zurück

Bettina Wagner, 13.11.2020: Corona und die deutsche Fleischindustrie – seit langem überfällige Reformen?

Die grundlegende Überarbeitung des Werkvertragsrechts und der Arbeitnehmerüberlassung ist seit langem überfällig – nicht nur mit Blick auf die Fleischindustrie.

Ende August wurde das „Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz“ als Lösung für die durch die Corona-Pandemie ins Augenmerk gerückten Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft in den Bundestag eingebracht. Im September wurde das Gesetz im Ausschuss beraten. Die abschließende Behandlung Ende Oktober wurde aber von der Tagesordnung genommen – in den Medien wird berichtet, dass die Unions-Fraktion noch Gesprächsbedarf habe. Mit dem Gesetz sollen die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie verbessert werden, unter anderem sollen Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischindustrie verboten werden, was auf den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber trifft. Die Regelungen sind nötig, der Ausgangs des Konflikts ist noch offen. Immerhin wurde durch das Gesetzgebungsverfahren ein seit Jahrzehnten etabliertes System zum ersten Mal offiziell „anerkannt“, das in Medien und Öffentlichkeit durchaus bekannt war und durch die Corona-Krise ein weiteres Mal ins den Blickfeld gelangt ist.

Die Probleme waren bekannt!

Die Empörung über die Arbeitsbedingungen ist aus wissenschaftlicher wie auch aus gewerkschaftlicher Sicht verwunderlich. Medienberichte über die schlechten Arbeits- und Unterkunftsbedingungen und wissenschaftliche Analysen zu den institutionellen Rahmenbedingungen der deutschen Fleischindustrie weisen bereits seit Jahren auf die Probleme der Beschäftigten hin. Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales spielen ausländische Beschäftigte aus den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine zentrale und teilweise existenzsichernde Rolle in der etwa 200.000 Beschäftigten starken Fleischwirtschaft. Die genaue Anzahl der ausländischen Beschäftigten ist jedoch nicht bekannt, da Werkverträge, Selbstständigkeit und entsandte Beschäftigung neben regulärer Beschäftigung mittlerweile Branchenpraxis sind und die Fleischindustrie zu einer deregulierten, größtenteils gewerkschafts- und betriebsratsfreien Zone geworden ist. Die Akteure in der Branche profitieren seit Jahrzehnten von den mobilen Beschäftigten aus Rumänien, Bulgarien und Polen, die aufgrund ihrer Beschäftigung bei Werkvertragsfirmen in Bezug auf Lohn, Arbeitsschutz und Unterkunft systematisch benachteiligt werden.

Ein Verbot von Werkverträgen im Kerngeschäft ab dem 01.01.2021 wäre in der Tat eine konsequente Maßnahme. Aber es bleibt abzuwarten, wie das Gesetz letztendlich aussehen wird und wie genau zum Beispiel das Kerngeschäft definiert werden wird. Werden die Regeln auch für das Verpacken und Weiterverarbeiten gelten oder bietet das Gesetz hier Schlupflöcher? Werden nur Werkverträge verboten oder auch die Leiharbeit? Nicht vergessen werden darf auch: Es ist sowohl aus deutscher als auch aus europarechtlicher Perspektive fraglich, ob es zulässig ist, in einer Branche Werkverträge vollständig zu verbieten, während sie in anderen Zweigen zulässig bleiben. Auch die Branchen Logistik und Spedition, in denen Werkverträge ebenso zur Verschleierung der Arbeitsbedingungen zu Lasten der Beschäftigten genutzt werden, würden aus Beschäftigtenperspektive von einer Ausweitung des Gesetzes profitieren.

