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HBS Böckler Impuls

Tarifrecht: Was Tarife regeln können

Ausgabe 03/2016

Tarifverträge dürfen nicht nur Löhne und Arbeitszeiten regeln. Auch strategische Vorgaben zu Investitionen, Personalbemessung oder Werkverträgen sind rechtlich zulässig.

Weil das Pflegepersonal der Berliner Charité chronisch überlastet war, wollte Verdi im Sommer 2015 konkrete Verbesserungen in einem Tarifvertrag festschreiben lassen. Die Forderung: nachts mindestens zwei Pflegekräfte pro Station sowie Personalschlüssel von eins zu zwei in der Intensivmedizin und eins zu fünf in der Normalpflege. Als die Gewerkschaft mit Streik drohte, zog die Klinikleitung vor Gericht. Ihr Argument: Bei der Streikforderung handle es sich um einen „grob rechtswidrigen Eingriff in die Unternehmerfreiheit“. Die Richter sahen das anders – und zwar zu Recht, wie Wolfgang Däubler betont. Der Juraprofessor hat in einem Gutachten für das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht erörtert, wie weit Tarifverträge in die Unternehmenspolitik eingreifen dürfen. Seiner Analyse zufolge kann prinzipiell der „Gesamtbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ tariflich geregelt werden. Grundrechte der Arbeitgeberseite stünden dem nur in Ausnahmefällen im Wege.

Tatsächlich hätten zahlreiche bestehende Tarifverträge unternehmenspolitischen Charakter, schreibt Däubler. Die Rechtsprechung habe diese Verträge in aller Regel als rechtmäßig anerkannt. Ein Beispiel seien Vereinbarungen zur Personalbemessung – wie sie Verdi von der Charité verlangt hat. Die Zulässigkeit solcher Vorgaben folge schon daraus, dass sie mit Regelungen für Erholungszeiten vergleichbar sind, die zu den traditionellen Gegenständen der Tarifpolitik gehören.

Als einen anderen potenziellen Verhandlungsgegenstand nennt der Rechtswissenschaftler Kündigungen. Es sei ohne Weiteres möglich, betriebsbedingte Kündigungen per Tarif einzuschränken oder sogar ganz auszuschließen. Schließlich sei es Arbeitgebern durchaus zuzumuten, Beschäftigte umzuschulen oder zu versetzen. Außerordentliche Kündigungen seien nur dann unumgänglich, wenn anderenfalls die Existenz eines Unternehmens gefährdet ist.

Ähnlich viel Spielraum gibt es der Studie zufolge bei tariflichen Sozialplänen: Das Bundesarbeitsgericht habe entschieden, dass diese auch dann zulässig sind, wenn ihr finanzielles Volumen eine geplante Umstrukturierung oder Standortverlagerung wirtschaftlich uninteressant machen würde. Das heißt: Gewerkschaften könnten zumindest mittelbar Verlagerungen zum Gegenstand von Arbeitskämpfen machen, ohne ein rechtliches Risiko einzugehen.

Auch gegen tarifliche Verbote von Outsourcing hätten die Arbeitsgerichte prinzipiell keine Einwände, so Däubler. Die Vergabe von Werkverträgen könnte per Tarif begrenzt oder von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht werden. Rechtlich möglich seien darüber hinaus Tarifverträge, die Mindeststandards für die Arbeitszeiten oder die Entlohnung von Werkvertragsarbeitern vorschreiben.

Wie weit die Möglichkeiten zur strategischen Mitgestaltung per Tarifvertrag reichen, zeigen auch die sogenannten Standortsicherungsverträge: Als Gegenleistung für Zugeständnisse der Beschäftigten beispielsweise beim Lohn verpflichtet sich der Arbeitgeber zum Erhalt von Jobs. Däubler nennt als Beispiel ein Unternehmen aus dem Lebensmitteleinzelhandel, das einem detaillierten Investitionsplan zugestimmt hat. Die Einhaltung überwache eine Kommission aus Vertretern der Verdi-Tarifkommission und des Betriebsrats.

Weitreichende Abmachungen sind nicht nur mit dem aktuellen, sondern sogar mit dem künftigen Arbeitgeber möglich – in Form von „Investorenverträgen“ zwischen Gewerkschaften und den Käufern von Unternehmen. Einen solchen Vertrag habe beispielsweise die IG BAU im Dezember 2010 mit dem spanischen Konzern ACS abgeschlossen, der damals eine Übernahme von Hochtief plante. Der Inhalt: Hochtief bleibt eine eigenständige, mitbestimmte Gesellschaft mit Sitz der Hauptverwaltung in Essen, es gibt keine Änderung bei der Mitbestimmung oder den Arbeitsbedingungen, Arbeitsdirektoren werden nur nach Absprache mit den Gewerkschaftsvertretern berufen.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen unternehmenspolitische Tarifverträge hält Däubler für unbegründet. Grundrechte wie die Unternehmerfreiheit dienten traditionell dem Schutz vor „sozialer Übermacht“. Gewerkschaften seien aber nicht mächtiger als Arbeitgeber, sondern Verhandlungspartner auf Augenhöhe. Die Grenze des Zulässigen sei erst dann überschritten, wenn ein Betrieb in Existenzschwierigkeiten gebracht wird. Auch das EU-Recht stellt der Analyse zufolge keinen Hinderungsgrund dar: Zwar könnten sich Unternehmen, die Aktivitäten ins europäische Ausland verlagern möchten, auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Der Europäische Gerichtshof habe allerdings klargestellt, dass tarifliche Eingriffe in diese Grundfreiheit gerechtfertigt sind, wenn es um die Beibehaltung bestehender Jobs oder Arbeitsbedingungen geht.

  • Beschäftigte in West und Ost arbeiten überwiegend in Betrieben, die entweder tarifgebunden sind oder sich bei der Bezahlung am Flächentarif orientieren. Zur Grafik

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