zurück
Blogbeitrag Rente Koalitionspläne

Ingo Schäfer und Florian Blank, 27.01.2022: Die Rentenpläne der Ampelkoalition – alle Probleme gelöst?

Die Ampelkoalition ist gestartet. Sie strebt ein dauerhaft stabiles Rentenniveau an und eine Deckelung des Beitragssatzanstiegs. Ist die rentenpolitische Debatte damit beendet?

Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP enthält zum Thema gesetzliche Rentenversicherung einige Vorgaben (Koalitionsvertrag 2021-2025, S. 73):

  • Das Rentenniveau soll dauerhaft mindestens 48 Prozent betragen.
  • Der Beitragssatz darf zumindest in dieser Wahlperiode nicht über 20 Prozent steigen.
  • Rentenkürzungen und eine weitere Anhebung des Rentenalters werden ausgeschlossen.

Damit dürften doch alles klar sein und größere Auseinandersetzungen sollte es nicht mehr geben – oder? Der Teufel steckt bekanntermaßen im Detail. Diese Details sind nicht nur für Fachleute relevant und sie haben nicht nur für die Rentenerhöhung in diesem Jahr Folgen. Hinter vermeintlich bloß technischen Aspekten und auf den ersten Blick einleuchtenden Vorschlägen – wie dem, dass Anpassungsmechanismen die Rentner:innen nicht einseitig und über die Maßen begünstigen sollen – verstecken sich politische Ziele wie das eines niedrigeren Rentenniveaus.

In diesem Beitrag sollen einige Begriffe und Funktionslogiken erklärt werden, die schon bald in politischen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle spielen können. Der von der Koalition ebenfalls vereinbarte Einstieg „in eine teilweise Kapitaldeckung in der gesetzlichen Rentenversicherung“ soll in diesem Beitrag nicht behandelt werden, wirft aber ebenfalls vielfältige Fragen auf.

Der Beitrag steht auch zum Download zur Verfügung (pdf).

Was plant die Koalition genau?

Die Koalitionäre haben in ihren Vertrag als Zielvorgabe aufgenommen, dass das Rentenniveau dauerhaft bei mindestens 48 Prozent liegen soll – unter Herausrechnung eines statistischen Effekts. Dies wird dadurch ergänzt, dass sie den „Nachholfaktor in der Rentenberechnung rechtzeitig vor den Rentenanpassungen ab 2022 wieder aktivieren und im Rahmen der geltenden Haltelinien wirken lassen“ wollen. Und weiter: „So stellen wir sicher, dass sich Renten und Löhne im Zuge der Coronakrise insgesamt im Gleichklang entwickeln und stärken die Generationengerechtigkeit ebenso wie die Stabilität der Beiträge in dieser Legislaturperiode.“ (Quelle s. oben)

Was bedeutet das alles? Und ist es nicht gerecht, ausgebliebene Rentenkürzungen nachzuholen, wenn sich Renten wie die Löhne entwickeln sollen? Das ist es in der Tat. Und es würde bedeuten, dass die Renten in diesem Jahr (2022) um rund fünf Prozent steigen müssten. Ohne die von der Koalition angestrebte Aktivierung des Nachholfaktors wären es 5,3 Prozent. Doch dieser Blog-Beitrag wäre nicht nötig, wenn es so einfach wäre – stattdessen wird die kommende Anpassung Gegenstand politischer Auseinandersetzungen um unterschiedliche Ziele und Entscheidungen werden.

Was ist „das Rentenniveau“?

Das Rentenniveau (genauer: das Sicherungsniveau vor Steuern) misst das Verhältnis zwischen einer „verfügbaren Standardrente“ und dem „verfügbaren Durchschnittslohn“. Ein im Zeitverlauf stabiles Rentenniveau bedeutet damit, dass sich Renten und Löhne (jeweils gemessen nach Abzug der Sozialausgaben und vor Abzug der Steuern) gleich entwickeln: Die Renten nach Sozialabgaben steigen dann ebenso stark wie die Löhne nach Sozialabgaben. Ob eine Rente im Einzelfall ausreicht oder sogar als großzügig empfunden wird, hängt aber nicht nur vom allgemeinen Leistungsniveau ab, sondern auch von der individuellen Erwerbskarriere und anderen Faktoren wie etwa Erziehungsphasen.
 

