Forschungsprojekt: Armut unterhalb der Alg II-Grenze

Armut in Deutschland: Bevölkerungsgruppen unterhalb der Alg II-Grenze

Projektziel

Zur Abschätzung der Bevölkerung mit Einkommen unterhalb des gesetzlichen Existenzminimums wird mit einem Mikrosimulationsmodell auf Basis der Daten des Sozio-ökonomischen Panels 2004 die Zahl und Struktur der Alg II-Anspruchsberechtigten ermittelt. Damit werden Referenzdaten für Vergleiche mit der faktischen Entwicklung der Zahl der Leistungsempfänger nach Einführung des Alg II bereit gestellt.

Veröffentlichungen

Becker, Irene, 2006. Effektive Bruttostundenlöhne in Deutschland. Eine Verteilungsanalyse unter Aspekten der Leistungsgerechtigkeit und besonderer Berücksichtigung des Niedriglohnsegments, Arbeitspapier J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M. 2, Frankfurt/M.: Goethe Universität, 40 Seiten.

Becker, Irene, 2006. Armut in Deutschland: Bevölkerungsgruppen unterhalb der Alg II-Grenze, Arbeitspapier J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M. 3, Frankfurt/M.: Goethe Universität, 41 Seiten.

Becker, Irene, 2006. Bedarfsgerechtigkeit und sozio-kulturelles Existenzminimum. Der gegenwärtige Eckregelsatz vor dem Hintergrund aktueller Daten. Der gegenwärtige Eckregelsatz vor dem Hintergrund aktueller Daten, Arbeitspapier J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M. 1, Frankfurt/M.: Goethe Universität, 33 Seiten.

Projektbeschreibung

Kontext

Ein Schwerpunkt der gegenwärtigen sozialpolitischen Auseinandersetzungen ist die Gestaltung der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums. Die Diskussion wird begleitet von Verlautbarungen über eine angebliche "Kostenexplosion" bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende und Unterstellungen verbreiteten Leistungsmissbrauchs, ohne dass bisher auf relevante empirische Informationen zum Niedrigeinkommensbereich zurückgegriffen werden konnte. Von daher werden die auf relative Armutsgrenzen (50% des arithmetischen Mittels oder 60% des Medians der Nettoäquivalenzeinkommen) bezogenen vorliegenden Studien über Armut in Deutschland um eine Analyse von Armut "nach gesetzlicher Lesart" - d. h. der Bevölkerung unterhalb des gesetzlich definierten minimalen Lebensstandards - ergänzt. Mit dieser Bestandsaufnahme soll ein Beitrag zur sachlichen Interpretation der faktischen Entwicklung der Zahl der Leistungsempfänger geleistet werden.

Fragestellung

Das zentrale Anliegen des Projekts ist die Ermittlung von Größe und Struktur der Bevölkerung in Deutschland mit Einkommen unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums. Dieses Minimum ergibt sich aus den Vorschriften des SGB II bzw. SGB XII zur Bemessung des mit Alg II und Sozialgeld bzw. mit Hilfe zum Lebensunterhalt zu sichernden Bedarfs. Es kennzeichnet damit eine Armutsgrenze "nach gesetzlicher Lesart". In welchem Ausmaß diese Armutsgrenze unterschritten wird bzw. im Falle von Leistungsbezug ohne die Grundsicherungsleistung unterschritten werden würde, wird auf der Basis von repräsentativen Mikrodaten ermittelt. Neben der Abschätzung der Bedürftigkeit insgesamt wird der Frage nach gruppenspezifischen Betroffenheiten nachgegangen. Wesentliche Aspekte sind die Erwerbsbeteiligung - inwieweit also Arbeitslosigkeit oder niedrige Erwerbseinkommen zu Hilfebedürftigkeit führen, wobei nach Männern und Frauen differenziert wird - sowie der Haushaltstyp und die Bedürftigkeit von Kindern.

Untersuchungsmethoden

Zur Erfassung des Einkommenssegments unter der Alg II-Grenze wird ein Mikrosimulationsmodell entwickelt und mit den Daten des Sozio-ökonomischen Panels von 2004 gerechnet. Mit dem Simulationsmodell werden zunächst Bedarfsgemeinschaften innerhalb der Haushalte nach den Vorschriften des SGB II abgegrenzt, für die dann der Bedarf ermittelt und dem jeweiligen Einkommen gegenübergestellt wird. Zudem wird zumindest näherungsweise überprüft, inwieweit die Vermögensverhältnisse der einkommensarmen Haushalte einem Unterstützungsanspruch entgegen stehen. Bei der Modellbildung sind freilich einige vereinfachende Annahmen erforderlich, da die in Haushaltsstichproben erhobenen Daten meist nicht vollständig dem Anforderungsprofil einer "idealen" empirischen Basis entsprechen. Übersteigt der errechnete Bedarf das zu berücksichtigende Einkommen und bleibt das Vermögen hinter den Freibeträgen zurück, gilt die Bedarfsgemeinschaft als potenziell anspruchsberechtigt.

Darstellung der Ergebnisse

Insgesamt erweisen sich etwa 10 Mio. Personen der SGB II-Zielgruppe (ohne Alte und Erwerbsunfähige) als bedürftig: Daraus ergibt sich eine Bedürftigkeitsquote von 16% - 23% in den neuen Ländern, 15% in den alten Ländern. Zudem zeigt sich,

- dass nur 7% der Personen in Vollerwerbs-Bedarfsgemeinschaften bedürftig sind, diese Gruppe aber 3 Mio. Personen umfasst;

- dass zwei Drittel der Personen in Arbeitslosen-Bedarfsgemeinschaften anspruchsberechtigt sind, das sind 3,3 Mio. Personen;

- dass etwa 3,4 Mio. bzw. mehr als ein Fünftel der Kinder und Schüler bedürftig sind;

- dass die überdurchschnittliche Betroffenheit von Kindern auf die prekären finanziellen Verhältnisse insbesondere in kinderreichen Paar-Familien (Bedürftigkeitsquote: 26,5%) und in Haushalten von Alleinerziehenden (Bedürftigkeitsquote: 50%) zurückzuführen ist.

Aus einer Gegenüberstellung der Simulationsergebnisse mit Daten der Bundesagentur für Arbeit über die tatsächlichen Grundsicherungsempfänger ist schließlich zu folgern, dass die amtlichen Zahlen die Größe und Struktur des Niedrigeinkommensbereichs nur teilweise spiegeln und nicht als Indiz für ungerechtfertigte Leistungsinanspruchnahme zu werten sind.

Projektleitung und -bearbeitung

Projektleitung

Dr. Irene Becker
Empirische Verteilungsforschung

Kontakt

Dr. Eike Windscheid-Profeta
Hans-Böckler-Stiftung
Forschungsförderung