Beschäftigtenschutz schließt auch die Unterbringung ein

Richtig und wichtig ist, dass das neue Gesetz die bisher zu lange übersehenen Unterbringungsbedingungen der Beschäftigten ins Visier nimmt. Bereits 2014 berichteten Medien über im Wald wohnende ausländische Arbeitskräfte, die unter extrem prekären Umständen in der deutschen Fleischindustrie beschäftigt waren. Aber erst jetzt nach den regionalen Corona-Ausbrüchen in fleischverarbeitenden Betrieben, die zu zeitweisen regionalen Lockdowns führten, wurde die Unterbringung der ausländischen Beschäftigten politisch thematisiert. Tatsächlich ist das für diese Beschäftigten ein problematischer Punkt: Für ausländische Arbeitskräfte, die bereit waren und sind, für die Firmen zu arbeiten, stellt die Unterbringung eine große Herausforderung dar. Oft liegen die Schlachthöfe in ländlichen Regionen, in den es sich schwierig gestaltet, Wohnungen für viele Menschen zu finden, die nicht zwingenderweise deutsch sprechen. Darüber hinaus bringen die ausländischen Beschäftigten, die in der Branche arbeiten, nicht immer Familien mit, sondern reisen allein zum Zweck der Arbeit in den Betrieben über Vermittlungsfirmen oder Agenturen nach Deutschland ein. Eine Gruppenunterkunft bietet, selbst wenn sie für ein Bett vergleichsweise teuer ist, oft die einzige Möglichkeit, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu finden. Medienberichten zufolge sind diese Unterkünfte oft fester Bestandteil des Arbeitspakets, das in den Heimatländern abgeschlossen wird, und die Mieten werden von den Löhnen abgezogen. Eine Kontrolle dieser Unterkünfte, wie sie im neuen Gesetz angestrebt wird, ist daher eine wichtige Maßnahme, da die Einhaltung der Hygienevorschriften in der Branche offensichtlich nicht selbstverständlich ist. Aber die Abhängigkeit der Beschäftigten von dieser Unterkunft und das damit verbundene Risiko von Wuchermieten pro Bett sowie auch die Kopplung von Unterkunft und Beschäftigung bleiben weiterhin Ungleichgewichte im Machtverhältnis zwischen Arbeitgebern und ausländischen Beschäftigten und werden trotz Gesetz fortbestehen.

Was ist speziell in der Fleischwirtschaft?

Die wachsende deutsche Fleischindustrie ist seit Jahren auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen ist die körperlich harte Arbeit für deutsche Arbeitskräfte zunehmend unattraktiv. Ein Grund dafür könnte die Arbeit selbst sein. Die vergleichsweise schlechten Löhne und unattraktiven Arbeitsbedingungen sind sicherlich der wichtigste Faktor, warum es für die großen fleischverarbeitenden Unternehmen schwierig ist, deutsche Arbeitskräfte zu finden, die für zeitweise weniger als den bundesweiten Mindestlohn (in den Jahren 2015 und 2016) bereit sind, die Arbeit durchzuführen. Ausländische Arbeitskräfte sind, vor allem wenn sie über Werkvertragsfirmen beschäftigt werden, eine praktische und vergleichsweise günstige Ressource. Sprachkenntnisse sind für die Arbeit am Fließband nicht unbedingt notwendig und die Werkvertragsfirmen haben die Vertragsformalia zumeist über ausländische Vorarbeiter regeln können, so dass es für die deutschen Firmen rentabel wurde, nach und nach Großteile des Kerngeschäftes an Werkvertragsfirmen auszugliedern.

Die Kontrolldichte und Sanktionen für die Arbeitgeber müssen daher streng ausgelegt werden. Nur so können die ausländischen Beschäftigten in dieser Branche tatsächlich auch langfristig von dem neuen „Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft“ profitieren und nicht nur Imagepolitur für eine Branche betrieben werden, deren schlechte Arbeitsbedingungen schon lange bekannt sind, aber absichtlich übersehen wurden.

Werkverträge auch in anderen Branchen regulieren!

Ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie ist insofern richtig, als dass die Arbeitsschritte, die in der Fleischindustrie damit ausgelagert wurden, gar keine vorübergehenden Schritte sind, die temporär oder saisonal schwanken und damit nicht zum Kerngeschäft gehören. Aber das trifft genauso wenig auf die Reinigung von Hotelzimmern zu. Trotzdem werden „Room Service“ und Reinigung in den meisten Hotels von Subunternehmen ausgeführt. Weitere Beispiele sind die Logistikbranche oder so genannte „haushaltsnahe Dienstleistungen“. Wenig überraschend finden sich hier ebenso häufig ausländische Arbeitskräfte, die für Werkvertragsunternehmen zu oft schlechten Arbeitsbedingungen tätig sind. Eine grundlegende Überarbeitung des Werkvertragsrechts und der Arbeitnehmerüberlassung wäre ein effektiverer Lösungsansatz für den Arbeitsmarkt für ausländische sowie auch inländische Beschäftigte in Deutschland. Dies würde schließlich auch dem Ansehen und der Beschäftigungsraten in den Branchen helfen, die durch physisch und psychisch belastende Arbeit charakterisiert sind – Arbeit, die auch während der Pandemie nicht ohne Weiteres ins Homeoffice verlagert werden kann und sich als schlecht bezahlt, aber systemrelevant herausgestellt hat. Zu diesen Branchen zählen neben der Fleischwirtschaft auch Reinigung, Transport und Logistik, Pflege und Betreuung, Erziehung und Kinderbetreuung.

Aktuelle Literatur zum Thema
Serife Erol/Thorsten Schulten, Das Ende der "organisierten Verantwortungslosigkeit"?: Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie. WSI Report 61, 10/2020 (pdf)

 

Zurück zum WSI-Blog Work on Progress


Die Beiträge der Serie:

Florian Blank und Daniel Seikel (06.10.2020)
Soziale Ungleichheit in der Corona-Krise. Eine Serie im WSI-Blog Work on Progress

Bettina Kohlrausch und Andreas Hövermann (06.10.2020)
Arbeit in der Krise

Elke Ahlers (07.10.2020)
Arbeitsschutz in der Corona-Krise: Hohe Standards für alle!

Philip Mader, Daniel Mertens, Natascha van der Zwan (08.10.2020)
Neun Wege, wie der Coronavirus den Finanzkapitalismus verändern könnte

Daniel Seikel (13.10.2020)
Die Corona-Krise und die Eurozone: Ausweg aus dem Nein-Quadrilemma?

Ingo Schäfer (15.10.2020)
Rente in der Krise? Keine Spur!

Maria Figueroa, Ian Greer, Toralf Pusch (16.10.2020)
Europas Arbeitsmärkte in der Corona-Krise: Kurzarbeit hat einen drastischen Einbruch verhindert

Elke Ahlers und Aline Zucco (20.10.2020)
Homeoffice - Der positive Zwang?

Lukas Haffert (22.10.2020)
Auf Nimmerwiedersehen, Schwarze Null?

Florian Blank (23.10.2020)
Die Unordnung der Wohlfahrtsproduktion in Zeiten von Corona

Toralf Pusch und Hartmut Seifert (30.10.2020)
Kurzarbeit vs. Mehrarbeit in systemrelevanten Bereichen

Martin Behrens (03.11.2020)
Besser durch die Krise mit Tarif und Betriebsrat

Stephan Lessenich (09.11.2020)
Grenzen der Solidarität. COVID-19 und die Strukturen globaler sozialer Ungleichheit

Bettina Wagner (13.11.2020)
Corona und die deutsche Fleischindustrie – seit langem überfällige Reformen?

Aline Zucco und Bettina Kohlrausch (24.11.2020)
Was bedeutet die Pandemie für die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern?

Sonja Blum (16.12.2020)
Bildung und Betreuung in der (Corona-)Krise

Lara Altenstädter, Ute Klammer, Eva Wegrzyn (02.02.2021)
Corona verschärft die Gender Gaps in Hochschulen

Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.

Bettina Wagner ist Sozial- und Politikwissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten Industrielle Beziehungen in Rumänien und Bulgarien; Arbeitsmigration und die Durchsetzung von Arbeitnehmer*innenrechten in Europa;  Formen mobiler Beschäftigung und deren Herausforderungen. 

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen