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Neue Untersuchung: Warum gründen Beschäftigte einen Betriebsrat? Welche Faktoren entscheiden über den Erfolg?

14.07.2016

Wenn Beschäftigte einen Betriebsrat gründen, können dafür akute Krisen oder langjährige Missstände ausschlaggebend sein. Die Erfolgschancen steigen, wenn es engagierte Beschäftigte, eine geschlossene Belegschaft und Unterstützung durch Gewerkschaften gibt, zeigt ein aktuelles Forschungsprojekt.

Unternehmensgründungen sind Gegenstand reger wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Betriebsratsgründungen sind dagegen als Forschungsgebiet noch weitgehend unerschlossen. Prof. Dr. Ingrid Artus, Clemens Kraetsch und Dr. Silke Röbenack von der Universität Erlangen-Nürnberg haben sich daran gemacht, das zu ändern. Die Soziologen haben in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie untersucht, wie und warum, in welchen Betrieben, unter welchen Bedingungen und mit welchen Erfolgschancen neue Arbeitnehmervertretungen entstehen. Dafür haben sie 54 Betriebsratsgründungen in unterschiedlichen Branchen analysiert. Grundlage der Fallstudien sind ausführliche Interviews mit Arbeitnehmervertretern und Managern.

Der Auswertung zufolge durchlaufen Betriebsratsgründungen typischerweise fünf Phasen. Das Stadium ohne formelle Interessenrepräsentation geht über in die „Latenzphase“, wenn bei einem kleinen Kern der Belegschaft die Idee zur Einrichtung einer offiziellen Vertretung keimt und erste Kontakte zu Gewerkschaften geknüpft werden, schreiben die Forscher in den WSI Mitteilungen. Der folgende Zeitraum – zwischen der Einleitung rechtlich verbindlicher Schritte und der Wahl – zeichnet sich durch eine „erheblich dynamisierte Meinungs- und Gruppenbildung“ aus. Mit der Wahl beginnt die „Konstituierungsphase“. Die frisch gekürten Vertreter müssen ein handlungsfähiges Kollektiv bilden, sich qualifizieren und einarbeiten, um letztlich „vertretungswirksam“ zu werden, also ein „aktives Repräsentationsverhältnis“ zwischen Betriebsrat und Belegschaft sowie eine „hinreichend funktionierende Aushandlungs- und Anerkennungsbeziehung“ mit der Geschäftsleitung zu etablieren.

Kulturbruch oder langes Leiden. Wie dieser Prozess im Einzelnen verläuft, hängt nach Einschätzung der Wissenschaftler in erster Linie von zwei Faktoren ab. Zum einen spiele die „Mobilisierungsdynamik“ eine wichtige Rolle – Anlass für eine Betriebsratsgründung kann entweder ein punktuelles Ereignis oder ein „langes Leiden“ der Belegschaft sein. Zum anderen sei maßgeblich, ob der Betriebsrat als legitime Vertretung aller Beschäftigten wahrgenommen wird oder nicht. Dabei unterscheiden die Autoren fünf idealtypische Varianten.

