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HBS Böckler Impuls

Leiharbeit: Zeitarbeit in Deutschland: In vielen Großunternehmen gängige Praxis

Ausgabe 20/2007

Die Leiharbeit boomt und verändert ihren Charakter. Eine wachsende Zahl von Betrieben nutzt sie intensiv und macht sie zu einem festen Bestandteil der Personalstrategie - auch wenn kurzfristigen Vorteilen längerfristig Risiken gegenüberstehen. Aussicht auf eine stabile Beschäftigung haben nur wenige Leihkräfte.

Drei Prozent der Unternehmen in Deutschland setzen Leiharbeiter ein, nur eine kleine Minderheit der Arbeitnehmer ist bei einer Verleih-Agentur angestellt. Doch hinter den auf den ersten Blick niedrigen Zahlen steht eine hohe Dynamik: Lag der Anteil der Leiharbeiter an allen Beschäftigten 2005 bei 1 Prozent, waren es 2006 bereits 1,5 Prozent. Seit 1998 hat sich die Quote sogar verdreifacht. Und in zentralen Bereichen der deutschen Industrie ist das Ausleihen von Mitarbeitern auf Zeit längst kein Randphänomen mehr. Das zeigt eine neue Studie von Lutz Bellmann, Wissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), und Alexander Kühl vom Institut für Sozialökonomische Strukturanalysen. Sie untersucht erstmals umfassend, wie sich Unternehmen mit Leiharbeits-Einsatz von Firmen ohne Zeitarbeiter unterscheiden. Dabei stützen sie sich auf Längsschnitt-Daten aus dem IAB-Betriebspanel. Die Analyse ist eine von mehreren Studien im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, die die Leiharbeit untersuchen.

Mehr große Nutzer, intensivere Nutzung. Das kräftige Wachstum führen Bellmann und Kühl auf drei Faktoren zurück: 2004 strich die Bundesregierung verschiedene Schutzvorschriften im Arbeitnehmerüberlassungs-Gesetz. Dazu zählten das so genannte Synchronisationsverbot - es untersagte, die Beschäftigung beim Verleiher zugleich mit der Beschäftigung in einem Entleihbetrieb zu beenden - sowie die Befristung von Leiharbeitseinsätzen in einem Unternehmen auf maximal zwei Jahre. Dadurch wurde es für Betriebe deutlich attraktiver, Bedürfnisse nach flexiblem Arbeitseinsatz über Leiharbeit zu decken. Zugleich engagierten sich die großen Verleihunternehmen massiv in Deutschland. Den entscheidenden Schub brachte schließlich der konjunkturelle Aufschwung.

Die Wissenschaftler beobachten zwei Trends beim Wachstum der Branche: Zum einen setzen mehr größere Betriebe Leiharbeitnehmer ein, besonders im Verarbeitenden Gewerbe: 2006 taten das 44,8 Prozent der Betriebe mit mehr als 250 Beschäftigten. Unter den Großunternehmen über 5.000 Mitarbeiter heuerten zuletzt sogar knapp 60 Prozent Zeit-kräfte an. Dagegen fiel der Anteil der Entleihbetriebe bei den kleinen Unternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitern auf zuletzt gut 2 Prozent. In Betrieben mit bis zu 249 Beschäftigten stagniert die Quote bei maximal einem guten Drittel.

Wichtiger als die Ausweitung in die Fläche ist daher nach Analyse der Wissenschaftler der zweite Trend: Immer mehr Entleih-Unternehmen stocken die Zahl der Temporären im Verhältnis zur Stammbelegschaft auf. Der Anteil der größeren Betriebe, in denen 5 bis 20 Prozent der Beschäftigten ausgeliehen sind, wuchs zwischen 2002 und 2006 auf knapp 36 Prozent unter allen Betrieben mit Leiharbeit. 10 Prozent der Entleihbetriebe galten 2006 sogar als Intensivnutzer mit mehr als 20 Prozent Zeitarbeitern. 1998 gab es davon erst knapp 5 Prozent, 2002 waren es sogar nur 2 Prozent.

Leih-Einsatz als Personalstrategie. Insgesamt verschiebt sich der Schwerpunkt des Leiharbeitseinsatzes hin zu den größeren Betrieben, die oft ein professionelles Personalmanagement haben. Betriebe mit einer geringeren Leiharbeiterquote unter fünf Prozent setzen dabei wahrscheinlich weiterhin darauf, so kurzfristige Auftragsschübe abzuarbeiten. Dagegen sehen die Wissenschaftler bei den intensiveren Nutzern "ein planvolles Vorgehen, welches über das Abfedern von Auftragsspitzen hinausgeht". Solche Unternehmen könnten mit Leiharbeitern auch eine "Strategie zur Senkung der Lohnkosten verfolgen", vermuten die Forscher. Denn die Zeitkräfte lassen sich nicht nur kurzfristig wieder abbestellen, sie werden im Schnitt auch deutlich geringer bezahlt als Festangestellte. Ein wichtiges Indiz für die Spar-These: 41 Prozent der Entleihbetriebe klagen bei der Betriebspanel-Befragung über hohe Lohnkosten. Unter den Betrieben, die auf Leiharbeit verzichten, sehen nur 23 Prozent die Lohnkosten als Problem.

