zurück
Pressemitteilungen

24 der 50 größten: Familienunternehmen: Nur die Hälfte im Aufsichtsrat mitbestimmt

07.07.2016

Bei rund der Hälfte der 50 größten deutschen Familienunternehmen haben die Beschäftigten nicht die Mitbestimmungsmöglichkeiten, die für Unternehmen dieser Größe eigentlich vorgesehen sind. Insbesondere mittelgroße familiengeführte Firmen sowie Handelskonzerne nutzen Lücken in den Mitbestimmungsgesetzen aus, um die Mitbestimmung im Aufsichtsrat zu vermeiden. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung. Wie die Familienstreitigkeiten bei Aldi Nord exemplarisch zeigen, gehen mitbestimmungsvermeidende Familienunternehmen erhebliche Risiken für ihre Stabilität ein, warnen die Experten.

„In der vergangenen Woche hat Bundespräsident Joachim Gauck die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Kulturgut bezeichnet, das prägend ist für unsere soziale Marktwirtschaft. Da irritiert es schon sehr, dass sich ausgerechnet unter Familienunternehmen viele dieser Kultur entziehen“, sagt Michael Guggemos, Sprecher der Geschäftsführung der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. „Es passt nicht, wenn Familienunternehmen sich in Sonntagsreden als gute Arbeitgeber aufspielen – und im Alltag ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern echte Beteiligung verweigern. Denn diese haben das größte Interesse daran, dass ihr Unternehmen auch morgen noch Erwerb und Arbeitsplatz bietet. Die Querelen bei Aldi Nord zeigen sehr eindrücklich, wie gefährlich es ist, wenn Familienunternehmen dieses Korrektiv nicht haben.“

In ihrer Auswertung haben die Experten der Hans-Böckler-Stiftung Daten des Instituts für Familienunternehmen (IFF) zu den 50 größten Familienunternehmen mit dem Mitbestimmungsstatus der Firmen abgeglichen. Dabei zeigt sich, dass lediglich 24 einen Aufsichtsrat mit Arbeitnehmermitbestimmung aufweisen. Da aber laut IFF 47 Unternehmen jeweils mindestens 8.000 Beschäftigte haben, müssen sehr viel mehr Familienunternehmen den Schwellenwert im Mitbestimmungsgesetz überschreiten. Das sieht vor, dass ab 2.000 Beschäftigten in Deutschland Arbeitnehmervertreter die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat erhalten.

Die Juristen der Stiftung beobachten einen deutlichen Größeneffekt. Unter den laut IFF umsatzstärksten zehn Familienunternehmen ist die Mehrheit mitbestimmt, unter den zehn kleinsten hingegen nur ein Drittel. Allerdings gibt es auch am obersten Ende der Liste prominente Gegenbeispiele: Die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland ist beispielsweise ebenso wenig mitbestimmt wie Aldi Süd und Nord. Keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat haben beispielsweise auch Phoenix Pharmahandel, die Dr. August Oetker KG, die Würth GmbH & Co. KG und die Textilkette C & A.

Insgesamt gehen die Experten der Hans-Böckler-Stiftung davon aus, dass in Deutschland mehr als 800.000 Beschäftigte um die paritätische Mitwirkung im Aufsichtsrat gebracht werden. Wie Strategien zur Aushebelung von Mitbestimmungsrechten funktionieren, haben sie bereits in mehreren Studien herausgearbeitet. Beispiel Aldi: Die rechtlich unabhängigen Unternehmen Aldi Süd und Aldi Nord, die zusammen weltweit 170.000 und deutschlandweit 66.000 Menschen beschäftigen, werden durch zwei Familienstiftungen gesteuert. Den Stiftungen können die Arbeitnehmer nicht zugerechnet werden, weil diese vom Mitbestimmungsgesetz nicht erfasst werden. Daher kommen sie auch nicht als „herrschende Unternehmen“ in Betracht, die einen mitbestimmten Aufsichtsrat bilden müssen. Unterhalb der Stiftungsebene operieren verschiedene Regionalgesellschaften, die gerade so groß sind, dass sie die Schwelle von 2.000 Mitarbeitern für die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes nicht überschreiten. Die gewählte Form der GmbH & Co. KG stellt zugleich sicher, dass es auch keine Drittelbeteiligung gibt, weil diese Unternehmensart vom Gesetz ausgenommen ist. Auf diese Weise werde den Aldi-Beschäftigten komplett ihr Recht auf unternehmerische Mitbestimmung vorenthalten.

Eine weitere Möglichkeit, sich der Mitbestimmung zu entziehen, bietet die Europäische Aktiengesellschaft (SE). Die Praxis zeige, dass Unternehmen regelmäßig kurz vor Erreichen der Schwellenwerte von 500 Mitarbeitern für die Drittelbeteiligung oder 2.000 für die 1976er-Mitbestimmung zur SE umgewandelt werden. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo der Mitbestimmungsrechte also eingefroren wird, können sich Firmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden. Die Experten der Stiftung gehen mit dem Jenaer Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Walter Bayer von etwa 50 Unternehmen aus, die aufgrund dieses Mechanismus nicht paritätisch mitbestimmt sind.

Auch Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise der Ltd. & Co. KG können zur Umgehung von Arbeitnehmerrechten instrumentalisiert werden. Denn die deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, als die weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht absehbar war. Deshalb beziehen sie sich die Vorschriften in ihrem Wortlaut auf Unternehmen in deutscher Rechtsform. Kombinieren Firmen deutsche und ausländische Rechtsformen, fallen sie nach herrschender Meinung nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das ist nach europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihren Sitz und den Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben. Die Zahl der in Deutschland ansässigen größeren Unternehmen mit einer solchen Rechtsform steigt kontinuierlich: Im Juni 2014 gab es 94 Firmen mit jeweils mehr als 500 Arbeitnehmern, denen so Mitsprache im Aufsichtsrat verweigert wird. 2005 betrug die Zahl 46, 2010 waren es 70.

Kontakt:

Dr. Lasse Pütz
Experte für Unternehmensrecht

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen