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A cutting department at the Kuban meat-processing plant in the Krasnodar Territory Pressemitteilungen

Neue Untersuchung des WSI: Analyse zu Missständen in der Fleischindustrie: Neues Gesetz erster wichtiger Schritt für Verbesserungen, Branchentarif der zweite

27.10.2020

In der Fleischindustrie wurden grundlegende Arbeitnehmerrechte umgangen. Ein neues, von der Bundesregierung vorgelegtes Gesetz könnte viele Mängel beheben. Darüber hinaus braucht es allgemeinverbindliche Tarifverträge für die Branche – so wie es sie in anderen europäischen Ländern längst gibt. Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Die Missstände in der Fleischwirtschaft sind lange bekannt – und noch immer nicht behoben. Die Coronakrise offenbarte, dass freiwillige Selbstverpflichtungen der Branche bei weitem nicht ausreichen. Konsequenz: Ein Gesetzentwurf, der Werkverträge oder Leiharbeit für Kernbereiche der Fleischindustrie verbietet und die Einhaltung gesetzlicher Mindeststandards sicherstellt, wurde bereits im Bundestag diskutiert, die für diese Woche geplante Abstimmung im Parlament wurde allerdings kurzfristig verschoben. Im ersten Schritt gehe es nun darum, „den weitreichenden Gesetzentwurf gegen den Widerstand der mächtigen Fleischlobby durchzusetzen“, schreiben Serife Erol und Prof. Dr. Thorsten Schulten vom WSI in ihrem Report über die Arbeitsbeziehungen in der Fleischbranche. „Darüber hinaus ist im zweiten Schritt die Wiederherstellung einer flächendeckenden Tarifbindung notwendig, weil nur durch tarifvertragliche Regeln gute Arbeitsbedingungen für die gesamte Branche hergestellt werden können“, so die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler.

539 Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten zählte die Fleischindustrie in Deutschland 2019. Darunter dominieren wenige Großkonzerne wie Tönnies, Vion oder Westfleisch. Mehr als 100.000 Beschäftigte arbeiten insgesamt im Bereich Schlachten und Fleischverarbeitung. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Branche stark gewachsen, auch dank steigender Exporte. Diese Expansion beruhe auf einem „Geschäftsmodell, das weitgehend auf Billigproduktion setzt und sich hierbei die vergleichsweise sehr niedrigen Arbeitskosten zunutze macht“, schreiben die WSI-Forscher. Bei anderen wichtigen europäischen Fleischproduzenten fielen die Arbeitskosten deutlich höher aus als in Deutschland. Besonders extrem ist der Vergleich mit Dänemark, wo die Arbeitskosten mehr als doppelt so hoch liegen wie in Deutschland. Aber auch in Belgien und den Niederlanden liegen sie zwei Drittel über dem deutschen Niveau. Seit Jahren wird die deutsche Fleischindustrie immer wieder für ihr „Lohndumping“ kritisiert.

Bis zu 30 Werkvertragsunternehmen an einem Produktionsstandort

Im Mittelpunkt der Kritik steht der Einsatz von Werkvertragsarbeitern, die vorwiegend aus den osteuropäischen Staaten kommen und oft unter äußerst prekären Bedingungen arbeiten müssen. Hierbei handelt es sich in der Regel um sogenannte Onsite-Werkverträge, die sich von herkömmlichen Werkverträgen darin unterscheiden, dass sie auf dem Betriebsgelände des Auftraggebers ausgeführt und im Kernbereich der Wertschöpfung eingesetzt werden. Die Gewerkschaft NGG geht davon aus, dass in den Schlachtbetrieben in der Regel mehr als die Hälfte der Beschäftigten nicht mehr zur Stammbelegschaft gehört. Bei Kontrollen in Nordrhein-Westfalen sind sogar Fälle bekannt geworden, bei denen fast die gesamte Belegschaft aus Fremdpersonal bestand. Teilweise waren an einzelnen Produktionsstandorten bis zu 30 verschiedene Werkvertragsunternehmen im Einsatz.

Durch die Onsite-Werkverträge entzögen sich die Fleischkonzerne ihrer arbeitsrechtlichen Verantwortung gegenüber einem beträchtlichen Teil der auf ihrem Betriebsgelände eingesetzten Beschäftigten, erklären Erol und Schulten. Dies belegten nicht zuletzt die behördlichen Ermittlungen, zeigen die Forscher. Bei Schwerpunktkontrollen, die 2019 von der Arbeitsschutzverwaltung in NRW in 90 Werkvertragsfirmen mit circa 17.000 Beschäftigten durchgeführt wurden, fielen fast 9.000 Rechtsverstöße auf. Insgesamt wurden in 85 Prozent der kontrollierten Betriebe gravierende Mängel identifiziert. Die meisten Verstöße kamen im Bereich des Arbeitszeitrechts vor. Hierzu gehörten überlange Arbeitszeiten von mehr als 16 Stunden pro Tag sowie die Nichteinhaltung der gesetzlichen Ruhezeiten. Hinzu kamen fehlende arbeitsmedizinische Versorgung, Mängel im Arbeitsschutz sowie Missstände bei der Unterbringung der Beschäftigten. Auch bei der Entlohnung wurden Verstöße festgestellt: Unentgeltliche Mehrarbeit und unangemessene Lohnabzüge führten dazu, dass viele Beschäftigte de facto nicht einmal den Mindestlohn erhalten, der in der Branche seit August 2014 gilt. Neben offen gesetzeswidrigen „Gebühren“ für Arbeitsmittel und Schutzkleidung sind es vor allem überteuerte Mieten, mit denen die Werkvertragsunternehmen versuchen, ihre Arbeitskosten zu drücken.

Umgekehrt wurden da, wo die Fleischbetriebe fast ausschließlich mit eigenem Personal arbeiten, nur wenige Arbeitsmängel festgestellt, betonen die WSI-Experten. Damit zeige sich insgesamt, dass die gesamte Konstruktion der Onsite-Werkverträge in der Fleischindustrie systematisch Arbeitsverstöße ermöglicht und aufgrund fehlender Verantwortlichkeiten im Betrieb keine geeigneten Kontrollmöglichkeiten vorhanden sind.

Wie lassen sich die vielen Missstände beheben? Die Bundesregierung habe mit dem Entwurf für ein Arbeitsschutzkontrollgesetz „eine weitreichende gesetzliche Regelung vorgelegt, die mit dem Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit im Kerngeschäft der Fleischindustrie erstmals die eigentlich zugrundeliegenden Probleme adressiert“, schreiben Erol und Schulten. Das Verbot soll für Betriebe ab 50 Beschäftigten gelten, sodass kleinere Firmen im Fleischhandwerk weitgehend ausgenommen bleiben. Außerdem sieht der Gesetzentwurf eine generelle elektronische Arbeitszeiterfassung vor. Die Unternehmen sollen häufiger kontrolliert werden. Und bei Verstößen sollen deutlich härtere Strafen gelten.

„Mit dem Gesetzesvorhaben wird ein wichtiger Schritt zur Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie vollzogen. Dabei lehren die Erfahrungen der Vergangenheit, dass die Bundesregierung gut beraten ist, die gesetzlichen Bestimmungen möglichst präzise und weitgehend zu fassen, um neue Umgehungsstrategien aufseiten der Fleischunternehmen zu verhindern“, schreiben die WSI-Forscher. Das Gesetz allein werde aber noch nicht ausreichen, um überall gute Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Als weiterer Schritt sei der Wiederaufbau eines funktionierenden Tarifsystems notwendig. „Nur mit einem umfassenden Branchentarifvertrag, der für die gesamte Branche allgemeinverbindlich ist, könnte es gelingen, der Fleischwirtschaft einen verbindlichen Wettbewerbsrahmen vorzugeben und den ruinösen Preiswettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten zu beenden“, so die Wissenschaftler.

In Belgien, Frankreich oder den Niederlanden branchenweite Tarifverträge

Aktuell arbeiten nach der WSI-Analyse nicht nur die weit überwiegende Mehrheit der Werkvertragsnehmer, sondern auch viele Stammbeschäftigte ohne Tarifvertrag. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag die Tarifbindung in der gesamten Nahrungsmittelindustrie im Jahr 2014 nur noch bei 31 Prozent der Beschäftigten und 15 Prozent der Betriebe. Auch wenn keine offiziellen Daten für die Fleischindustrie existieren, könne davon ausgegangen werden, dass die Werte in diesem Bereich noch niedriger ausfallen dürften. Nur wenige Fleischunternehmen haben einen Haustarifvertrag abgeschlossen.

Anders als in Deutschland existieren in der Fleischindustrie der meisten west- und nordeuropäischen Nachbarstaaten nach wie vor umfangreiche Tarifvertragsstrukturen, zeigen die Forscher.

In diesen Ländern sei es gelungen, durch nationale Branchentarifverträge die Spaltung von Stamm- und Randbelegschaften zu verhindern. In Belgien, Frankreich und den Niederlanden werden dabei die Tarifvertragsstrukturen durch die staatliche Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge unterstützt, die dafür sorgt, dass die vereinbarten Standards in der gesamten Branche gültig sind. Eine besondere Situation existiert in der dänischen Fleischindustrie, wo die nationalen Tarifverträge zwar nicht allgemeinverbindlich erklärt werden, durch den hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad jedoch de facto universell angewendet werden. Bis heute sind mehr als 90 Prozent aller Beschäftigten in den dänischen Fleischunternehmen Mitglied einer Gewerkschaft.

Die geringe Tarifbindung in Deutschland ist auch Folge davon, dass Gewerkschaften und Mitbestimmung in der Branche immer weiter zurückgedrängt worden sind, so die Studie. Mit der Ausgliederung von Kerntätigkeiten und dem zunehmenden Einsatz von Werkvertragsarbeiter ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad deutlich gesunken. Zudem haben viele Fleischkonzerne – beispielsweise Tönnies – ihre Unternehmensorganisation und Rechtsform so gewählt, dass sie die deutschen Mitbestimmungsgesetze umgehen können. Auch diese Lücke müsse der Gesetzgeber schließen, wenn er es mit einer Neuordnung der Arbeitsbeziehungen – nicht nur in der Fleischindustrie – ernst meint.

Weitere Informationen:

Serife Erol und Thorsten Schulten: Das Ende der „organisierten Verantwortungslosigkeit“? Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie (pdf), WSI-Report Nr. 61, Oktober 2020.


Kontakt:

Prof. Dr. Thorsten Schulten
Leiter WSI-Tarifarchiv

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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