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Magazin Mitbestimmung

Studienreise: Detroit – eine Stadt stemmt sich gegen den Niedergang

Ausgabe 02/2016

Wie fühlt sich Sicherheit an – in armen und reichen Stadtvierteln? Was passiert, wenn die Mittelschicht nahezu komplett abwandert? Eine Stipendiatengruppe der Hans-Böckler-Stiftung recherchierte in Detroit und Chicago.  Von Irmgard Kucharzewski

Detroit. Eine Stadt, die mehr ist als eine Stadt, ein Symbol für eine glanzvolle Zeit wie für einen dramatischen Abstieg. Zu Glanzzeiten lebten mehr als zwei Millionen Menschen in der Industriemetropole, heute, nach dem Zusammenbruch der Autoproduktion, sind es 680 000. Abgewandert ist nahezu die gesamte Mittelschicht, Menschen mit Ausbildung und Aussicht auf eine neue Arbeit anderswo. Weil das vor allem Weiße sind, sind heute acht von zehn Einwohnern afroamerikanischer Herkunft. Und arm. Der Ruf, der Detroit vorauseilt, ist von Brutalität, Gewalt und Dreck bestimmt.

Wie fühlt es sich an, in einer schrumpfenden und stigmatisierten Stadt zu leben? Und welche formellen und informellen Initiativen bringen die Stadtentwicklung voran? 14 Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung mit einem Fächerspektrum von Stadt- und Regionalsoziologie bis Jura wollten es wissen: Nach Stationen im boomenden Chicago und dem Uni-Städtchen East Lansing geht es nach Detroit.

Stadt ohne Infrastruktur

Dass wir es mit einer vernachlässigten Infrastruktur zu tun haben, sehen wir sofort: Wer nicht – wie wir mithilfe unserer Gewerkschaftskontakte – einen Shuttlebus organisieren kann, für den gibt es keinen öffentlichen Nahverkehr. Allerorten sieht man Menschen auf Fahrrädern, die das Radeln augenscheinlich nicht als Kinder gelernt haben. Wacklig bewegen sie sich durch eine Stadt, der es nicht gut geht: Riesige Brachen ziehen an uns vorbei, manche hat sich die Natur längst zurückerobert. Schuttberge, abgebrannte Häuser, dann wieder eine Wohngegend. Auch dass in unmittelbarer Nähe zu Wohnvierteln mit Drogen gehandelt wird, können wir vom Bus aus sehen. Was wir nicht sehen, sind Fahrzeuge von Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst oder irgendeinen anderen Hinweis darauf, dass es hier noch eine funktionierende Stadtverwaltung gibt.

Tieferen Einblick verschaffen uns Gespräche mit Vertretern der United Automobile, Aeorospace and Agricultural Implement Workers of America (UAW), der Gewerkschaft, in der sich auch die ehemaligen Mitarbeiter von Ford organisieren – und die sehr aktiv ist. In der Diskussion mit den Kollegen der lokalen UAW Local 600 schildert uns zunächst der stellvertretende Vorsitzende A. J. Freer, welch großen Umbruch die Gewerkschaft hinter sich hat, die heute nicht nur in den Betrieben, sondern auch im sozialen Gefüge eine immense Rolle spielt. Und seine Kollegin Peaches Anderson fügt hinzu: „Wir kümmern uns um diejenigen, die Hunger leiden, um Kinder, die sonst kein Mittagessen bekommen, und auch um all die, die Probleme mit den Einwanderungsbehörden haben.“ Und, natürlich, um all die Dinge, die auch außerhalb Detroits Thema sind: den zunehmenden Einfluss der Regierung auf Gewerkschaften, Druck von konservativen Kräften und Unternehmen auf ihre Mitglieder und eine bis in die Bevölkerung reichende, weitverbreitete Skepsis gegenüber Gewerkschaftsarbeit.

Auch Rick Feldman ist Gewerkschafter. Mehr als 20 Jahre hat er bei Ford am Fließband gearbeitet, nun zeigt er uns, was von der einstigen Ford-Autostadt übrig geblieben ist: eine einzige Produktionsanlage, in der Lkw produziert werden. Als wir – auch das hatte die IG Metall für uns organisiert – in der Halle stehen, denken wir: Wie in einem Museum! Anschließend geht Rick mit uns noch einmal zurück an seinen ehemaligen Arbeitsplatz: Wir besichtigen Packard Plant, eine Anlage, die bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als Prototyp moderner Automobilproduktion galt. Heute steht sie leer. Und ist ein prominentes Motiv für Fotografen. Als Rick uns durch die Ruinen führt, sagt er, der Ort stehe für ihn symbolisch nicht nur für die Geburt des „American Dream“, sondern auch für die Qualen, die dieser auslöste. Dann schafft er es, dem, was viele nur als Untergang ansehen, etwas Positives abzugewinnen: Mit dem Ende der Autoindustrie sei hier auch die kapitalistische Epoche zu Ende gegangen, und habe Platz gemacht für eine Welt, die auf humaneren Werten beruht: „Mit mehr Gleichheit, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.“

Allerorten formiert sich Widerstand

Rick, der seit 30 Jahren für ein besseres Detroit kämpft und die vielen sozialen und gewerkschaftlichen Organisationen wie kein anderer kennt, erzählt: Die Zahl von Bürgerinitiativen sei massiv gestiegen. „Allerorten formiert sich Widerstand“, sagt Rick, „gegen die Schließung von Schulen, das Vorgehen der Zuwanderungsbehörden, gegen die Gewalt, der auch Kinder zum Opfer fallen.“ Immer mehr Menschen arbeiteten an einer Welt, in der Arbeit nicht nur über Erwerbsarbeit definiert wird und in der Menschen die Erde, von der sie leben, wertschätzen und sich in Bürgerinitiativen engagieren – in „networks of change“, wie Rick es nennt. 

Unser Besuch bei Kerstin Niemann bestätigt das. Die Deutsche betreibt seit 2010 ein „lebendes Archiv urbaner Initiativen sozialer und künstlerischer Bewegungen“. Berlin ist out, Detroit ist in, sagt sie. Ihr Haus, das unter dem Namen FILTER bekannt ist, steht für das, was an vielen Orten passiert: Vor allem junge Kreative fühlen sich von Detroit angezogen – hier ist Platz für Neues. Für Urban Gardening zum Beispiel, dessen Produkte mancherorts bereits die Supermarktware ersetzen. Durch den Eigenanbau, erläutert uns Wayne Curtis von den „Feedom Freedom Growers“, soll nicht nur gesundes Obst und Gemüse wachsen, sondern den Menschen ihre Würde zurückgegeben und Kindern wieder mehr Sicherheit und ein Stück Zukunft vermittelt werden.

Als wir Detroit verlassen, sinnieren wir noch lange darüber, wie es gerade in Zeiten immenser struktureller Missstände immer wieder Menschen gibt, die sich dem Niedergang entgegenstemmen. Und die inmitten von Perspektivlosigkeit Auswege finden.

Studienreise in die USA: Wie Arm und Reich die Städte zerreisst

Die Studienreise drehte sich um das auch hierzulande heiß diskutierte Thema: „Räumliche Sicherheit“: Wie fühlt sich (Un-)Sicherheit in reichen, wie in armen Stadtvierteln an? Welche sozialen Ursachen hat dies? Gibt es technische Lösungen? Was kann Stadtplanung bewirken? Und: Können und wollen wir von den USA lernen? 

Vierzehn Böckler-Stipendiatinnen und -Stipendiaten hatten das Programm dieser Studienreise in die USA im August 2015 vorbereitet zusammen mit der Stadtsoziologin und Vertrauensdozentin Anja Szypulski und Irmgard Kucharzewski, die das Studienförderungsreferat B leitet. Auch mehrere Ortstermine wurden von den Studierenden und Promovierenden organisiert. 

Neben Detroit besuchte die Gruppe Chicago und East Lansing. In Chicago erlebten sie den eklatanten Unterschied zwischen einer boomenden Downtown und den armen Randbezirken und wie offensichtlich die Kluft ist zwischen Arm und Reich – mit dem Resultat, dass die Mittelschicht sich immer stärker abschottet. Oder sich auch in Sicherheit bringt, während das andere Ende der Gesellschaft in immer unsichereren Verhältnissen lebt und kein Geld hat, um auch nur einen naheliegenden Arbeitsplatz zu erreichen.

In East Lansing stand der Besuch einer der staatlichen Top-universitäten auf dem Programm, der Michigan State University, die eine eigene Polizeistation mit 80 Polizisten unterhält. Bildung, konnte man dort lernen, hat ihren Preis: Bis zu 25.000 US-Dollar zahlen Studierende pro Semester – und damit auch für Videoüberwachung und andere Maßnahmen, die für ihre Sicherheit sorgen sollen.

Mehr Infos Irmgard-Kucharzewski(at)boeckler.de

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