses (und bei den Abstimmungen auf dem Deutschen Juristentag), an dem sich üblicherweise auch die Fachanwälte beteiligen, wirkt sich dieses Zahlenverhältnis aus. Auch die Zusammensetzung der Teilnehmer auf juristischen Tagungen spiegelt die Mehrheitsverhältnisse wider. So stammt bei Tagungen der "Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht" die Mehrheit der Tagungsteilnehmer aus den Personalabteilungen von Unternehmen und aus Anwaltskanzleien.

Die Entwicklung des Arbeitsrechts wird also in erheblichem (und zunehmendem) Maße von Akteuren betrieben, die sich den grundlegenden Annahmen des Rechtsgebiets nicht unbedingt verpflichtet fühlen. Zudem werden angehende Arbeitsrechtler an den Universitäten nur marginal in diesem Rechtsgebiet ausgebildet - und müssen dann im Nachhinein an den Arbeitsgerichten in das Rechtsgebiet "hineinsozialisiert" werden. Dadurch droht ein schleichendes Ausbluten einer Subprofession, das zunächst nicht aufzufallen scheint, weil die formale Bezeichnung "Arbeitsrechtler" erhalten bleibt. Dahinter verbirgt sich jedoch eine gefährliche Entwicklung, in der sich das Privatrecht das Arbeitsrecht zurückholt. Die Gründung des Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeitsrecht durch die Gewerkschaften soll diesem Prozess entgegenwirken. Allein wird es ihn jedoch nicht stoppen können.


Mehr Informationen

Britta Rehder: Die Politik der Rechtsprechung. Der Beitrag der Arbeitsgerichtsbarkeit zum Werden und Wandel des deutschen Kapitalismus. Schriftenreihe des MPIfG im Campus Verlag, erscheint im Frühsommer 2011.

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