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Kurt Vandaele, 14.07.2021: Corona-Zulage im Gesundheits- und Pflegebereich: kaum mehr als Kosmetik

Eine ‚Gefahrenzulage‘ als Bestechungsgeld wird die Unzufriedenheit der Beschäftigten in den Gesundheits- und Pflegeberufen nicht beseitigen. Es geht nicht nur um die Pandemie und die Löhne, sondern um die Frage der menschlichen Würde.

Als sich die Pandemie im vergangenen Jahr in Europa immer schneller ausbreitete, haben mehrere Regierungen den an vorderster Front arbeitenden Gesundheits- und Pflegekräften „Gefahrenzulagen“ als Bonuszahlungen versprochen und diese Zusage auch teilweise eingehalten. Damit werden jedoch nur die Symptome behandelt, nicht aber die zugrundeliegenden Probleme. Bonuszahlungen und selbst höhere Löhne können bei weitem nicht davon ablenken, dass es dem Personal in den Gesundheits- und Pflegeberufen um weit mehr geht als um eine angemessene Bezahlung.

Die nicht unmittelbar mit der eigentlichen Pflege verbundenen Probleme wie unzureichende finanzielle Ausstattung, Vermarktlichung und Privatisierung, der „Brain Drain“ und Personalknappheit sind seit langem bekannt. Bleiben sie ungelöst, dürften neue Arbeitskonflikte in diesem Sektor in einem postpandemischen Europa kaum zu vermeiden sein. Eine Analyse der Dynamik und Muster früherer Auseinandersetzungen macht dies deutlich.

Öffentliche Unterstützung

Dass es in diesem Sektor rumort, ist keine neue Entwicklung. Das mag auf den ersten Blick überraschen: Allgemein wird davon ausgegangen, dass Pflege mit „Herzblut“ geleistet wird, und es wird erwartet, dass die Pflegekräfte ihre Arbeit als intrinsisch lohnend wahrnehmen. Darüber hinaus könnten die Loyalität des Pflegepersonals gegenüber den ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen und ihre Berufsethik Arbeitskampfmaßnahmen für sie moralisch fragwürdig machen.

Wird Pflegetätigkeit aber als „Arbeit“ und nicht als „moralische Verpflichtung“ anerkannt, kann dies Bündnisse zwischen Pflegepersonal und Pflegeempfänger:innen und ihren Angehörigen befördern. Allgemeine Sympathie für das Engagement der Pflegekräfte öffnet ebenfalls den Weg zur Mobilisierung öffentlicher Unterstützung und der Bildung von Allianzen mit der Zivilgesellschaft und progressiven Bewegungen.

Streiks im Gesundheits- und Sozialwesen sind selten, entwickeln dann aber eine erhebliche Brisanz. Generell entspricht das Streikverhalten in diesem Sektor weitgehend dem Streikmuster für das jeweilige Land – es gibt eine höhere Streikbereitschaft, wo es überdurchschnittliche viele Streiks gibt, und eine geringe Bereitschaft in Ländern, in denen die Streikneigung nicht besonders ausgeprägt ist. In diesen letztgenannten Ländern wirken Arbeitskampfmaßnahmen im Bereich Gesundheit und Soziales (und auch im Bildungswesen) allerdings wie ein Weckruf an die allzu ruhige Arbeiterbewegung und werden fast zu einem Synonym für gewerkschaftliche Protestaktionen.

Das Repertoire der Arbeitskampfmaßnahmen, über das die Arbeitskräfte in den Gesundheits- und Pflegeberufen verfügen, ist vielfältig: Es geht über Streiks und Dienst nach Vorschrift hinaus und umfasst auch Demonstrationen, symbolische Proteste und Kündigungswellen. All dies geschieht im Lichte des bereits erwähnten „moralischen Dilemmas“ und des Versuchs der Beschäftigten, die Auswirkungen auf die Pflegeempfänger:innen möglichst gering zu halten, während die Möglichkeiten für Arbeitskampfmaßnahmen ohnehin oft eingeschränkt sind, weil die Pflegetätigkeit in den meisten Ländern als „essenzielle Dienstleistung“ angesehen wird und ein Notdienst immer gewährleistet sein muss.

Zudem sind die Forderungen des Gesundheits- und Pflegepersonals vielfältig (siehe Diagramm). Probleme wie zu geringe finanzielle Ausstattung, Personalmangel und Stress sind auf die Vermarktlichung des Sektors oder auf die Austeritätspolitik zurückzuführen, die Regierungen nach der Finanzkrise des Kapitalismus durchgesetzt haben, ohne dafür einen Masterplan zu haben. Die Tatsache, dass zahlreiche Pflegeberufe frauendominiert sind, leistet nicht nur einen Beitrag zur „Feminisierung“ von Arbeitskampfmaßnahmen, sondern bringt auch das geschlechtsspezifische Lohngefälle als Missstand ins Spiel, wobei die Kritik der Beschäftigten nicht allein auf die Entlohnung beschränkt ist.