  Im Detail: Die „verfügbare Standardrente“ entspricht einer abschlagsfreien Rente nach 45 Jahren Beitragszahlung auf der Grundlage des Durchschnittsentgelts, abzüglich der durchschnittlichen Sozialbeiträge auf Renten. Für das „verfügbare Durchschnittsentgelt“ wird jeweils der Vorjahreswert mit dem Lohnfaktor (aus der Rentenanpassungsformel; s.u.) erhöht und zusätzlich um Änderungen der Sozialabgaben für Beschäftigte korrigiert. Teilt man nun die verfügbare Standardrente durch das verfügbare Durchschnittsentgelt, ergibt sich das Rentenniveau. Dieser Wert liegt seit dem 1. Juli 2021 bei 49,4 Prozent bzw. bei 48,3 Prozent ohne statistischen Sondereffekt (dazu später mehr) und damit über 48 Prozent.

 

Wie berechnet sich die Rentenerhöhung?

Wie stark die Renten jährlich steigen, ist längst ein komplexer Mechanismus aus aufeinander folgenden Formeln und Regeln. Zunächst wird anhand der Rentenanpassungsformel die mögliche Rentenerhöhung berechnet. Danach greifen gegebenenfalls die Schutzklausel (auch „Rentengarantie“ genannt) oder der Ausgleichsfaktor (auch „Nachholfaktor“ genannt). Im Ergebnis wird festgelegt, um wie viel Prozent die Renten steigen sollen. Seit 2019 gilt zusätzlich, dass das Rentenniveau mindestens 48 Prozent betragen muss – das ist das so genannte Mindestrentenniveau. Im Gegenzug wird seit 2019 der Ausgleichsfaktor nicht angewendet. Ein gegenwärtig offener Punkt ist, wie diese Formeln und Regeln ineinandergreifen sollen, wenn nun auch der Ausgleichsfaktor wieder gelten soll.

Die Rentenanpassungsformel

Die Renten folgen nicht einfach „den Löhnen“; die Rentenanpassungsformel umfasst den „Lohnfaktor“ (dazu unten mehr) und zusätzlich noch zwei „Dämpfungsfaktoren“ (Beitragssatzfaktor und Nachhaltigkeitsfaktor). Die „Dämpfungsfaktoren“ sollen dafür sorgen, dass der Beitragssatz den politisch erwünschten Wert nicht übersteigt, indem das Rentenniveau entsprechend gesenkt wird. Der Beitragssatzfaktor erfasst den folgenden Sachverhalt: Steigt der Beitragssatz zur Rentenversicherung, mindert das die folgende Rentenerhöhung. Der Nachhaltigkeitsfaktor ist komplexer, berücksichtigt aber im Prinzip das Verhältnis von Beitragszahlenden zu Rentenbeziehenden – gemessen an der fiktiv errechneten Zahl der rechnerischen Durchschnittsverdiener (Äquivalenzbeitragszahler) und der rechnerischen Standardrentner (Äquivalenzrentner). Ausgangspunkt sind damit beim Nachhaltigkeitsfaktor nicht Personen, sondern die Summe der Beitragseinnahmen und Rentenausgaben. Im Ergebnis gilt: Auch wenn die Renten steigen – die Löhne steigen tendenziell schneller.

Die „Rentengarantie“ und der „Nachholfaktor“

Sowohl die Entwicklung der Löhne wie auch die Dämpfungsfaktoren können rechnerisch dazu führen, dass der Rentenwert gesenkt werden müsste. Schon mit Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors zum 1.8.2004 wurde die Schutzklausel eingeführt. Diese sah vor, dass Renten aufgrund der Wirkung der Dämpfungsfaktoren nicht sinken dürfen. Eine Rentenkürzung infolge sinkender Löhne war damals aber noch sehr wohl möglich; die Dämpfungsfaktoren durften bei einer negativen Lohnentwicklung die Rente nur nicht noch zusätzlich senken.