Beschäftigungsentwicklung und Substitutionseffekte. Gleichwohl sind Betriebe, die auf Leiharbeit zurückgreifen, keineswegs in einer schlechteren wirtschaftlichen Situation als Unternehmen ohne temporäre Beschäftigte. Eher im Gegenteil, zeigt das IAB-Betriebspanel: Die Gruppe der Entleihbetriebe hat in den vergangenen zehn Jahren insgesamt bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung tendenziell zugelegt, während die Beschäftigtenzahl in Betrieben, die auf Leiharbeit verzichteten, zurückging. Was dabei Ursache ist und was Wirkung, lässt sich mit den Paneldaten jedoch nicht bestimmen, betonen Bellmann und Kühl. Die Interpretation ist nicht eindeutig: "Umgekehrt könnte die These aufgestellt werden, dass dynamisch wachsende Betriebe, um ihre numerische Flexibilität jenseits des Normalarbeitsverhältnisses zu sichern, verstärkt auf Leiharbeit zurückgreifen."

Die Zahlen legen auch nahe, dass es bislang keinen weit verbreiteten Trend gibt, vollzeitbeschäftigte Stammarbeitnehmer durch Leiharbeiter zu ersetzen. Verdrängt werden andere atypische Beschäftigungsformen wie befristete Stellen, Mini- und Midijobs, aber auch reguläre Teilzeitarbeit, die in Entleihbetrieben seltener vorkommen als in Firmen ohne Zeitarbeit. Allerdings liefert das Panel einige Indizien dafür, dass zumindest bei einem Teil der Intensivnutzer auch weitergehende Substitutionsprozesse ablaufen: In diesen Betrieben gibt es im Vergleich zu Nicht- oder Wenignutzern von Zeitarbeit eine erhöhte Personalfluktuation und mehr Kündigungen durch den Arbeitgeber. Und bei Intensivnutzern im Verarbeitenden Gewerbe schließen die Forscher auf "Umbauprozesse im Belegschaftsaufbau", die etwa darin bestehen Stammbeschäftigte, die in Rente gehen, "durch den Rückgriff auf Leiharbeitskräfte zu ersetzen".

In die gleiche Richtung weisen Befunde, die die Kasseler Sozialforscher Wolfram Wassermann und Wolfgang Rudolph gesammelt haben. Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung befragten sie Betriebsräte in 80 Intensivnutzer-Betrieben. Rund ein Drittel der Befragten gab an, in ihrem Betrieb seien in den zurückliegenden zwei Jahren fest angestellte Arbeiter durch Leiharbeiter ersetzt worden. Der Austausch laufe oft indirekt ab, schreiben die Wissenschaftler: Nachdem in den zurückliegenden Krisenjahren fast überall Stellen gestrichen worden waren, "bedient sich das Management nun in der Phase des Neuaufschwungs offenbar des Leiharbeitereinsatzes, um den wieder gewachsenen Bedarf an Arbeitskraft kurzfristig zu decken". Bisweilen sind die Leiharbeiter alte Bekannte: "Nicht selten handelt es sich dabei um dieselben Arbeitnehmer, die früher im gleichen Betrieb eine feste Stelle innegehabt hatten."

Kurze Verweildauer begrenzt die Übernahmechancen. Bei den regulär Beschäftigten könnte der intensive Einsatz von Leiharbeitern in ihrem Betrieb zu "gefühlter Beschäftigungsunsicherheit" führen, vermuten Bellmann und Kühl. Für die Leiharbeitnehmer sind wiederum die Chancen gering, über die Tätigkeit auf Zeit eine dauerhafte Beschäftigung zu finden: Lediglich 37,5 Prozent der Leiharbeiter waren 2006 überhaupt länger als drei Monate bei ihrem Verleihunternehmen beschäftigt. Bei gut 50 Prozent dauerte die Anstellung zwischen einer Woche und drei Monaten, bei 12 Prozent sogar noch kürzer. "Leiharbeit als alternative Probezeit zu verstehen, die über eine Screening-Funktion womöglich Klebeeffekte nach sich zieht, verkennt empirische Realitäten", schreiben die Forscher.

Kurzfristige Vorteile, längerfristige Risiken. Für die Nutzer-Unternehmen hat die Leiharbeit ganz andere Vorteile, so Bellmann und Kühl - "ihre unproblematische Reversibilität sowie ihre Funktion als überbetrieblich organisierte und schnell aktivierbare Personalreserve" - plus Kostenvorteile durch niedrigere Entlohnung. Ob das starke Wachstum der Entleihbranche künftig anhält, hängt allerdings auch davon ab, ob es den Verleihfirmen gelingt, neben den bislang dominierenden geringer Qualifizierten mehr Fachkräfte anzuwerben und unterzubringen. Das sei keineswegs garantiert, analysieren die Wissenschaftler: Es werde sich zeigen, inwieweit Betriebe bereit seien, "ihre Ausstattung mit Fachkräften auf eine derartige Basis zu stellen". Denn Unternehmen, die der Leiharbeit ein zu großes Gewicht geben, laufen Gefahr, längerfristig in eine personelle Sackgasse zu geraten: "Der temporäre Zukauf überlassener Kompetenzen birgt das Risiko, die Personalentwicklung im Unternehmen zu vernachlässigen", geben Bellmann und Kühl zu bedenken. Zudem sollte schon jetzt mit Blick auf die Motivation der Belegschaft "das Konfliktpotenzial eines zunehmenden Einsatzes von Leiharbeitskräften nicht unterschätzt werden".

  • Leiharbeit ist in Großbetrieben kein Randphänomen mehr. Zur Grafik
  • Die meisten Leiharbeiter arbeiten in der Produktion. Zur Grafik
  • Rot-grün hat dem massenhaften Einsatz von Leiharbeitnehmern den Weg bereitet. Zur Grafik

Lutz Bellmann, Alexander Kühl: Weitere Expansion der Leiharbeit? Eine Bestandsaufnahme auf Basis des IAB-Betriebspanels, Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung 2007.

Wolfram Wassermann, Wolfgang Rudolph: Leiharbeit als Gegenstand betrieblicher Mitbestimmung, Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung 2007. Arbeitspapier zum Bestellen

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