  1. Die Variante „Betriebsrat als Schutz der gemeinschaftlichen Sozialordnung“ findet sich häufig in industriellen Mittel- und Kleinbetrieben mit qualifizierter Belegschaft. Angesichts einer „informellen Kooperationskultur“ mit vertrauensvollem Geben und Nehmen zwischen Geschäftsführung und Belegschaft gelten Betriebsräte lange Zeit als verzichtbar – bis ein einschneidender Vorfall wie eine Insolvenz, ein Geschäftsführungswechsel oder ein Verkauf für starke Mobilisierung sorgt. Eine gewisse „branchenspezifische Mitbestimmungsnähe“, Gewerkschaftskontakte und eine stabile Sozialordnung mit klar verteilten Rollen begünstigen einen zügigen und erfolgreichen Gründungsverlauf.
  2. In sogenannten Wissensbetrieben mit hochqualifizierten, selbstbewussten Beschäftigten ist eher der „Betriebsrat als Erweiterung der individuellen Interessenvertretung“ verbreitet, der als Reaktion auf langwierige Probleme wie schleichend zunehmende Intransparenz und Ungerechtigkeit oder Autonomiebeschränkungen gegründet wird. Zuvor gilt es, die Arbeitnehmer zu überzeugen, dass die gewohnten Muster individueller Interessenvertretung nicht mehr ausreichen. Als problematisch erweisen sich oft das eher gewerkschaftsferne Milieu und die heterogenen Interessen innerhalb der Belegschaft. Nach einer turbulenten Anfangsphase festigt der Betriebsrat seine Position durch professionelle Arbeit.
  3. Der „Betriebsrat als Mittel kollektiver Emanzipation“ ist typisch für Dienstleistungsbetriebe mit prekären Arbeitsbedingungen wie Call Center, Pflegedienste oder Filialen der Systemgastronomie. Er stellt eine Reaktion auf die jahrelange Verletzung von Ansprüchen auf Würde und Anerkennung durch autokratische Führung, Niedriglöhne und Gesundheitsrisiken dar. Erschwert wird die Gründung durch repressive Managementmethoden, große Randbelegschaften und erhebliche Fluktuation beim Personal. Dank enger Zusammenarbeit mit Gewerkschaften sind erste Erfolge durch das Einklagen arbeitsrechtlicher Standards schnell möglich.
  4. Der „Betriebsrat als Vertretung von Partialinteressen“ entsteht als Reaktion auf Einzelereignisse, die allerdings nur Teile der Belegschaft betreffen. Die Initiative geht nicht selten vom mittleren Management aus, das mithilfe des Betriebsverfassungsgesetzes seine Autonomiespielräume verteidigen oder bestimmte Entscheidungen der Geschäftsführung rückgängig machen will. Ein solcher Machtkampf geht oft einher mit massiven Einschüchterungsversuchen, Behinderung der Wahlen und mangelhafter Unterstützung durch die Gesamtbelegschaft. Entsprechend gering sind die Erfolgsaussichten.
  5. Im Falle der „blockierten Partizipation“ lassen chronische Missstände die Idee der Gründung regelmäßig aufflackern. Allerdings fehlen überzeugende, entschlossene und repräsentative Akteure. Ein verbreiteter Grund dafür ist eine gespaltene Belegschaft, weil beispielsweise Abteilungen miteinander konkurrieren. Die Folge: Repressionsstrategien haben leichtes Spiel, was wiederum die Gräben vertieft. Betriebsräte entwickeln vor diesem Hintergrund kaum Professionalität und Wirksamkeit.

Den Forschern zufolge sind unter den untersuchten Fällen Krisengründungen in der Minderheit, es überwiegen die Reaktionen auf langwierige Mängel. Dies lasse vermuten, dass die Beschäftigten zahlreicher nicht mitbestimmter Betriebe zwar Interesse an einer Vertretung haben, dass jedoch „der letzte Funke, die richtigen Personen, die nötigen Informationen“ fehlen. Für eine erfolgreiche Gründung seien nicht nur tatkräftige und durchsetzungsfähige Sprecher nötig, sondern im Regelfall auch Hilfe von außen, also von Gewerkschaften oder Gesamtbetriebsräten – insbesondere wenn mit Schikanen durch das Management zu rechnen ist. „Betriebsratsgründungen machen den Gewerkschaften oft viel Arbeit, sie haben jedoch auch einiges dabei zu gewinnen“, so die Sozialwissenschaftler.

Weitere Informationen:

Ingrid Artus, Clemens Kraetsch, Silke Röbenack: Betriebsratsgründungen. Typische Phasen, Varianten und Probleme (pdf), in: WSI-Mitteilungen 3/2016.

Kontakt:

Dr. Stefan Lücking
Forschungsförderung, Schwerpunkt Mitbestimmung im Wandel

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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