Im Jahr 2005 verhinderte die Schutzklausel, dass die Dämpfungsfaktoren zur Kürzung der Renten führten – in den Jahren 2004 und 2006 wurde die Rentenanpassung jeweils unabhängig von den generellen Regelungen durch ein eigenes Gesetz ausgesetzt. Die Rentenausgaben wurden wegen der Schutzklausel gegenüber den Löhnen daher nicht so gedämpft wie politisch erhofft. Der Beitragssatz drohte deswegen über die politische Zielmarke von 20 Prozent zu steigen. Als Reaktion führte der Bundestag im Jahr 2007 zusammen mit der „Rente mit 67“ auch den Ausgleichsfaktor ein, der die politisch eigentlich vorgesehenen Rentenkürzungen aus den Jahren 2004 bis 2006 nachholen sollte, indem künftige Rentenerhöhungen gekürzt würden. Ziel war, dass die Renten langsamer steigen und damit die Rentenausgaben geringer ausfallen, um das Beitragssatzziel wieder zu erreichen.

Der Ausgleichsfaktor sollte also die Rentenkürzungen nachholen, die wegen der Schutzklausel ausgeblieben waren. Besteht Ausgleichsbedarf und ergibt die Rentenanpassungsformel eine Rentenerhöhung, wird die Rentenerhöhung um den Ausgleichsbedarf gekürzt; dadurch darf sie aber maximal halbiert werden. Ist der Ausgleichsbedarf größer als die Hälfte der rechnerischen Rentenerhöhung, bleibt ein Rest an Ausgleichsbedarf übrig, der über die folgenden Jahre verteilt nachgeholt wird. Ziel war 2007 also, dass die Dämpfungsfaktoren voll wirken würden und das Rentenniveau entsprechend sinken sollte.

Im Jahr 2009 wurde erwartet, dass die Löhne aufgrund der Finanzmarktkrise gesunken seien und die Renten gekürzt werden könnten. Daher wurde die Schutzklausel zur „Rentengarantie“ erweitert. Seitdem dürfen die Renten (brutto) generell nicht mehr sinken, auch nicht bei sinkenden Löhnen. Die „Rentengarantie“ verhindert eine akute Kürzung, eine Rentensteigerung in späteren Jahren wird aber durch den Ausgleichsfaktor eingeschränkt – und damit werden die Renten über die Zeit letztendlich doch gekürzt. Der bestehende Ausgleichsfaktor gilt automatisch auch für die erweiterte Schutzklausel („Rentengarantie“), wurde also nicht dafür eingeführt oder erweitert. Politisch diente der bestehende Ausgleichsfaktor so als Begründung, warum die Rentengarantie mittelfristig kein Problem sei: Eine Rentenkürzung ist ja nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben.

Das „Mindestrentenniveau“

Im Jahr 2018 wurde schließlich die sogenannte „doppelte Haltelinie“ eingeführt. Der Beitragssatz darf bis 2025 nicht über 20 Prozent steigen und das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent fallen. Das Mindestrentenniveau bedeutet, dass die Renten mittelfristig wenigstens wie die Löhne steigen sollen. Dazu wird der Rentenwert entsprechend Rentenanpassungsformel sowie Schutzklausel und Ausgleichsbedarf – wie geschildert – berechnet. Ergibt sich danach rechnerisch ein Rentenniveau von unter 48,0 Prozent, dann wird der Rentenwert (brutto) so festgelegt, dass die verfügbare Standardrente (nach Sozialabgaben) 48,0 Prozent des verfügbaren Durchschnittsentgelts beträgt – in diesem Fall wird also nicht bestimmt, um wie viel Prozent die Rente steigt, sondern die notwendige Höhe des Rentenwerts in Euro und Cent ermittelt.

Damit verfolgt das Mindestrentenniveau ein anderes – sogar entgegengesetztes – Ziel als der Ausgleichsfaktor, welcher ja insbesondere die Niveausenkung durch die Dämpfungsfaktoren sicherstellen soll. Folgerichtig sollte der Ausgleichsfaktor, solange die Haltelinie gilt, keine Kürzungen der Rentenerhöhungen bewirken. Daher wurde er bis 2025 ausgesetzt. Dies ist auch nötig, damit das Rentenniveau nach 2025 nicht doch wieder um die Dämpfungsfaktoren gekürzt wird – also ausgebliebene Rentenkürzungen sich „aufstauen“ und dann nachgeholt werden. Sonst wäre das stabile Rentenniveau zu einem späteren Zeitpunkt wieder einkassiert worden. Die künftigen Generationen hätten dann ein Rentenniveau gehabt, welches so niedrig wie ohne Mindestrentenniveau wäre.

„Reaktivierung des Nachholfaktors“

Nun hat die Anwendung des Ausgleichsfaktors den Weg in den Koalitionsvertrag gefunden – von den drei Koalitionspartnern hatte dies vor der Wahl nur die FDP gefordert. „So stellen wir sicher, dass sich Renten und Löhne im Zuge der Coronakrise insgesamt im Gleichklang entwickeln“, begründet die Koalition diese Forderung. Die Begründung stimmt aber nur auf den ersten Blick mit der Forderung überein. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass beides nicht zueinander passt, da das Nebeneinander verschiedener Anpassungsmechanismen zu Widersprüchen und Problemen führt.
 

 

Die Reaktivierung des Nachholfaktors entspricht durchaus auch den Vorstellungen von arbeitgebernahen Organisationen. So präsentiert die INSM medienwirksam einen von Wissenschaftler:innen unterzeichneten Appell: „Wir sind für angemessene Rentenerhöhungen“. Aus Gerechtigkeitsgründen sei die Reaktivierung des Nachholfaktors geboten, damit „die Renten nicht stärker steigen als die Löhne“. Völlig offen bleibt, was hier unter „angemessene[n] Rentenerhöhungen“ verstanden werden soll. So lässt sich einer der Unterzeichner zitieren mit: „Die Rentengarantie hat den gesetzlichen Rentnern in diesem Jahr eine Nullrunde beschert. Aufgrund von Kurzarbeit, höherer Arbeitslosigkeit und Nullrunden für manchen Beitragszahler wäre aber eigentlich ein Minus von 3,25 Prozent fällig gewesen.“ Und eine weitere: „Der Nachholfaktor stellt sicher, dass die Renten der langfristigen Lohnentwicklung folgen und nicht weniger, aber auch nicht mehr steigen“ (Zitate INSM).

So wird nahegelegt, es gäbe einen „Nachholbedarf“ von minus 3,25 Prozent, der aufgrund der Lohnentwicklung des Jahres 2020 aufgelaufen sei – und gleichzeitig drohe mit knapp über fünf Prozent eine der höchsten Rentensteigerungen der Nachkriegsgeschichte. Mit anderen Worten: Die Rentner:innen würden bevorzugt behandelt – die INSM beklagt, dass „die Rentengarantie ohne das Zusammenspiel mit dem Nachholfaktor […] zu einer Entkopplung von Renten und Löhnen“ führe. Diese Entkopplung entsprach allerdings bis 2018 der Gesetzeslage und wird ihr nach geltendem Recht ab 2025 auch wieder entsprechen, nur eben dass die Renten hinter den Löhnen zurückbleiben.

 

Nachholbedarf beträgt 0,26 Prozent

Tatsächlich ergab die Rentenanpassungsformel für 2021 rechnerisch ein Minus von 3,25 Prozent. Die allgemeine Schutzklausel hat diese Kürzung der Anpassung verhindert. Nach geltender Rechtslage ergab sich dadurch jedoch kein Nachholbedarf, denn der Nachholfaktor ist ja ausgesetzt.

Würden die Koalitionäre den Nachholfaktor wieder aktivieren, ergäbe sich für 2022 also zunächst gar keine Kürzung. Will die Koalition die Rentenerhöhung im Jahr 2022 bewusst mindern, müsste sie zunächst klären, um wie viel Prozent sie diese kürzen und wie sie dies begründen will. Von der INSM nahegelegt – und sicherlich auch erwünscht – wären es 3,25 Prozent, wie sie aus der Anpassungsformel folgen. Dies käme einer massiven Rentenkürzung gleich. Denn die 3,25 Prozent ergeben sich fast vollständig aus den Dämpfungsfaktoren und einem statistischen Sondereffekt.

Ginge es tatsächlich um das Prinzip, dass die Renten wie die Löhne steigen, wäre ein Ausgleichsbedarf von minus 0,26 Prozent diskutabel. Der Unterschied zu den minus 3,25 Prozent wird im Folgenden erläutert. Die Renten stiegen dann im Jahr 2022 um ungefähr 5 Prozent im Westen und 5,6 Prozent im Osten. Soll das Prinzip „Die Renten steigen wie die Löhne“ wirklich gelten, müssten aber auch die Dämpfungsfaktoren ausgesetzt werden, sonst blieben die Renten weiter hinter der Lohnentwicklung zurück. Denn schon ohne Nachholfaktor werden die Renten bis 2025 insgesamt etwas langsamer als die Löhne steigen.

