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Langzeitvergleich der wirtschaftlichen Entwicklung: IMK-Studie: „Agenda 2010 à la francaise“ würde Frankreichs Wirtschaftsprobleme nicht lösen

22.01.2019

Die französische Regierung will ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik neu justieren. Sollte sie sich dabei ein Beispiel an Deutschland nehmen? Nicht wenn es um die Hartz-Reformen geht. Die wahren Gründe für den aktuellen Vorsprung der deutschen Wirtschaft liegen woanders: Die Konjunktur hierzulande läuft besser, seitdem auch die Binnennachfrage wieder einen höheren Stellenwert hat. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Analyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.

Wenn sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron heute in Aachen mit der deutschen Bundeskanzlerin trifft, ist das Anlass für Vergleiche, bei denen die Grande Nation auf den ersten Blick nicht gut abschneidet. Frankreich gilt als der neue „kranke Mann“ in Europa. Wenn das Land wieder wettbewerbsfähiger werden will, müsse es nachholen, was Deutschland mit seiner Agenda 2010 und den Hartz-Reformen vorgemacht hat. Diese Sichtweise ist weit verbreitet, auch unter Ökonomen. Doch sie hat nichts mit der Realität zu tun, betonen die Forscher des IMK. In ihrer Analyse zeigen Prof. Dr. Gustav A. Horn und Dr. Sebastian Watzka, was die wahren Gründe dafür sind, dass sich Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Deutschland derzeit in guter Verfassung befinden: Entscheidend sind nicht die „marktorientierten Strukturreformen“ von Anfang der 2000er-Jahre, sondern die Maßnahmen im Zuge der Finanzkrise. Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt habe die deutsche Politik in dieser Zeit einen „heimlichen Paradigmenwechsel“ vollzogen, weg von der einseitigen Ausrichtung auf Exporte, hin zu einer stärkeren Binnenwirtschaft. So sei in den vergangenen Jahren ein relativ ausgewogener Aufschwung möglich gewesen, der das Wachstum bis heute treibe. Ein wichtiger Faktor dabei: Auch die Löhne der Beschäftigten stiegen seit 2011 spürbar.

Schaut man sich die Wirtschaftsentwicklung seit Beginn der Währungsunion an, mag zunächst überraschen, dass der Abstand zwischen Deutschland und Frankreich gar nicht so groß ausfällt. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich über den gesamten Zeitraum in etwa gleich stark entwickelt. „Es gibt also keinen generellen Wachstumsrückstand der französischen Wirtschaft gegenüber der deutschen“, schreiben die IMK-Experten. Allerdings seien die Volkswirtschaften in jeweils unterschiedlichen Phasen gewachsen. Die Forscher unterscheiden zwei Phasen: Nach einem Gleichlauf zu Beginn der Währungsunion fiel die deutsche Wirtschaft in den Jahren 2001 bis 2005 deutlich hinter die französische zurück. Ab 2005 bis zum Beginn der Finanzkrise glichen sich die Wachstumsraten mit leichten Vorteilen für Deutschland wieder an. In der Finanzkrise brach die Wirtschaft in Deutschland wesentlich stärker ein als in Frankreich. In der darauf folgenden zweiten Phase ab 2009 wuchs die deutsche Wirtschaft hingegen deutlich kräftiger und konnte ihren Wachstumsrückstand vollständig aufholen. Wenn also von einer Krise in Frankreich und der starken Wirtschaft in Deutschland die Rede ist, dann trifft dies nur auf die Zeit nach der Finanzkrise zu.

Der größte Unterschied zwischen beiden Ländern zeigt sich am Arbeitsmarkt: Bis zur Finanzkrise war die Arbeitslosenquote in Frankreich niedriger als in Deutschland. Seitdem ist es umgekehrt, und der Abstand nimmt Jahr für Jahr zu. In Deutschland fällt jedoch nicht nur die Arbeitslosenquote merklich niedriger aus als in Frankreich, sondern auch die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf. Das Arbeitsvolumen wird hierzulande mit einer höheren Beschäftigtenzahl realisiert. Oder anders ausgedrückt: Die vorhandene Arbeit wird auf mehr Köpfe verteilt.
Dies liegt einerseits an der relativ hohen Bedeutung von Teilzeitarbeit in Deutschland, andererseits an der unterschiedlichen Reaktion auf die Finanzkrise. Trotz des massiven Einbruchs der Produktion blieben Jobs erhalten – das gelang, weil die Arbeitszeiten in vielen großen mitbestimmten Unternehmen über Zeitkonten flexibel waren, sowie dank staatlicher Stützungsmaßnahmen und der Kurzarbeit.

Nach der Schwächephase konnte so schnell wieder das frühere Niveau erreicht und übertroffen werden. Damit blieben die Einkommen in der Krise stabil, danach wuchsen sie. Dies wiederum stärkte den privaten Konsum, der für den deutschen Aufschwung in den vergangenen Jahren – anders als in früheren Boomphasen, die vor allem exportgetrieben waren – eine maßgebliche Rolle spielte. Nebenbei profitierte davon auch der Staat, indem er höhere Steuereinnahmen verzeichnete.

„Mit der als Stabilisierungspolitik erfolgreichen Stimulanz des Konsums richtete sich, ohne dass dies in nennenswertem Umfang Gegenstand öffentlicher Diskurse war, die Wirtschaftspolitik in Deutschland neu aus“, schreiben die IMK-Ökonomen. Während es im vorherigen Jahrzehnt noch das Ziel gewesen sei, mittels Arbeitsmarktreformen Druck auf die Löhne zu machen und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, werde nunmehr die Bedeutung der Binnennachfrage stärker anerkannt. Lohnsteigerungen erschienen nicht mehr als Bedrohung wirtschaftlicher Aktivität, sondern als deren Treiber. Schließlich erweiterten sich mit höheren Reallöhnen die Konsummöglichkeiten der privaten Haushalte.

Diese Zusammenhänge seien in Frankreich über viele Jahre besser akzeptiert und praktiziert worden als in Deutschland, betonen die Forscher. Eine Agenda 2010 à la française werde deshalb wenige Verbesserungen bringen. In einem Punkt könnte Frankreich hingegen tatsächlich von Deutschland lernen: Eine kontrollierte Arbeitszeitflexibilisierung mit Zeitwertkonten sei ein geeignetes Instrument, um Entlassungen bei schlechter Wirtschaftslage zu vermeiden. So einfach ist dieses System aber nicht zu übertragen: Laut Analyse des IMK hat die interne Flexibilisierung in Deutschland vor allem funktioniert, weil es über die Mitbestimmung ein seit Jahrzehnten erprobtes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt.

Weitere Informationen:

Gustav A. Horn, Sebastian Watzka: Ist Frankreich ein Sanierungsfall oder Deutschland?, IMK Policy Brief, November 2018.

Kontakt:

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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