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EU-Vergleich des IMK: Lohn- und Arbeitskosten: Deutschland weiter auf Position acht – Normalisierung beim Zuwachs, Rückstand noch nicht aufgeholt

11.07.2016

Deutschland rangiert bei den Lohn- und Arbeitskosten für die private Wirtschaft wie in den Vorjahren im westeuropäischen Mittelfeld – Ende 2015 lag die Bundesrepublik unverändert an achter Stelle unter den EU-Ländern. Mit nominal 2,7 Prozent lag der Zuwachs der deutschen Arbeitskosten 2015 oberhalb des Durchschnitts von EU (2,2 Prozent) und über dem sehr niedrigen Mittel des Euroraums (1,6 Prozent). Effekte des gesetzlichen Mindestlohns auf die gesamtwirtschaftliche Arbeitskostenentwicklung sind zwar nicht eindeutig auszumachen, es zeigen sich aber in einigen Dienstleistungsbranchen positive Lohneffekte. Trotz des etwas stärkeren Anstiegs hat Deutschland seinen über Jahre aufgelaufenen Rückstand bei der Entwicklung von Löhnen, Arbeitskosten und Lohnstückkosten noch nicht wieder aufgeholt, was auch zum erneuten Rekordüberschuss der deutschen Leistungsbilanz von 8,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beigetragen hat. Zu diesen Ergebnissen kommt der neue Arbeits- und Lohnstückkostenreport, den das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung heute auf einer Pressekonferenz in Berlin vorstellt.

„Nachdem sich die deutschen Arbeitskosten in der Privatwirtschaft in den gesamten 2000er Jahren deutlich geringer als der EU-Durchschnitt entwickelt haben, scheint sich die Entwicklung seit 2011 in Deutschland langsam zu normalisieren“, schreiben die Wissenschaftler. Die Arbeitskosten spiegelten die kräftigere Entwicklung bei den Löhnen wider, die zuletzt wesentlich dazu beitrug, die hartnäckige Nachfrageschwäche bei den privaten Haushalten zu überwinden. „Dass die deutsche Wirtschaft in einem schwierigen internationalen Umfeld noch ganz passabel wächst, ist vor allem dieser Normalisierung zu verdanken“, sagt Prof. Dr. Gustav A. Horn, der wissenschaftliche Direktor des IMK. „In Zeiten von Wachstumsschwäche in den Schwellenländern, von Brexit und nachwirkender Euroraum-Krise würden wir mit dem alten einseitig exportorientierten Wachstumsmodell Schiffbruch erleiden.“

Dabei konstatieren die Ökonomen in der längerfristigen Betrachtung allerdings noch einige Luft nach oben: Zwischen 2000 und 2015 nahmen die Arbeitskosten laut IMK in der Privatwirtschaft in der EU um durchschnittlich 2,8 Prozent pro Jahr zu, im Euroraum um 2,5 Prozent. Das Wachstum in Deutschland lag in diesem Zeitraum lediglich bei 2,0 Prozent im Jahresdurchschnitt – EU-weit der drittniedrigste Wert nach Griechenland (0,5 Prozent) und Portugal (1,8 Prozent), wo die Arbeitskosten im Zuge der Krise in den vergangenen Jahren zeitweise stagnierten oder sogar sanken.

In welchem Maße sich der Angleichungsprozess in diesem Jahr fortsetzt, ist nach Analyse des IMK noch offen. Zwar hat das Statistische Bundesamt für das 1. Quartal 2016 kürzlich einen Anstieg um 3,3 Prozent gemeldet. Da die Quartalswerte aber von Stichtagen abhängen, zu denen beispielsweise Tarifabschlüsse oder gesetzliche Änderungen wirksam werden, schwankten sie erfahrungsgemäß innerhalb eines Jahres sehr stark. Die Ökonomen haben die Quartalsentwicklung der vergangenen 15 Jahre unter die Lupe genommen. Ihr Ergebnis: In all den Jahren, in denen die Arbeitskosten im 1. Quartal um mindestens drei Prozent stiegen, lagen die endgültigen Jahresdurchschnittswerte unter dieser Marke – nicht selten deutlich. Das sei auch in diesem Jahr zu erwarten.

Lohnstückkostenentwicklung: 12 Prozent unter dem Mittel des Euroraums ohne Deutschland
Auch bei den für die internationale Wettbewerbsfähigkeit wichtigeren Lohnstückkosten weist Deutschland für den Zeitraum von 2000 bis ins 1. Quartal 2016 weiterhin eine moderate Tendenz auf. Trotz einer ebenfalls etwas stärkeren Steigerung in den vergangenen Jahren sind die deutschen Lohnstückkosten seit Beginn der Währungsunion deutlich schwächer gestiegen als in allen anderen in der Studie betrachteten Mitgliedsstaaten des Euroraums mit Ausnahme Irlands und schwächer, als mit dem Inflationsziel der EZB vereinbar ist. Die deutsche Lohnstückkostenentwicklung lag zuletzt laut IMK immer noch um kumuliert gut 12 Prozent unter dem Durchschnitt des Euroraums ohne Deutschland. Das langjährige extrem schwache Wachstum der deutschen Lohnstückkosten trug zu den ausgeprägten wirtschaftlichen Ungleichgewichten im Euroraum bei.

Eine langfristig „stabilitätskonforme“ Wachstumsrate liegt nach Analyse des IMK bei zwei Prozent pro Jahr – nahe an der EZB-Zielinflationsrate. Dieser Wert sei 2015 in Deutschland zwar erreicht worden, während die Rate im Euroraum bei sehr niedrigen 1,2 Prozent lag. Im längerfristigen Durchschnitt seit 2000 nahmen die deutschen Lohnstückkosten aber nur um ein Prozent im Jahr zu. Das zeige, dass weiterhin Spielraum und erheblicher Nachholbedarf bei der Stärkung der inländischen Nachfrage bestehe, so die Forscher. „Die deutschen Exporte haben sich seit Anfang 2000 real mehr als verdoppelt, während die Binnennachfrage preisbereinigt gerade einmal um rund 11 Prozent zulegte“, schreiben die Studienautoren Dr. Alexander Herzog-Stein, Prof. Dr. Camille Logeay, Dr. Ulrike Stein und Dr. Rudolf Zwiener.

Um künftig gefährlichen Ungleichgewichten in der Währungsunion vorzubeugen, empfehlen die Ökonomen in Deutschland und europaweit eine makroökonomisch ausgerichtete Lohnpolitik, die sich an der Summe aus EZB-Zielinflation und dem längerfristigen Trend des Produktivitätszuwachses orientiert. Dabei sehen sie auch die Politik am Zuge: Unterstützung bei der Reichweite von Tarifverträgen helfe bei der Stabilisierung ebenso wie konsequente staatliche Investitionen. Halte sich der Staat fiskalpolitisch zu sehr zurück – wie beispielsweise in der Bundesrepublik – könne das die Lohnpolitik als dann einzige Stütze der Binnennachfrage überfordern, geben die Ökonomen zu bedenken.

Arbeitskosten 2015: 32,70 Euro pro Stunde
Zu den Arbeitskosten zählen neben dem Bruttolohn die Arbeitgeberanteile an den Sozialbeiträgen, Aufwendungen für Aus- und Weiterbildung sowie als Arbeitskosten geltende Steuern. Das IMK nutzt für seine Studie die neuesten verfügbaren Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat.

2015 mussten deutsche Arbeitgeber in der Privatwirtschaft (Industrie und privater Dienstleistungsbereich) 32,70 Euro pro geleistete Arbeitsstunde aufwenden (siehe auch Tabelle 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Höher liegen die Arbeitskosten in sieben Ländern: In Dänemark, Belgien, Schweden, Luxemburg, Frankreich, Finnland und den Niederlanden müssen zwischen 43 und 33,30 Euro pro Stunde ausgegeben werden. Fast gleichauf mit den deutschen sind die Arbeitskosten in Österreich (32,60 Euro). Der Durchschnitt des Euroraums liegt bei 29,50 Euro. Etwas darunter folgen Großbritannien, das 2015 Arbeitskosten von 29,10 Euro auswies, Irland (28,70) und Italien (27,30 Euro). In den übrigen südeuropäischen EU-Staaten betragen sie zwischen 21,10 Euro (Spanien) und 12,50 Euro (Malta). Die „alten“ EU-Länder Griechenland und Portugal liegen mittlerweile hinter dem EU-Beitrittsland Slowenien, wo 15,80 Euro aufgewendet werden müssen. In Estland, der Slowakei, der Tschechischen Republik, Kroatien, Polen, Ungarn und Lettland betragen die Stundenwerte zwischen 10,80 und 7,50 Euro. In diesen Ländern waren die Steigerungsraten mit bis zu 7,4 Prozent im vergangenen Jahr überdurchschnittlich, während die Entwicklung in den meisten (ehemaligen) Krisenländern, aber auch in Belgien und den Niederlanden nahezu stagnierte. Schlusslichter sind Rumänien und Bulgarien mit Arbeitskosten von 5 bzw. 4,10 Euro pro Stunde.

