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Magazin Mitbestimmung

Von JOACHIM F. TORNAU: So organisiert der Betriebsrat von Evonik den Generationswechsel

Ausgabe 11/2016

Betriebsrat Viele Betriebsräte in Deutschland sind überaltert. Wie man das ändern kann, zeigt ein ambitioniertes Projekt bei Evonik, das für den Deutschen Betriebsräte-Preis 2016 nominiert wurde.

Von JOACHIM F. TORNAU

Nicht immer ist es erfreulich, eine Mehrheit auf seiner Seite zu wissen. Ralf Hermann, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats (GBR) von Evonik in Essen, hat das vor zwei Jahren erfahren müssen. Die Betriebsratswahlen waren gerade vorbei, als das Gremium einen Blick in die Zukunft wagte. Und feststellte: Mehr als jeder zweite der gerade gewählten GBR-Mitglieder würde 2018 aus Altersgründen nicht noch einmal antreten können. Den Vorsitzenden eingeschlossen. Noch düsterer sah es bei den betrieblichen Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat aus: Da waren es sechs von sechs, die ausscheiden. „Wir haben gemerkt“, sagt Hermann, „dass wir ein riesiges Problem mit dem demografischen Wandel haben.“

Dringend notwendiger Generationswechsel

Damit steht Evonik alles andere als allein. Betriebsräte in Deutschland werden immer älter. Nach den Wahlen 2014 kletterte der Anteil der über 46-jährigen Mandatsträger von 54,5 auf 60,5 Prozent. Im Organisationsbereich der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), zu dem auch der Spezialchemiekonzern Evonik gehört, sind es mittlerweile sogar 65 Prozent.

Wie dringend der Generationswechsel organisiert werden muss, kann Klaus Weiß mit weiteren Zahlen belegen. „29 Prozent unserer Betriebsratsvorsitzenden sind älter als 55 Jahre“, berichtet der Mitbestimmungsexperte der IG BCE. „Bei den Freigestellten sind es 34 Prozent.“ Eine Statistik, die zusätzlich Brisanz gewinnt, weil dank tariflicher Vorruhestandsregelungen kaum jemand in der Chemieindustrie bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeitet. Auch Ralf Hermann wird seinen Schreibtisch bei Evonik bereits kurz nach seinem 60. Geburtstag räumen. Dann beginnt die passive Phase seiner Altersteilzeit.

Durch die bevorstehende Welle von Altersabgängen aus den Arbeitnehmervertretungen droht der Verlust von Kontinuität und langjährig erworbenem Erfahrungswissen. Wie darauf zu reagieren ist, treibt im Zuständigkeitsbereich der Chemiegewerkschaft nicht nur Evonik um. Auch bei der BASF SE zog sich der altgediente Betriebsratschef Robert Oswald, der 16 Jahre lang den Vorsitz des obersten Betriebsratsgremiums innehatte, vorzeitig zu Gunsten des 20 Jahre jüngeren Nachfolgers Sinischa Horvat zurück.

Intelligente Nachfolgeplanung bei Evonik

Besonders konsequent und strukturiert aber ging man die Herausforderungen der Zukunft bei dem Essener Chemieunternehmen an. In enger Zusammenarbeit mit dem Unternehmen wurde ein Personalentwicklungsprogramm für den Gesamtbetriebsrat aufgelegt. „GBR 2020 – Intelligente Nachfolgeplanung“ lautet der programmatische Titel. „Ein herausragendes Projekt“, meint IG BCE-Gewerkschafter Klaus Weiß. Nicht ohne Grund ist es einer der Kandidaten für den Deutschen Betriebsräte-Preis 2016.

Zusammen mit dem Leiter des Adolf-Schmidt-Bildungszentrums der IG BCE in Haltern am See erstellte der Gesamtbetriebsrat ein Schulungskonzept, um mögliche Nachfolger der ausscheidenden Mitglieder auf die GBR-Tätigkeit vorzubereiten. „An vielen Standorten gab es Kollegen, die schon länger in der Warteschleife waren“, sagt GBR-Vorsitzender Hermann. „Unsere Idee war, sie im Vorfeld zusammenzubringen – um ihnen Wissen zu vermitteln, aber auch, damit sie sich schon einmal kennenlernen und zusammenarbeiten können.“ Networking also, um es Neudeutsch auszudrücken. Und Aufbau von Vertrauen.

Für Detlef Lüke, den Leiter des Bildungszentrums, ist das einer der entscheidenden Punkte. „Im Betriebsverfassungsgesetz gibt es den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit“, erklärt er. „Wenn das zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat funktionieren soll, muss es erst einmal innerhalb des Gremiums klappen.“ So würden Reizthemen wie die sinnvolle Aufgabenverteilung zwischen dem GBR und den 23 Standort-Betriebsräten bei Evonik gleich zu Beginn angesprochen und offen diskutiert. Mit Erfolg, wie Lüke berichtet: „Wir haben Verabredungen getroffen, die jetzt schon helfen, das Thema zu versachlichen.“

Aus sechs jeweils dreitägigen Modulen besteht die Fortbildung. Es geht um wirtschaftliche und juristische Fragen, aber auch um Verhandlungsführung, Teamarbeit oder Kommunikation. Und es geht um die persönliche Weiterentwicklung der Teilnehmenden. „Die Entwicklung von Soft Skills nimmt ebenso viel Raum ein wie die harten Inhalte“, sagt Lüke. Die Seminare leitet er gemeinsam mit einem Psychologen, der auch für individuelles Coaching zur Verfügung steht.

Ein erster Durchgang mit 14 Teilnehmern wurde bereits abgeschlossen, ein zweiter mit 15 Kollegen läuft. Welcher Betriebsrat wie viele Mitglieder entsenden durfte, legte der GBR vorher fest – und stieß damit, wie Ralf Hermann erzählt, mancherorts eine überfällige Debatte an. „Der eine oder andere Standort“, sagt der 58-Jährige, „hatte sich mit der Nachfolgefrage noch gar nicht auseinandergesetzt.“

Jens Barnhusen ist einer von denen, die beim ersten Durchlauf dabei waren. „Im Vorfeld“, gibt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Evonik-Werks in der Essener Goldschmidtstraße zu, „war ich skeptisch, ob mich das wirklich weiterbringen wird.“ Doch seine Skepsis sei bereits am ersten Tag in Haltern gewichen. Vor allem wegen der Erfahrung des Team-Building. „Die Seminare sind ein geschützter Raum, in dem Betriebsratskollegen von verschiedenen Standorten offen miteinander sprechen, sich mit ihren Stärken und Schwächen kennen und verstehen lernen“, sagt der 41-Jährige. „Hart ran, fair weiter, wie wir im Ruhrgebiet sagen.“ Das habe bei den Teilnehmern eine zentrale Erkenntnis befördert: „Der eigene Standort ist wichtig, aber auch das Wir.“

Und das, unterstreicht Anke Strüber-Hummelt, ebenfalls Teilnehmerin der ersten Runde, sei keineswegs banal. Nach der Gründung von Evonik vor knapp zehn Jahren sei es lange nicht einfach gewesen, die Einzelbetriebsräte dazu zu bewegen, an einem Strang zu ziehen. „Ich komme vom größten Standort der Evonik“, sagt die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Werks in Marl. „Wir haben 7.000 Beschäftigte – da könnte man meinen, wir kriegen auch fast alle Mandate im Gesamtbetriebsrat.“ Doch ein solches Anspruchsdenken gebe es jetzt nicht mehr: „Stattdessen geht es heute darum, wie wir uns als Team fachlich am besten aufstellen“, sagt Strüber-Hummelt. „Das ist ein Meilenstein.“

Die 54-Jährige soll im Gesamtbetriebsrat künftig eine führende Rolle übernehmen: Wer Ralf Hermann und seinen beiden Stellvertretern nachfolgen soll, wurde bereits in die Wege geleitet. Denn die gesamte bisherige GBR-Führung ist zu alt, um noch einmal zu kandidieren. Und sie will das Feld nicht erst auf den letzten Drücker frei machen. „Bei der GBR-Klausur im November 2017 werden meine Stellvertreter und ich unsere Ämter abgeben“, sagt Hermann. „In die nächsten Betriebsratswahlen gehen wir dann schon mit einer neuen Spitze.“

Genau zu planen, wer sich wann und wie frühzeitig zurückzieht: Auch das ist elementarer Bestandteil des Evonik-Modells. So sind drei der sechs betrieblichen Aufsichtsratsmitglieder, die mit dem Ende ihrer Amtszeit im Mai 2018 gehen müssten, bereits jetzt von Jüngeren abgelöst worden. Auch hier ist Anke Strüber-Hummelt eine der Neuen. „Ich habe noch nie erlebt, dass so systematisch Arbeit abgegeben wird – sei es im Aufsichtsrat oder an den Standorten“, sagt sie. Auch wenn manchem der Rückzug sicher nicht leicht gefallen sei: „Loszulassen ist nicht selbstverständlich“, weiß Strüber-Hummelt. „Wir wissen das sehr zu schätzen.“

Um den fließenden Übergang in den Gremien zu erleichtern, wurden die Geschäftsordnungen von Gesamtbetriebsausschuss (GBA) und Gesamtwirtschaftsausschuss (GWA) so geändert, dass auch die designierten Nachfolger der derzeitigen Mitglieder teilnehmen dürfen. Genauso ist die künftige GBR-Führung schon heute bei Gesprächen mit dem Arbeitsdirektor des Konzerns oder bei wichtigen Verhandlungen dabei. Und an kleineren Standorten, wo allein der Betriebsratsvorsitzende freigestellt ist, kann es für eine sechsmonatige Übergangsphase eine zusätzliche Freistellung geben. Damit ein Nachfolger eingearbeitet ist, wenn er das Amt übernimmt.

Natürlich ist all das nur möglich, wenn auch das Unternehmen mitspielt. Evonik tut das. Der Konzern unterstützt das Projekt „GBR 2020“ sowohl ideell als auch materiell. Er finanziert die Schulungen und zeigt darüber hinaus seine Wertschätzung, indem Vorstandsmitglieder mit den Teilnehmern diskutieren. „Bei Evonik zeichnet uns eine erfolgreich gelebte Kultur der Mitbestimmung aus“, erklärt Evonik-Personalvorstand und Arbeitsdirektor Thomas Wessel. „Ich schätze unsere Betriebsräte als versierte und kompetente Gesprächs- und Verhandlungspartner.“ Es liege im Interesse des Unternehmens, dass die nächste Generation von Betriebsräten auf diese wichtige Aufgabe vorbereitet werde: „Um zukunftsfähig zu bleiben“, sagt Wessel, „brauchen wir auf Arbeitnehmerseite auch langfristig verlässliche Partner auf Augenhöhe.“

Betriebsrat 2020

Langfristig: Das Stichwort greift Ralf Hermann gerne auf. „Mit dem Projekt schaffen wir ein Fundament, das viele Jahre tragen kann“, sagt der Noch-Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats. „Die Altersstruktur im GBR wird sich dramatisch verändern.“ Dramatisch positiv diesmal. Und: Das soll noch nicht alles gewesen sein. Nach der Zentrale sollen nun auch die Einzelbetriebsräte die Chance zur intelligenten Nachfolgeplanung bekommen. Der Name des weiteren Programms, wenig überraschend: „Betriebsrat 2020“. Von den bisherigen Erfahrungen inspiriert, wenn auch zeitlich etwas abgespeckt sowie inhaltlich stärker auf die lokale Gremienarbeit und die fachliche wie politische Vernetzung ausgerichtet, wurde es zunächst für das größte Evonik-Werk in Marl ins Leben gerufen. Weitere Standorte werden folgen.

Und geht es nach Detlef Lüke, dem Leiter des IG-BCE-Bildungszentrums, dann müsste die Geschichte des Evonik-Projekts auch damit noch nicht ihren Schlusspunkt erreichen. „Ich habe die Hoffnung, dass sich auch andere Konzerne dafür interessieren“, sagt er. Zwar lasse sich das Modell nicht einfach als Blaupause nehmen und eins zu eins auf jedes Unternehmen übertragen. „Die Problemlagen, Konflikte, inhaltlichen Defizite und Mitbestimmungsstrukturen sind überall etwas anders“, erklärt Lüke. „Darauf muss das Programm individuell zugeschnitten werden, das braucht eine gründliche Vorbereitung.“ Grundsätzlich aber, davon ist der Gewerkschafter überzeugt, könne auch anderswo erreicht werden, was bei Evonik erreicht worden sei.

Die betrieblichen Erfinder des Programms bleiben derweil bescheiden. „Wir werden nicht als Wanderprediger übers Land ziehen und so tun, als hätten wir die Weisheit mit Löffeln gefressen“, sagt GBR-Chef Hermann. „Aber wenn wir gefragt werden, geben wir unsere Erfahrungen gerne weiter.“

Fotos: Jürgen Seidel, Evonik, BASF-SE / Hans-Juergen Doelger, Jürgen Seidel

WEITERE INFORMATIONEN

Die Evonik Industries AG mit Sitz in Essen ging 2007 aus dem „weißen Bereich“ der RAG (vormals Ruhrkohle AG) hervor. Ursprünglich als Mischkonzern angelegt, konzentriert sich Evonik mittlerweile auf die Produktion von Spezialchemikalien – für die Autoindustrie genauso wie für Farben, Futtermittel, Kosmetika oder Klebstoffe. Weltweit rund 33 500 Beschäftigte (davon knapp zwei Drittel in Deutschland) erwirtschafteten 2015 ein operatives Konzernergebnis von 2,47 Milliarden Euro.

Der 37-köpfige Gesamtbetriebsrat bei Evonik wurde 2011 per Tarifvertrag eingerichtet. Er ist rechtsträgerübergreifend, vertritt also die Beschäftigten sämtlicher Tochtergesellschaften bis hin zum Catering. Daneben gibt es an den deutschen Standorten 23 Einzelbetriebsräte mit insgesamt 250 Mitgliedern.

Der Deutsche Betriebsräte-Preis ist eine Initiative der Fachzeitschrift „Arbeitsrecht im Betrieb“. Seit 2009 werden damit alljährlich Praxis-Beispiele vorbildlicher Betriebsratsarbeit ausgezeichnet. In diesem Jahr wird der Preis am 10. November auf dem Deutschen Betriebsräte-Tag in Bonn verliehen. Von 88 Bewerbungen wurden 14 Projekte nominiert.

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