Statistischer Sondereffekt und Dämpfungsfaktoren dürfen nicht nachgeholt werden

Wie kommt die vermeintlich nachzuholende Rentenkürzung von 3,25 Prozent zustande, die nun nachgeholt werden soll? In der rechnerischen Rentenkürzung von 3,25 Prozent sind neben dem tatsächlich Lohnrückgang um 0,28 Prozent im Jahr 2020 noch ein statistischer Sondereffekt aus dem Jahr 2019 von rund minus knapp 2,1 Prozentpunkten und der Nachhaltigkeitsfaktor (minus 0,9 Prozentpunkte) enthalten (Quelle: DRV, siehe Folie 5). Würden die zusammen 3,25 Prozent nachgeholt, würden die Renten also nicht nur um den Lohnrückgang, sondern um einen Dämpfungsfaktor und einen statistischen Effekt (fiktiver Lohnrückgang) gekürzt. Die genannte Forderung zielt also darauf, dass die Renten um etwa drei Prozent langsamer steigen sollen als die Löhne! Die Begründung für die Reaktivierung des Nachholfaktors in dieser Form passt also offensichtlich nicht zu der vorgetragenen Forderung, dass die Renten den Löhnen folgen sollen.

Der Statistikeffekt im Lohnfaktor

Wie erklärt sich der Statistikeffekt? In der Rentenanpassungsformel spielt nicht nur die Lohnerhöhung im Jahr vor der Rentenerhöhung eine Rolle. Auch die Lohnentwicklung zwei Jahre vorher wird berücksichtigt. Denn zum Zeitpunkt der Rentenanpassung zum 1. Juli jedes Jahres liegen die Daten für das Vorjahr noch nicht vor, die eigentlich zur Anpassung der Renten entsprechend der Lohnentwicklung notwendig sind. Stattdessen werden vorläufig für das Vorjahr Daten zur allgemeinen Lohnentwicklung genommen (Daten aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – VGR – des Statistischen Bundesamts). Gleichzeitig wird der bei der Rentenerhöhung im Jahr zuvor vorläufig verwendete Wert für das zwei Jahre zurückliegende Jahr mit Hilfe der richtigen Daten (die Entwicklung der beitragspflichtigen Entgelte laut Rentenversicherung) „korrigiert“.

Konkret: Bei der Rentenerhöhung 2021 wurde vorläufig auf die Löhne der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) für das Jahr 2020 zurückgegriffen. Diese waren um 0,28 Prozent gesunken. In die Berechnung fließt außerdem als Korrektur die Differenz zwischen dem bei der Rentenanpassung im Jahr 2020 vorläufig verwendeten Wert für 2019 (VGR-Löhne: 2,95 Prozent) und dem nun vorliegenden, zu verwendenden „richtigen“ Wert (0,8 Prozent) ein. Diese Korrektur kürzt die Rentenanpassung im Jahr 2021 um zusätzliche (minus) 2,1 Prozent. Zusammen mit der (vorläufigen) Lohnentwicklung von minus 0,28 Prozent aus dem Jahr 2020 ergibt sich so ein Minus von rund 2,4 Prozent.

An diesem Vorgehen ist eigentlich nichts auszusetzen. Aber der „richtige“ Wert für das Jahr 2019 ist nur aufgrund eines statistischen Sondereffekts langsamer gestiegen als der 2020 vorläufig verwendete Wert. Dieser Sondereffekt hat nichts mit der Lohnentwicklung zu tun. Seit 2019 werden nämlich knapp eine Million Beschäftigte – größtenteils Rentner:innen mit einem Minijob – zusätzlich in den Durchschnitt einbezogen, die vorher in der Rechnung nicht berücksichtigt wurden. Das hat den durchschnittlichen Lohn um ungefähr zwei Prozent gesenkt (Quelle: Deutscher Bundestag, S. 29/Frage 38). Werden die Minijobber:innen nicht in die Berechnung einbezogen, sind die Löhne um ungefähr 2,9 Prozent und damit praktisch so stark wie die VGR-Löhne gestiegen. Würden die Minijobber:innen auch bei den Löhnen für 2018 schon mit einberechnet, ergäbe sich ebenfalls eine Erhöhung von rund 2,9 Prozent. Das Problem mit der Korrektur im Lohnfaktor – der Abgleich der VGR-Werte mit den „richtigen“ Werten für 2019 – entsteht erst dadurch, dass Löhne mit und Löhne ohne die Minijobber:innen  miteinander verglichen werden. Wird der Korrekturfaktor ohne den Sondereffekt berechnet, liegt der Lohnfaktor bei minus 0,26 Prozent – statt den offiziellen minus 2,4 Prozent.

Im Grunde ist die Lösung des Problems einfach: Bei der Verwendung von Daten ist es wichtig, dass Zeitreihenbrüche klar gekennzeichnet werden und darauf geachtet wird, jeweils nur die passenden Daten miteinander ins Verhältnis zu setzen. In diesem Fall ist es bei der Berechnung zu dem Problem gekommen, weil vom Gesetz die Verwendung unterschiedlich ermittelter Daten vorgegeben wird. Infolgedessen wurde die Lohnentwicklung für das Jahr 2019 deutlich zu niedrig ausgewiesen – ohne dass die Löhne tatsächlich geringer ausgefallen sind. Der Bundestag hat diese absehbar fehlerhafte Verwendung jedoch nicht korrigiert. Die rechnerische Rentenminderung aus der Anpassungsformel ist dadurch mit 3,25 statt 1,17 Prozent fast dreimal so hoch ausgefallen – ein Ergebnis, das die nun geführte Debatte um den vermeintlichen Ausgleichsbedarf vermutlich befeuert hat.

Auswirkungen auf das (Mindest-)Rentenniveau

Der Statistikeffekt beim Lohnfaktor hat auch Auswirkungen auf das Rentenniveau. Denn das zu seiner Berechnung verwendete verfügbare Entgelt wird mit diesem Lohnfaktor fortgeschrieben. Da der Lohnfaktor aber die statistische Verzerrung um rund zwei Prozent beinhaltet, werden die verfügbaren Löhne seit 2021 um rund zwei Prozent zu niedrig ausgewiesen. Dadurch fällt das offiziell ausgewiesene Rentenniveau aber um rund zwei Prozent höher aus, als es der eigentlichen Lohnentwicklung entspricht. Dies hat die Bundesregierung im Rentenversicherungsbericht 2020 wie 2021 auch offengelegt (Quelle: BMAS, S. 28, Übersicht B8).

Das Mindestrentenniveau liegt gesetzlich bei mindestens 48 Prozent. Durch den Statistikeffekt verliert es jedoch an Wert, da das Niveau ja rechnerisch höher ausgewiesen wird, als es ist. Die Renten dürften daher, bezogen auf die tatsächliche Lohnentwicklung, real rund zwei Prozent gegenüber dem 2018 versprochenen Niveau absinken. Daher ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass die Koalition den Wert des Rentenniveaus wieder herstellen will, indem sie den statistischen Sondereffekt herausrechnen will.

Kollision von Ausgleichsbedarf und Mindestrentenniveau

Wird nun für 2022 der Ausgleichsfaktor wieder aktiviert und ein Ausgleichsbedarf festgelegt, gerät dieser tendenziell in Konflikt mit dem Mindestrentenniveau – insbesondere, wenn es um den statistischen Sondereffekt bereinigt ist. Wenn die Rentenerhöhung 2022 durch die Reaktivierung des Nachholfaktors mit einem politisch festgelegten Nachholbedarf gekürzt würde, dürfte das Rentenniveau dennoch nicht unter 48 Prozent sinken. Wird der statistische Sondereffekt beim Rentenniveau herausgerechnet, liegt das Rentenniveau im Jahr 2021 bei 48,3 Prozent statt der offiziellen 49,4 Prozent.

Würden die Renten im Jahr 2022 um gut fünf Prozent steigen, läge das um die Statistikverzerrung bereinigte Rentenniveau bei ungefähr 48,4 Prozent. Kürzt der (noch festzulegende) Ausgleichsbedarf aber die Rentenerhöhung, dann fällt das Rentenniveau geringer aus. Wird für den Ausgleichsfaktor mehr als die 0,26 Prozent Rückgang aus dem Lohnfaktor festgelegt, sinkt das Rentenniveau gegenüber 2021. Würde die Rentenerhöhung im Jahr 2022 um mehr als rund 0,7 Prozentpunkte gekürzt, wird das Mindestrentenniveau unterschritten. Der Ausgleichsbedarf wäre dann nachgeholt, aber der Rentenwert würde wegen des Mindestrentenniveau dennoch höher festgelegt werden, als es der Ausgleichsfaktor vorsähe. Hier kollidieren die Ziele des Mindestrentenniveaus (Renten steigen mindestens wie die Löhne) mit denen des Ausgleichsfaktors (die Renten steigen langsamer als die Löhne). Hinzu kommt die Frage, wie dieser Zielkonflikt aufgelöst werden soll, wenn das Mindestrentenniveau dauerhaft auch über 2025 hinaus gilt, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart ist.

Streit um sozialpolitische Ziele absehbar

Zentral für die kommende Debatte ist damit zweierlei: erstens die Frage, wie die einzelnen Reformschritte ineinander verschränkt werden, und zweitens der Umfang der Revision. Zu erstens ist es wegen der Niveausicherungsklausel zentral, ob die Neuberechnung des Rentenniveaus zeitgleich (oder sogar vor) der Anwendung des Nachholfaktors in Kraft gesetzt wird und ob die Niveausicherungsklausel nicht erfolgte Kürzungen dauerhaft „löscht“ oder sich im Gegenteil ein Nachholbedarf kumuliert. Für die Rentenanpassung im Jahr 2022 ist zweitens hoch relevant, wie ernst die Revision des statistischen Effekts genommen wird. Denn letztlich ist der Rückgang der relevanten Löhne 2019 in diesem Umfang ein Artefakt – eine ausbleibende Korrektur würde das Ziel des Gleichlaufs von Löhnen und Renten untergraben. Hier muss die Politik eine bewusste Entscheidung treffen, da für die Rentenanpassung 2021 kein Ausgleichsbedarf ermittelt wurde – der Nachholfaktor war zur Rentenanpassung 2021 schließlich ausgesetzt.

Ebenfalls politisch zu diskutieren und zu entscheiden wäre, ob es gewollt ist, auch die Rentenkürzung durch den Nachhaltigkeitsfaktor nachzuholen. Nimmt die Koalition ihr Vorhaben ernst und geht es um den Gleichlauf von Renten und Löhnen, sollten weder der statistische Sondereffekt noch der Nachhaltigkeitsfaktor die Renten kürzen. Dann würde nur die krisenbedingte Lohnentwicklung aus dem Jahr 2020 wirken und für 2022 wäre keine Kollision mit dem Mindestrentenniveau abzusehen. Die Renten stiegen dann im Jahr 2022 wie die Löhne, wie es auch der Koalitionsvertrag fordert – und der Kürzungsbedarf würde sich mit 0,26 Prozent an der echten Lohnentwicklung orientieren.

Dazu ist abschließend anzumerken: Im Koalitionsvertrag steckt eine große Chance für eine Bereinigung in der Rentenpolitik. Denn wie die Ausführungen zeigen, sind hoch relevante Entwicklungen in der Rentenpolitik von gesetzlichen und technischen Details abhängig, die für interessierte Bürger:innen kaum noch nachvollziehbar sind. Wird das Ziel eines dauerhaft stabilen Rentenniveaus ernst genommen, dann sollte die Rentenanpassungsformel um die beiden Dämpfungsfaktoren bereinigt werden. Denn ein stabiles Rentenniveau bedeutet: Die Renten nach Sozialbeiträgen steigen wie die Löhne nach Sozialbeiträgen und die politischen Dämpfungsfaktoren [1] werden aus der Anpassungsformel gestrichen. Und die Renten brauchen eine rationale Datenbasis. Wenn das gegeben ist, dann ließe sich auch produktiv über das Zusammenspiel von Schutzklausel (Rentengarantie) und Nachholbedarf diskutieren: dass es nämlich sehr wohl richtig ist, dass die Renten nicht sinken, wenn die Löhne mal sinken – die Rentner:innen aber dann die Lohnkürzungen durch nachlaufend entsprechend geringere Rentensteigerungen mittragen müssen.


[1]  Idealerweise würde die Rentenerhöhung zusätzlich noch die Besteuerung berücksichtigen und im Grunde den Nettolöhnen folgen. Dies ist aber aus technischen Gründen der Steuerregeln sehr viel schwieriger zu gestalten.

 

Zurück zum WSI-Blog Work on Progress

Autoren

Ingo Schäfer ist Leiter des Referats Alterssicherung und Rehabilitation beim DGB.

Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen