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Magazin Mitbestimmung

Sozialabbau in Großbritannien: Camerons radikale Agenda

Ausgabe 01+02/2012

GROSSBRITANNIEN Die konservative Regierung verfolgt einen kühnen Plan: Der Abbau von Arbeitnehmerrechten und Sozialstaat soll neue Jobs schaffen. Doch die Wirtschaft rutscht weiter in die Krise. Jetzt steigen die sozialen Spannungen. Von Ingmar Höhmann

Ingmar Höhmann ist Journalist, zurzeit in London

Ian Chamberlain arbeitete im nordenglischen Morecambe als Sozialarbeiter – bis David Cameron Mitte 2010 in Großbritannien die Macht übernahm. Der konservative Premier setzte als Erstes massive Kürzungen im Sozialhaushalt durch. Chamberlains Arbeitgeber musste sparen, der Vertrag wurde nicht verlängert. Der Endzwanziger zog nach London. Doch weil Sozialarbeiter auch in der Hauptstadt derzeit kaum Stellen finden, schlägt er sich nun mit Gelegenheitsjobs durch.

Nicht besser erging es Martin Hoban. Nach 37 Jahren setzte ihn sein Arbeitgeber in Birmingham vor die Tür. „Die Firma gab Restrukturierung als Grund an. Aber ein Personaler sagte, das sei nur ein Vorwand, um Leute loszuwerden.“ Hoban beschwerte sich. Seine Arbeitszeugnisse seien immer exzellent gewesen. Doch auf Kompromissbereitschaft hoffte er vergebens: „Ich bekam zu hören, dass die Firma einfach etwas Belastendes erfinden würde, um die Kündigung vor Gericht zu rechtfertigen.“

„Hire and fire“ – die angelsächsische Philosophie flexibler Arbeitsmärkte erlebt in Großbritannien eine Renaissance. Der Schutz für Arbeitnehmer ist dort ohnehin gering, und die Fortschritte der vergangenen Jahre macht die konservative Regierung nun wieder rückgängig. Um der schwächelnden Wirtschaft auf die Beine zu helfen und gleichzeitig die Staatskasse aufzubessern, hat Premier Cameron weitreichende Reformen eingeleitet – er nennt das die „wachstums- und unternehmerfreundlichste Pro-Job-Agenda, die eine Regierung jemals verfolgt hat“.

DROHKULISSEN_ Wirtschaftswachstum, so viel ist klar, soll auf Kosten der Beschäftigten gehen – die Regierung spricht von der radikalsten Reform des Arbeitsrechts seit Jahrzehnten. „Unser Arbeitsmarkt ist bereits einer der flexibelsten weltweit. Von dieser Flexibilität profitieren Unternehmen, Belegschaften und die Wirtschaft im Allgemeinen“, sagt Vince Cable, Minister für Unternehmen, Innovation und Qualifikationen. „Aber viele Unternehmen empfinden das Arbeitsrecht noch als Wachstumsbarriere. Diese Barriere reißen wir jetzt ab – und schaffen den Staat aus dem Weg.“

Anders ausgedrückt: Firmen sollen es künftig deutlich einfacher haben, Mitarbeiter loszuwerden. Bisher erwerben Arbeitnehmer nach einem Jahr im Job das Recht, gegen eine unfaire Kündigung vorzugehen. Dann muss der Arbeitgeber Gründe nachweisen – etwa Fehlverhalten des Beschäftigten oder den Wegfall der Position im Unternehmen. Künftig müssen Arbeitnehmer dafür doppelt so lange – zwei Jahre – in einer Firma gearbeitet haben. Inoffiziellen Plänen zufolge sollte dieses Recht demnächst sogar ganz wegfallen.

Und das ist nur ein Punkt auf der Agenda der Regierung: Sie will die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kürzen, Arbeitszeiten verlängern, Kündigungsfristen verringern und die Voraussetzungen für Arbeitsrechtsklagen verschärfen. Auch sollen Entlassene deftige Gebühren zahlen, wenn sie es wagen, gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber vor Gericht zu ziehen. 250 Pfund kostet dann bereits das bloße Einreichen einer Klage, eine Gebühr von 1000 Pfund fällt an, falls es zur Verhandlung kommt. Erstattet bekommen die Kläger die Ausgaben nur, wenn sie den Prozess auch gewinnen.

DER WIDERSTAND WÄCHST_ Experten sind mehr als skeptisch, ob diese Politik den erwünschten Erfolg erzielt: „Dahinter steckt der Glaube, dass die Wirtschaft beim Abbau von Arbeitnehmerrechten automatisch mehr Jobs schafft. Das ist pure Ideologie – und nicht gerechtfertigt“, sagt Richard Smith, Arbeitsrechtsexperte bei der Personalberatung Croner. Erzürnt sind auch die Gewerkschaften. Brendan Barber, Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbands TUC, hält die Reform für kontraproduktiv: „Der Abbau von Arbeitnehmerrechten schafft keinen einzigen zusätzlichen Job. Nicht das Arbeitsrecht hält Firmen zurück, sondern die schwierige wirtschaftliche Situation und die Probleme, Bankkredite zu bekommen.“ Er verweist auf OECD-Forschungsergebnisse, nach denen es keinen Zusammenhang zwischen Ausmaß der Regulierung und Wirtschaftsleistung gibt.

„Deutsche Beschäftigte haben viel mehr Schutzrechte und die Wirtschaft ist die stärkste Europas“, sagt Barber. Selbst in der Regierungskoalition stoßen die Pläne von David Cameron mittlerweile auf Widerstand. „Der Premier ist zu Recht besorgt über Jobs und Wirtschaftswachstum, und maßgeblich dafür ist das Vertrauen der Verbraucher“, sagt der Parlamentsabgeordnete Julian Huppert von den mitregierenden Liberaldemokraten. „Doch glaubt er, wenn er 25 Millionen Arbeitern sagt, dass sie keine Jobsicherheit mehr haben und nach Belieben gefeuert werden können, dass er damit das Verbrauchervertrauen ankurbeln oder eher reduzieren wird?“

SOZIALER KAHLSCHLAG_ Allerdings geht es in Großbritannien längst nicht mehr nur um Arbeitnehmerrechte, sondern um den Sozialstaat an sich. Finanzminister George Osborne verfolgt eine rigide Sparpolitik, die das ganze Land trifft. Harte Kürzungen hinnehmen müssen die sozial Schwachen: Leistungen wie Kinder- und Wohngeld wurden gekürzt, ebenso die Erwerbsunfähigkeitsrente und die Pensionen im öffentlichen Dienst. Auch die Bildung leidet: Britische Universitäten dürfen seit diesem Jahr Studiengebühren von bis zu 9000 Pfund pro Jahr verlangen – das ist dreimal mehr als zuvor. Die Bewerberzahlen sind darauf drastisch eingebrochen. Vor allem Staatsbedienstete müssen die Konsequenzen tragen: Ihre Löhne stagnieren bis zum Jahr 2015, mehr als 700 000 Arbeitsplätze werden wegfallen. Die Beschäftigung im öffentlichen Sektor ist im dritten Quartal 2011 bereits auf unter sechs Millionen gefallen – das ist das niedrigste Niveau seit 2003. Gleichzeitig nähert sich die Arbeitslosenquote in Großbritannien der Zehn-Prozent-Marke. Besonders kritisch ist die Jugendarbeitslosigkeit: Mehr als eine Million 16- bis 24-Jährige sind bereits ohne Job – mehr als je zuvor.

Angesichts der Sparorgie steigen die sozialen Spannungen. In einem Land, das Arbeitskämpfe und Streiks während der vergangenen drei Jahrzehnte für eine kontinentaleuropäische Eigenart hielt, kam es Ende November zum größten Streik im öffentlichen Sektor seit den 70er Jahren. Lehrerinnen, Krankenpfleger und Sozialarbeiter gingen gemeinsam auf die Straße, um gegen Rentenreform und Stellenabbau zu demonstrieren. Bis zu zwei Millionen Staatsdiener konnten die Gewerkschaften dem TUC zufolge mobilisieren.

Das sei kein Wunder, schließlich habe sich der Staat seine gesamte Belegschaft zum Feind gemacht, sagt TUC-Generalsekretär Barber. „Großbritannien ist an einem Wendepunkt angelangt. Die Entscheidungen der Regierung werden unser Leben für Generationen prägen“, sagt er. „Dabei ist jetzt schon klar, dass die Sparpolitik nicht funktionieren kann. Ich hoffe, dass die Regierung den Mut findet, ihre Fehler zuzugeben und den Kurs zu wechseln, bevor es zu spät ist.“

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