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Martin Höpner, Florian Rödl und Thorsten Schulten, 02.11.2021: Politische Hebel zu einer notwendigen Stärkung der Tarifbindung

Tarifverträge schaffen Gerechtigkeit. SPD, Grüne und FDP haben sich in den Sondierungen auf das Ziel einer Stärkung der Tarifbindung verständigt. Welche Reformen sollten die Verhandlungspartner als gemeinsame Vorhaben beschließen?

Tarifverträge schaffen Gerechtigkeit in der Arbeitswelt. Nur wo das Tarifwesen funktioniert, können die Arbeitsbedingungen für die abhängig Beschäftigten auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern ausgehandelt werden. Tarifverträge sind die Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe, Zusammenhalt und eine demokratische Gestaltung der Arbeitswelt. Nur durch sie kann die Soziale Marktwirtschaft ihr Versprechen einlösen.

Die Tarifpartnerschaft hat Deutschland geprägt. Das Grundgesetz hat die Schaffung rechtlicher Ordnung auf den Arbeitsmärkten an die tarifautonome Normsetzung der Tarifpartner übertragen und so auch den staatlichen Gesetzgeber von Aufgaben entlastet. Zugleich hat der Staat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für eine funktionierende Tarifpartnerschaft sicherzustellen.

Seit den Neunzigerjahren ist die Tarifbindung in Deutschland rückläufig. Nur noch jeder zweite abhängig Beschäftigte ist durch einen Tarifvertrag geschützt. Der Tarifschutz droht vom Regel- zum Ausnahmefall zu werden, der Sozialen Marktwirtschaft wird der Boden entzogen. So darf es nicht weitergehen. Die Erosion der Tarifbindung muss gestoppt und der Trend umgekehrt werden. Unsere westeuropäischen Nachbarn zeigen uns, dass das geht. Durch eine politische Stabilisierung des Tarifwesen garantieren sie nach wie vor eine hohe Tarifbindung.  

Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass sich SPD, Grüne und FDP in den Sondierungen für die Bildung einer gemeinsamen Regierung auf das Ziel einer Stärkung der Tarifbindung verständigt haben. Diesem Ziel muss in der begonnenen Legislaturperiode eine hohe Priorität eingeräumt werden. Eine Stärkung der Tarifbindung  lässt sich nicht durch ein einzelnes Instrument erreichen. Nachfolgend listen wir daher auf, welche Reformen die Verhandlungspartner in den derzeitigen Koalitionsgesprächen als gemeinsame Vorhaben beschließen sollten.

1. Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung

Derzeit hängt jede Allgemeinverbindlichkeit von der Zustimmung der Arbeitgeberseite im Tarifausschuss ab, eine Veto-Position, für die es keinen guten Grund gibt. Künftig muss eine Allgemeinverbindlicherklärung immer dann ergehen können, wenn der Tarifausschuss nicht mehrheitlich widerspricht. Weiter darf die Allgemeinverbindlichkeit auch für den Regelfall nicht voraussetzen, dass der Tarifvertrag bereits auf die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse Anwendung findet. Wenn Tarifbindung schwach ist, bedürfen häufig gerade Tarifverträge mit geringerer Reichweite der Allgemeinverbindlichkeit. Schließlich muss wie vor 2015 bereits ein Antrag nur einer der Tarifvertragsparteien ausreichen. Die Antragstellung ist eine organisationspolitische Frage, die jede Koalition für sich alleine entscheiden dürfen muss.

2. Ausbau der Allgemeinverbindlichkeit bei Entsendearbeit

Allgemeinverbindliche Tarifverträge, die auch die Arbeitsverhältnisse entsandter Arbeitnehmer:innen erfassen, dürfen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz nur die drei untersten Entgeltstufen umfassen. Damit sind die unionsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft. Die entsprechende Beschränkung, die zugleich einen ungerechtfertigten Eingriff in die Tarifautonomie darstellt, ist zu streichen, so dass künftig auch ganze Tarifgitter erstreckt werden können. Darüber hinaus muss auch hier der Antrag einer Tarifvertragspartei ausreichen und die Rolle des Tarifausschusses entsprechend angepasst werden.

3. Einführung eines Bundestariftreuegesetzes

Tarifbindung darf keinen Nachteil im Wettbewerb um öffentliche Aufträge oder Konzessionen darstellen. Nach dem Vorbild vieler Bundesländer und im Einklang mit ILO-Konvention Nr. 94 muss darum auch bei Vergaben auf Bundesebene Tariftreue verlangt werden, so dass Auftrag- und Konzessionsnehmer im Rahmen ihrer Tätigkeit für die öffentliche Hand die am Arbeitsort einschlägigen Tarifverträge einhalten müssen. Zur Bekräftigung dieser Position sollte Deutschland die ILO-Konvention Nr. 94 „über die Arbeitsklauseln in den von Behörden abgeschlossenen Verträgen“ ratifizieren.

4. Ausschluss von OT-Mitgliedschaften

Die Eröffnung der OT-Mitgliedschaft hat mit Blick auf die Tarifbindung völlig falsche Anreize geschaffen und wesentlich zur ihrer Erosion beigetragen. Vom Tarifvertragsgesetz allerdings ist es gar nicht vorgesehen, dass tarifschließende Arbeitgeberverbände eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung begründen können. Auch die Koalitionsfreiheit verlangt die Zulassung einer OT-Mitgliedschaft nicht. Darum kann und muss die anderslautende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vom Gesetzgeber korrigiert werden.

5. Keine Verkürzung der Tarifbindung bei Betriebsübergang

Um eine einseitige Verabschiedung eines Arbeitgebers aus geltenden Tarifverträgen auszuschließen, darf eine bestehende Tarifbindung weder durch Verbandsaustritt noch durch Betriebsveräußerung berührt werden. Nach der gegenwärtigen Rechtslage jedoch wird die Tarifbindung im Falle eines Betriebsübergangs systemwidrig auf ein Jahr verkürzt. Diese Verkürzung muss gestrichen werden.

6. Kein Abschluss tariffreier Arbeitsverhältnisse nach Ablauf eines Tarifvertrags

Die gesetzliche Fortgeltung von Tarifnormen über den Ablauf des Tarifvertrags hinaus greift nach der Rechtsprechung nicht für Arbeitsverhältnisse, die erst nach Ablauf eines Tarifvertrags neu begründet werden. Das ermöglicht es der Arbeitgeberseite, im Wege einer tariflichen Spaltung der Belegschaften rascher wirtschaftliche Vorteile aus einem Verbandsautritt zu ziehen. Diese Option muss verschlossen werden.

7. Weitere Anreize zum Verbandsbeitritt

Zur Förderung der Koalitionsmitgliedschaft auf beiden Seiten sind weitere Instrumente zu prüfen und zu erproben. Dazu gehören auf Arbeitgeberseite die Beschränkung der Befugnis tarifvertraglicher Abweichung von gesetzlichem Arbeitsrecht auf Unternehmen mit Flächentarifbindung, auf Arbeitnehmerseite die volle steuerliche Absetzbarkeit von Mitgliedsbeiträgen oder die Ermöglichung von tarifvertraglichen Boni für Gewerkschaftsmitglieder.

 

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Autoren

Prof. Martin Höpner ist Politikwissenschaftler und Forschungsgruppenleiter am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.

Prof. Florian Rödl ist Rechtswissenschaftler an der Freien Universität Berlin und Sprecher des Promotionskollegs „Gerechtigkeit durch Tarifvertrag“.

Prof. Thorsten Schulten ist Sozialwissenschaftler und Leiter des WSI-Tarifarchivs der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf

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