Nach Mindestlohn-Einführung wächst Abstand zwischen Industrie und Dienstleistungen erstmals nicht weiter
Im Verarbeitenden Gewerbe betrugen 2015 die Arbeitskosten in Deutschland 38 Euro pro Arbeitsstunde. Im EU-Vergleich steht die Bundesrepublik damit wie im Vorjahr an vierter Stelle als Teil einer größeren Gruppe von Industrieländern, die deutlich über dem Euroraum-Durchschnitt von 32 Euro liegen. Dazu zählen auch Belgien mit industriellen Arbeitskosten von 43,30 Euro, Dänemark (42,40 Euro), Schweden (41,10 Euro) sowie Frankreich (37 Euro), Finnland (36,80 Euro), die Niederlande (34,80 Euro), und Österreich (35,20 Euro). Dabei ist nicht berücksichtigt, dass das Verarbeitende Gewerbe in der Bundesrepublik stärker als in jedem anderen EU-Land von günstigeren Vorleistungen aus dem Dienstleistungsbereich profitiert (siehe folgenden Abschnitt). 2015 stiegen die industriellen Arbeitskosten in Deutschland um 2,7 Prozent. Im Durchschnitt von EU und Euroraum waren es 2,0 bzw. 1,8 Prozent.

Im privaten Dienstleistungssektor lagen die deutschen Arbeitskosten 2014 mit 29,90 Euro weiterhin an neunter Stelle nach den nordischen EU-Staaten, den Benelux-Ländern, Frankreich und Österreich. Den höchsten Wert wies Dänemark mit 43,60 Euro aus, der Durchschnitt im Euroraum beträgt 28,50 Euro, in der gesamten EU 25,60. 2015 stiegen die Arbeitskosten im deutschen Dienstleistungssektor um 2,7 Prozent. Damit lag der Zuwachs über dem Durchschnitt in EU (2,2 Prozent) und Euroraum (1,5 Prozent).

Dass der Anstieg bei den Dienstleistungen in Deutschland anders als in den meisten Vorjahren nicht hinter dem in der Industrie zurückgeblieben ist, erklären die Forscher des IMK auch mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Dessen Wirkungen seien zwar auf Ebene der Gesamtwirtschaft nicht eindeutig zu identifizieren. In verschiedenen Dienstleistungsbranchen, in denen zuvor viele Beschäftigte für Stundenlöhne unter 8,50 Euro arbeiteten, ließen sich aber deutliche Lohneffekte ausmachen. „Somit kann davon ausgegangen werden, dass die Arbeitskostenentwicklung in der Privatwirtschaft und insbesondere dem Dienstleistungssektor im Jahr 2015 durch den Mindestlohn positiv beeinflusst wurde“, schreiben die Wissenschaftler.

Industrie kann Vorleistungen günstiger einkaufen
Gleichwohl bleibt der Abstand der Arbeitskosten zwischen Verarbeitendem Gewerbe und Dienstleistungssektor weiterhin größer als in jedem anderen EU-Land, so das IMK. Er betrug Ende 2015 mehr als 21 Prozent. Vom vergleichsweise niedrigen Arbeitskostenniveau in den deutschen Dienstleistungsbranchen profitiert auch die Industrie, die dort Vorleistungen nachfragt. Dadurch entsteht eine Kosteneinsparung für die Industrie von acht bis zehn Prozent oder rund 3 Euro pro Stunde. Während der Dienstleistungssektor die Industrie hierzulande entlaste, sei es insbesondere in den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern umgekehrt, so die Forscher.

Weitere Informationen:

Alexander Herzog-Stein, Camille Logeay, Ulrike Stein, Rudolf Zwiener: Deutsche Arbeitskosten auf Stabilitätskurs. Arbeits- und Lohnstückkostenentwicklung 2015 im europäischen Vergleich. IMK Report Nr. 116, Juli 2016.

Videostatement von Dr. Alexander Herzog-Stein

Kontakt:

Prof. Dr. Gustav A. Horn
Wissenschaftlicher Direktor IMK

Ulrike Stein, PhD
IMK

Alexander Herzog-Stein, PhD
IMK

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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