Während der Pandemie gab es eine vorübergehende Einschränkung des Streikrechts der Beschäftigten in „systemrelevanten“ Berufen in Ländern wie Portugal und Rumänien. Das „moralische Dilemma“ der Pflegekräfte hat sich vor dem Hintergrund der beruflichen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und dem Schutz der öffentlichen Gesundheit noch weiter zugespitzt. Die Proteste der Arbeitnehmer:innen sind in den mittel- und osteuropäischen Ländern relativ moderat ausgefallen.

Trotzdem kann die Pandemie generell nicht als Zeichen der Friedfertigkeit der Arbeiterbewegung angesehen werden. Streiks oder die Androhung von Streiks gibt es nach wie vor, und Demonstrationen und Kundgebungen haben in mehreren Ländern stattgefunden. Ihre relative Bedeutung mag zwar abgenommen haben, dies trifft aber nicht auf symbolische Proteste zu. Online-Kampagnen mit Gesichtern von Pflegekräften auf Fotos und in Videos und mit Slogans, die auf wichtige Gebäude im öffentlichen Raum projiziert wurden, sind eine kleine, gleichwohl innovative Ergänzung des Aktionsrepertoires.

Neue Agenda

Im Auge des COVID-19-Hurrikans hat sich die Agenda teilweise verlagert, allerdings nur vorübergehend. Die Pandemie hat den seit langem bestehenden Forderungen des Pflegepersonals mehr Nachdruck verliehen, während die akute Kritik an den Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen zugleich besonders in den Vordergrund gerückt ist.

Es überrascht nicht, dass es dabei besonders um Fragen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes wie fehlende oder unzureichende persönliche Schutzausrüstung und die Nachfrage nach psychologischer Unterstützung in Zeiten mentaler Überlastung geht. Die große Zahl von Überstunden hat gezeigt, wie hoch die Personalfluktuation und wie permanent der Personalmangel sind, während die zunehmende Arbeitsbelastung mit atypischen Arbeitsverträgen, restriktiver Handhabung von Krankschreibungen und fehlender Work-Life-Balance assoziiert wird – zusätzlich zu den in zahlreichen Fällen bereits prekären Arbeitsbedingungen.

Die Reaktionen von Arbeitgeberverbänden und Regierungen waren ganz unterschiedlich. In mehreren Ländern haben Tarifverhandlungen im privaten oder öffentlichen Pflegesektor zu Tarifverträgen mit höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen geführt. Einige Regierungen haben (wenn auch in unterschiedlichem Maße) schnell zusätzliche Finanzmittel zu diesem Zweck oder die Einstellung von mehr Personal vereinbart oder in Aussicht gestellt.

Vor allem aber sind Regierungen dazu übergegangen, einmalige COVID-19-Bonuszahlungen als Anerkennung des „beispiellosen Einsatzes“ der Pflegekräfte während der Pandemie zu leisten. Zwar kommen die Regierungen damit einer unmittelbaren Forderung nach, aber diese Bonuszahlungen sind kaum mehr als Kosmetik und keine Antwort auf lange bestehende Missstände und Ansprüche. Dazu kommt, dass Bonuszahlungen mit ihrem bittersüßen Beigeschmack u. U. das Gegenteil der gewünschten Wirkung haben und demotivierend sein können.

Politische Möglichkeiten

Die Pandemie hat politische Möglichkeiten im Hinblick auf finanzielle Kapazitäten und gewerkschaftliche Forderungen im Gesundheits- und Sozialwesen eröffnet. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob dies ein historischer Wendepunkt in der Organisation und Erbringung von Pflegeleistungen bei gleichzeitiger Abkehr von den zunehmend neoliberalen Vorstellungen der Branche sein wird. Werden sich die heutigen interventionistischen Regierungen von der entfesselten Vermarktlichung und Privatisierung abwenden und zum Konzept einer öffentlichen, nicht profitorientierten Versorgung zurückkehren?

In mehreren Fällen waren Streiks oder Streikandrohungen oder andere Formen von Arbeitskampfmaßnahmen erforderlich, um Druck gegenüber Regierungen aufzubauen oder aufrechtzuerhalten. Dies wird sich auch einer Postpandemie-Welt, die sich mit den Folgen von „Long-Covid“ auseinandersetzen muss, nicht ändern. Arbeitskampfmaßnahmen gewerkschaftlich organisierter Pflegekräfte können ein Beispiel für andere („systemrelevante“ oder „an vorderster Front“ eingesetzte) Beschäftigte in anderen Berufen in anstehenden Auseinandersetzungen setzen und den neoliberalen Diskurs weiter delegitimieren.

Viel hängt jedoch von der Kraft und der Energie einer ideenreichen, zukunftsorientierten und reaktionsstarken gewerkschaftlichen Führung ab, die in der Lage ist, Unzufriedenheit und Proteste der Beschäftigten in den Gesundheits- und Pflegeberufen mit der Mobilisierung von Arbeitnehmer:innen für Kämpfe in anderen Sektoren zu verbinden.
 

Die englische Fassung dieses Beitrags ist auf socialeurope.eu erschienen.

 

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Autor

Kurt Vandaele ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) in Brüssel.

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