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Europa-Prognose von IMK und europäischen Partnern: Wirtschaftswachstum in der EU schwächt sich ab – neue Impulse nur durch Investitionspolitik

24.11.2016

Das Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union wird in den kommenden beiden Jahren etwas zurückgehen. Dadurch dürfte sich der Rückgang der Arbeitslosigkeit weiter abschwächen, der bislang ohnehin nur moderat ist: Selbst beim gegenwärtigen Tempo würde es bis 2023 dauern, bis die Arbeitslosigkeit in der EU wieder das Niveau vor der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise erreicht. Besonders stark betroffen sind junge Menschen – mit schwer wiegenden individuellen und gesellschaftlichen Folgen: „Auf lange Sicht reduziert das das Zugehörigkeitsgefühl junger Leute zu Europa, was die politische Krise weiter anfeuern wird.“ Daher wird es immer dringlicher, dass die europäischen Staaten durch nachhaltig verstärkte öffentliche Investitionen neue Impulse setzen. Zu diesem Ergebnis kommen das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung und seine Partnerinstitute in ihrer neuen Prognose und Analyse der europäischen Wirtschaftspolitik.

Die Wirtschaft wird danach 2016 im EU-Durchschnitt um 1,9 Prozent wachsen. 2017 verlangsamt sich die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 1,6 Prozent. 2018 wird das BIP um 1,5 Prozent zunehmen, prognostizieren das IMK, das Observatoire Francais des Conjonctures Economiques (OFCE, Paris), der Economic Council of the Labour Movement (ECLM, Kopenhagen) und die Arbeiterkammer Wien (AK Wien) in ihrer „Independent Annual Growth Survey“ (IAGS). Die Studie stellt eine Alternative zur gerade veröffentlichten „Annual Growth Survey“ (AGS) der EU-Kommission dar. „In einem zentralen Punkt liegen wir und die AGS in diesem Jahr aber ziemlich nahe beieinander: Die europäischen Staaten müssen dringend mehr investieren und dafür muss der finanzpolitische Gürtel gelockert werden“, sagt Dr. Andrew Watt, Abteilungsleiter des IMK. „Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble irrt sich, wenn er das abstreitet, die Kommission kritisiert und stattdessen auf weitere Konsolidierung und sogenannte Strukturreformen setzt.“

Die Konjunktur in Europa bremsen nach der IAGS-Prognose die schwächere Entwicklung in vielen Schwellenländern, wieder steigende Tendenzen bei Ölpreis und Euro-Kurs sowie die negativen Folgen des Brexits vor allem für die britische Wirtschaft. In dieser Situation zögerten viele Unternehmen mit Investitionen. Die Europäische Zentralbank (EZB) habe zwar mit ihrer Niedrigzinspolitik und unkonventionellen Maßnahmen noch stärkere Einbrüche bei den Investitionen verhindert, heben die Forscher hervor. Sie habe aber nicht verhindern können, dass das Niveau der Gesamtinvestitionen in der EU gemessen am BIP 2015 um 13 Prozentpunkte niedriger lag als 2008. Insgesamt habe „die Geldpolitik ihre Grenzen erreicht“ und müsse daher durch eine aktive und koordinierte Investitionspolitik der EU-Staaten ergänzt werden.

Dabei dürften die europäischen Regierungen sich nicht scheuen, Ausgaben, denen zukünftige Erträge gegenüberstehen, mit Krediten zu finanzieren. Das gelte besonders für den ökologischen Umbau der Wirtschaft sowie Bildungsinvestitionen. In Modellrechnungen kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass im gegenwärtigen Umfeld mit niedriger Inflation und hoher Arbeitslosigkeit eine vollständig kreditfinanzierte Infrastrukturinvestition in Höhe von einem Prozent des BIP bis zum Jahr 2035 öffentliche Werte in mindestens 1,6-facher Höhe schaffen würde. Die Bilanz des öffentlichen Sektors würde somit eindeutig verbessert. Um den Spielraum der EU-Länder zu erweitern, empfehlen die Forscher, die „zu rigiden und pro-zyklischen“ europäischen Fiskalregeln zu ändern. Dazu sehen sie zwei erfolgversprechende Wege: Eine „goldene Regel“, bei der öffentliche Nettoinvestitionen nicht auf den Haushaltssaldo angerechnet werden oder einen Ausgabenpfad, der Steigerungen der Staatsausgaben entlang der Summe aus realem Potenzialwachstum und EZB-Zielinflationsrate erlaubt.

Dagegen warnen die Autoren der IAGS vor allzu großen Hoffnungen in die Kapitalmarktunion, mit der nach Plänen der EU-Kommission bis 2019 ein integrierter Kapitalmarkt in der EU aufgebaut werden soll. Auch wenn einzelne Maßnahmen hilfreich sein dürften, sei die Investitionsschwäche vor allem nachfragebedingt; Zugang zu Fremdkapital sei keine bedeutende Hürde für Investitionen. Zudem ist nach Analyse der Forscher große Vorsicht bei der geplanten Verbriefung von Krediten angesagt: Diese kann die Anfälligkeit des Bankensystems erhöhen, wie die Wissenschaftler in einer Modellsimulation zeigen.

Flankiert werden müsse die Wachstumspolitik durch Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und zu großer sozialer Ungleichheit. Als wesentlichen Bestandteil dieser Politik sehen die Experten die effektive Bekämpfung von Steuerhinterziehung und aggressiver Steuervermeidung.

Weitere Informationen:

IMK, OFCE, ECLM, AK Wien: The Elusive Recovery (pdf). IAGS 2017, November 2016.

Kontakt:

Dr. Andrew Watt
Abteilungsleiter IMK

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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