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Magazin Mitbestimmung

: 'Nur das Zuckerl obendrauf'

Ausgabe 01+02/2005

In einigen Regionen konnten die Gewerkschaften zulegen - gegen den Trend. Arbeit in den Betrieben verspricht ebenso Erfolg wie guter Service. Umstrittener sind materielle Vorteile und Bonusleistungen für Mitglieder.

Von Christoph Mulitze
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Düsseldorf.

Die ersten Tiefschläge gab es Anfang der 90er Jahre. Der IG-Metall-Bezirk Siegen-Wittgenstein verlor in erheblichem Umfang Mitglieder, weil große Unternehmen mit hohem Organisationsgrad in der Region zerschlagen wurden. Besonders hart traf es den Stahl- und Waggonbau, außerdem Elektrokonzerne. Im Jahr 1998 handelten die Verantwortlichen endlich: "Wir versprachen uns in die Hand, dass wir den Niedergang stoppen müssten", erzählt IG-Metall-Bezirkschef Hartwig Durt. Betriebsräte, Vertrauensleute, Funktionäre - alle wichtigen Personen, berichtet er, hätten sie angesprochen mit einer eindeutigen Botschaft: "Wenn ihr uns in Siegen braucht und wollt, dass die Leistungen der Verwaltungsstelle erhalten und ausgebaut werden, dann müsst ihr mit dazu beitragen, dass die Mitgliederentwicklung wieder positiv wird."

Die verstärkte Ansprache in den Betrieben hat tatsächlich dazu geführt, dass der Trend aufgehalten und sogar umgedreht werden konnte. So ist zwischen 1998 und 2004 die Zahl der IG-Metall-Mitglieder im Bezirk Siegen-Wittgenstein von rund 23300 auf etwa 24000 gestiegen. Das machte ihn zu einem der erfolgreichsten Gewerkschaftsbezirke bundesweit. Ein Erfolg - der sich allerdings beim genaueren Hinschauen relativiert und das Dilemma verdeutlicht, in dem sich die Gewerkschaften befinden: 1987 waren noch mehr als 27000 Mitglieder im IG-Metall-Bezirk Siegen-Wittgenstein registriert.

Einfache Klassenkampf-Rhetorik zieht nicht mehr

Die Gründe für den flächendeckenden Einbruch bei den Mitgliederzahlen sind vielfältig - und das Schlimmste: Sie sind teilweise nur schwer zu beeinflussen und verstärken einander noch. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Beschäftigungsstruktur in Deutschland gewandelt. Es gibt immer weniger Facharbeiter und immer mehr Angestellte. Angestellte sind individualistischer, grundsätzlich weniger organisationsbereit und lassen sich deshalb schwerer einbinden.

Außerdem hat sich die Sozialisation von Jugendlichen stark verändert. Milieugrenzen sind heute weniger klar definiert als früher - mit der Folge, dass junge Menschen beim Eintritt ins Erwerbsleben nicht mehr automatisch einer Gewerkschaft beitreten.

Überleben in der Schnäppchengesellschaft

Zudem ist den Gewerkschaften durch die Verlängerung der Bildungszeiten dauerhaft eine ganze Altersgruppe weggebrochen - die der 14- bis 19-Jährigen. "Wir sind allein dadurch durchschnittlich gealtert, dass sich der Ausbildungsbeginn um einige Jahre nach hinten verschoben hat", sagt Sepp Rauch, stellvertretender ver.di-Landesbezirksleiter in Bayern. Längere Schulzeiten und ein höherer Bildungsgrad führen auch dazu, dass die Mitarbeiter politischer geworden sind. Einfache Klassenkampf-Rhetorik zieht hier nicht mehr. Die Gewerkschaften brauchen deshalb ihrerseits besser qualifizierte Betriebsräte und Funktionäre in den Verwaltungsstellen, um überzeugend argumentieren zu können. Dies kostet Geld, das aber wegen der sinkenden Mitgliederzahlen fehlt. Die Gewerkschaften befinden sich in einem Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist.

In ihrer Not kommen die Gewerkschaften auf Ideen, die auf den ersten Blick charmant erscheinen, aber oft nicht praktikabel sind - wie etwa die, bei Verhandlungen mit dem Arbeitgeber Sonderkonditionen für ihre Mitglieder herauszuschlagen. In der Praxis sind sie jedoch kaum umsetzbar. Die Arbeitgeber werden das nicht zulassen, weil es nicht in ihrem Interesse liegt. Sie würden mit solchen Regelungen Unruhe in ihre Belegschaft bringen und ihre Mitarbeiter in die Gewerkschaft treiben. Und die Realität ist sogar noch viel schlimmer: Insbesondere kleine Betriebe honorieren die Nicht-Mitgliedschaft manchmal mit Beförderung und Bonuszahlungen - und die Gewerkschaften können nichts dagegen machen. Denn solche Bevorzugungen werden natürlich anders begründet - etwa mit dem besonderen Engagement des Mitarbeiters.

Rund 55 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind ledig, geschieden oder verwitwet. Allerdings gebe es nach wie vor große Unterschiede zwischen Stadt und Land, sagt Sepp Rauch: "Auf dem Land heiratet man, bleibt zusammen, bekommt Kinder. Dort währen ver.di-Mitgliedschaften auch immer noch verhältnismäßig lange." In München dagegen führen die vielen Single-Haushalte zu einer stärkeren Fluktuation. Zugleich steigen die Service-Ansprüche an die Gewerkschaften.

Sie haben zur Folge, dass viele Gewerkschaftsbezirke ihre Angebote an die Mitglieder ausgeweitet haben und Dienstleistungen außerhalb des Kerngeschäfts anbieten: Das reicht von günstigen Urlaubsreisen über verbilligtes Einkaufen bis hin zu Sozialrechts- und Rentenberatungen. "Wir sind Lebensbegleiter über den Beruf hinaus. Unsere Botschaft an die Menschen muss sein: Ohne Gewerkschaft fehlt dir was", sagt Rauch, der allerdings einschränkt: "Die Schnäppchengesellschaft macht es uns schwer. Wir müssen uns mit den Billigsten der Billigen messen." Aber, fügt er hinzu, dieser Wettbewerb sei nicht zu gewinnen, und man wolle ihn auch nicht gewinnen. "Wir sind und bleiben eine politische Organisation. Alles andere ist nur das Zuckerl obendrauf."

Engagierte Betriebsräte sind das A und O

Auch der erfolgreiche IG-Metall-Bezirk Siegen-Wittgenstein hat Ende der 90er Jahre begonnen, seinen Mitgliedern mehr anzubieten als die klassische tarifliche und arbeitsrechtliche Beratung. "Wir haben Service-Scheckhefte entwickelt und uns kompetente Kooperationspartner an Bord geholt, zum Beispiel die Frauengleichstellungsstelle für die Themen Familie und Beruf und das Technologiezentrum Siegen für Qualifizierung, Weiterbildung und individuelle Karriereberatung", sagt Durt. Wer ausgetreten ist, wird von einem geschulten Gewerkschaftssekretär angerufen. "Wir nehmen uns Zeit, über die Gründe des Austritts zu sprechen und gemeinsam eine Lösung zu finden. Wir zeigen damit, dass uns jedes einzelne Mitglied am Herzen liegt. Rund 40 Prozent ziehen ihren Austritt zurück", so Durt.

Anders als viele andere Bezirke definiert Durts Bezirk seinen Erfolg an der Zahl der Mitglieder. Durt: "Denn nur durch Mitglieder und die entsprechenden Einnahmen bleiben wir eine schlagkräftige politische Organisation. Glücklicherweise denken viele Betriebsräte in unserem Bezirk genauso." Gute Betriebsräte bleiben das A und O bei der Mitgliederwerbung und -bindung. Wie das Beispiel Julia Reifenrath zeigt. Die 27-Jährige arbeitete sechs Jahre lang als Bäckerin in einer kleinen Bäckerei. Acht Bäcker waren dort beschäftigt. Natürlich war keiner von ihnen gewerkschaftlich organisiert. Der Chef des Familienbetriebs hätte das vermutlich auch nicht gern gesehen. "Niemand hatte mich über den Sinn und Zweck von Gewerkschaften aufgeklärt", sagt Julia Reifenrath.

Das änderte sich vor anderthalb Jahren, als die junge Frau bei einem mittelständischen Unternehmen anheuerte: bei der Siegenia-Aubi KG, einer Firma der Fensterbeschlagbranche. Sofort wurde sie vom dortigen Betriebsrat umworben - bis sie im vergangenen Jahr nach reiflicher Überlegung der IG Metall beitrat.
 "Ich will ein gutes Gehalt und bin gegen die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche", sagt die 27-Jährige über ihre Beweggründe. Dass sie vor dem Eintritt so lange überlegt hat, ist typisch. Frauen überlegen sich erfahrungsgemäß einen solchen Schritt genauer, sind aber dann stärker von ihrer Mitgliedschaft überzeugt - und treten deshalb später seltener wieder aus.

Typisch ist auch, dass Julia Reifenrath während ihrer Zeit als Bäckerin nicht einer Gewerkschaft beigetreten ist. In vielen kleinen und mittleren Firmen unternimmt der Chef alles, damit keine Arbeitnehmervertretung auch nur einen Fuß in den Betrieb bekommt. Das beginnt bei einem bewusst familiär gepflegten Arbeitsklima und endet nicht selten bei abenteuerlichen Versuchen, Betriebsratswahlen zu verhindern. Auch hier verbirgt sich ein zunehmendes Problem für die Gewerkschaften: Mehr als drei Viertel aller Jugendlichen werden in kleinen und mittleren Betrieben ausgebildet, in denen es organisierte Arbeitnehmer oft besonders schwer haben.

Die Mitglieder fragen: "Was habe ich davon?"

Nicht nur der IG-Metall-Bezirk Siegen-Wittgenstein auch einige andere Gewerkschaftsbezirke konnten die negative Mitgliederentwicklung stoppen. Zum Beispiel die NGG in Osnabrück. Sie hat im vergangenen Jahr 500 neue Mitglieder verzeichnet, was einem Netto-Plus von 100 Personen entspricht. Ein Licht am Ende des Tunnels, denn der Bezirk hat schwierige Zeiten hinter sich. Viele Großbetriebe wurden erheblich verkleinert, filetiert oder gar geschlossen. Die Folge: In nur zehn Jahren schrumpfte die NGG Osnabrück von rund 5600 auf heute 4500 Mitglieder.

Der Erfolg bei der Mitgliederwerbung ist im dortigen Bezirk offenbar darauf zurückzuführen, dass die Ansprüche der Mitglieder gestiegen sind und der Bezirk reagiert hat. "Jeder denkt ständig: ‚Was habe ich davon?‘", so Bezirksleiter Bernhard Hemsing. Deshalb wurde entschieden, wie etwa in Siegen oder bei ver.di in Bayern, zusätzliche Dienstleistungen für Mitglieder anzubieten. "Und auch der Versuch, Mitglieder zu motivieren, selbst Mitglieder zu werben, ist gelungen.

Im Gegenzug kommt jeder, der einen anderen erfolgreich geworben hat, in eine Tombola und kann etwas gewinnen." Hemsing hat die Erfahrung gemacht, dass die Leute in den Betrieben unpolitischer geworden sind. Zum Teil wüssten sie nicht einmal, welchen Zweck Gewerkschaften hätten, sagt er. "Nur mit unserem politischen Ansatz können wir keine Neumitglieder mehr einfangen", so Hemsing. Die Gewerkschaft als politische Organisation und Dienstleister zugleich - die IG Metall in Siegen-Wittgenstein hat es vorgemacht.

Das hatte sich offenbar bis Düsseldorf herumgesprochen. Dem Durt-Vorgänger Detlef Wetzel gelang im vergangenen Jahr ein beachtlicher Karrieresprung - vom Bezirkschef in Siegen zum Landeschef der IG Metall in Nordrhein-Westfalen.

"Unsere Mitglieder erwarten einen Vorteil"

Detlef Wetzel, Landeschef der IG Metall in Nordrhein-Westfalen zur aktuellen Diskussion um Bonusregelungen für Gewerkschaftsmitglieder

Die IG Metall NRW hat vereinzelt Sonderkonditionen für ihre Mitglieder ausgehandelt. Was ist heute schon Realität?
Bisher haben wir in 30 Betrieben Tarifvereinbarungen mit einem Bonus für unsere Mitglieder abgeschlossen. Damit sind etwa 5000 Beschäftigte, vorrangig aus kleinen und mittleren Betrieben, in solche Regelungen einbezogen. Dabei geht es ausschließlich um Betriebe, in denen die Arbeitsplätze bedroht sind und in denen die Arbeitgeber darauf gedrängt haben, dass vom Flächentarif abgewichen wird. Unsere Mitglieder müssen in den genannten Betrieben weniger stark bluten als Nichtmitglieder. Beispielsweise erhalten sie eine höhere Jahressonderzahlung.

Materielle Vorteile von Mitgliedern gegenüber Nichtmitgliedern - wie wird das in der Praxis umgesetzt?
Wir gehen diesen Weg betrieblicher Tarifpolitik nur unter intensiver Beteiligung unserer Mitglieder, mit Mitgliederversammlungen und betrieblichen Tarifkommissionen. Unsere Mitglieder erwarten dabei einen Vorteil gegenüber denen, die sich nicht engagieren.

Welche Auswirkungen auf die Stimmung in den Belegschaften hat die Ungleichbehandlung zwischen Organisierten und Unorganisierten?
Es ist der Arbeitgeber, der die Abweichung vom Flächentarifvertrag verlangt. Damit sorgt er für den Konfliktstoff im Betrieb, nicht die Bonusregelung. Das wissen die Mitglieder und Nichtmitglieder sehr wohl zu verstehen.

Haben Sie denn auf diese Weise schon neue Mitglieder gewinnen können?
Für uns steht hier nicht die Mitgliedergewinnung, sondern der Mitgliedernutzen im Mittelpunkt. Natürlich sind wir aber froh, dass sich in den vergangenen Wochen in vielen Verwaltungsstellen unsere Neuaufnahmen sehr gut entwickelt haben. Das Thema Bonus hat sicherlich neben vielen anderen Leistungen der IG Metall mit dazu beigetragen.

Wollen Sie Sonderkonditionen auch in Flächentarifverträgen aushandeln?
Bonusregelungen im Flächentarifvertrag kennen wir bisher nur im kleinen Bereich der Miederwarenindustrie mit Vereinbarungen zur Weiterbildungsförderung für unsere Mitglieder. Derzeit sind Regelungen für die Fläche kein Thema für die IG Metall.

Handelt es sich bei den Sonderkonditionen nicht um eine Phantomdiskussion? Sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerseite verhandelt ohnehin nur für die jeweils bei ihr organisierten Mitglieder.
Mit unseren Bonusregelungen rufen wir genau diese Tatsache ins Bewusstsein. Nur Mitglieder haben Anspruch auf die tariflichen Leistungen. Mit den betrieblichen Vereinbarungen kommt diese Tatsache praktisch zur Geltung. Darüber sollte sich niemand aufregen. Schließlich würde auch niemand erwarten, dass etwa ein Automobilclub seine Leistungen, die ja nur durch den Mitgliedsbeitrag möglich werden, allen anderen unentgeltlich zur Verfügung stellt. Ich denke, dass diese Diskussion nur einfachste Sachverhalte wieder ins Bewusstsein holt.

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