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Magazin Mitbestimmung

Bewerber für den Deutschen Betriebsräte-Preis 2015: Jetzt gibt es Wegegeld

Ausgabe 09/2015

Wie der Betriebsrat des Silikonherstellers Momentive durchgeboxt hat, dass die Mitarbeiter lange Wege- und Umkleidezeiten entlohnt bekommen. Ein Signal für die Branche. Von Andreas Schulte

Besucher des CHEMPARKS in Leverkusen können sich entspannt zurücklehnen. Sie werden vom Werksschutz an der Pforte abgeholt und mit dem Auto an ihr Ziel auf dem Gelände chauffiert. Ein Grund für den gastfreundlichen Service: Die Wege auf dem fünf Quadratkilometer großen Areal sind weit. Das wissen auch die Mitarbeiter der Momentive, des zweitgrößten Silikonherstellers weltweit. Immerhin zweimal 800 Meter pro Schicht legen 350 Beschäftigte des Silikonherstellers zwischen Waschkaue und Produktionsstätte zurück – freilich ohne Fahrdienst. Aber immerhin zahlt das Unternehmen mittlerweile für das Zurücklegen der Strecke und für die Zeit des Anziehens der Schutzkleidung. Dafür sorgt seit August 2014 eine Betriebsvereinbarung – die erste dieser Art in der chemischen Industrie in Deutschland.

Michael Flory, Betriebsratsvorsitzender der Momentive, hat sie gemeinsam mit seinem Team durchgesetzt. Seine Geschichte beginnt im Jahr 2012 mit einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Eine OP-Schwester hatte sich erfolgreich bis zu dieser höchstrichterlichen Instanz durchgeklagt und dort Recht bekommen. Sie war vom Arbeitgeber dazu verpflichtet worden, in der Umkleide im Tiefparterre des Spitals Berufskleidung anzuziehen. Der OP-Bereich in einem der oberen Geschosse erforderte erneut eine spezielle Kleidung. Zahlen wollte der Arbeitgeber indes nicht für diese verordnete Kostümshow. Das sei unrecht, entschied das Gericht. Wege- und Umkleidezeiten zählten in diesem Fall sehr wohl zur Arbeitszeit. Denn Arbeit sei jede Tätigkeit, die der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient. Wenn der Arbeitgeber also Dienstkleidung anordnet, muss er die Zeiten bezahlen, in der ein Mitarbeiter sie anlegt.

Flory erkannte die Parallele zwischen dem Fall der Krankenschwester und den rund 350 Chemikanten in der Produktion von Momentive in Leverkusen. Brille, Schuhe, Hose, Jacke, Helm – diese Kleidungsstücke verlangt der Arbeitgeber, damit in der Produktion alles sicher bleibt. Denn dort hantieren die Angestellten mit Lösungsmitteln und manchmal auch mit Säuren. „Das BAG- Urteil bedeutete für uns Rückenwind, um die Arbeitgeberseite an den Verhandlungstisch zu bekommen“, erzählt Flory.

EIN SIGNAL FÜR DIE CHEMISCHE INDUSTRIE

Unterstützung fand er bei der Gewerkschaft. Die IG BCE befand, das BAG-Urteil sei auch in der chemischen Industrie anwendbar, da die Arbeitgeber dort das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreiben und das Umkleiden im Betrieb erfolgen muss. Also schlug der Betriebsrat dem Arbeitgeber das Projekt „Umkleide- und Wegezeiten sind Arbeitszeit“ vor.

In enger Abstimmung mit der IG BCE benannte Florys Betriebsratsteam Arbeitszeitexperten. Eine ihrer Aufgaben: Umkleide- und Wegezeiten erstmals überhaupt zu erfassen. „Da sind dann unsere Leute und Vertreter der Personalabteilung gemeinsam mit der Stoppuhr losgezogen“, lacht Flory.

Das gemischte Team förderte eine beachtliche Erkenntnis zutage: Die Chemiekanten verbringen pro Tag 40 Minuten auf Wegen außerhalb der Produktion und mit dem Umkleiden. Bis zu diesem Zeitpunkt betrug die Vergütung dafür: null Euro.

Mit diesem Ergebnis ging Florys Team, unterstützt von der IG BCE, in die Verhandlungen mit dem Arbeitgeber – und stieß zunächst auf Widerstand. Die Vergütung der Zeiten würde zu hohe Kosten verursachen und die Wirtschaftlichkeit des Standorts infrage stellen, argumentierte die Geschäftsleitung. Sie forderte daher eine Kompensation. Entweder sollten die Mitarbeiter auf den im Unternehmen üblichen Bonus verzichten oder auf die Vergütung der Umkleide- und Wegezeiten. Der Arbeitgeber versuchte, beides gegeneinander auszuspielen. Das kam für die Arbeitnehmervertreter nicht infrage.

Die Verhandlungen drohten zu scheitern. „Der Arbeitgeber wird letzlich wohl abgewogen haben: Was ist günstiger: hier eine Kröte schlucken und ein Verhandlungsergebnis erzielen oder vor Gericht ziehen, um dort womöglich mit dem Hinweis auf das BAG-Urteil unterzugehen?“, erzählt Flory. Die Geschäftsleitung besann sich schließlich, feilschte fortan um Minuten und entschied sich endlich für die Kröte.

Das Verhandlungsergebnis wurde im August 2014 durch eine Betriebsvereinbarung besiegelt. Pro Tag werden nun 20 Minuten Wege- und Umkleidezeit als Arbeitszeit zur einen Hälfte vergütet und zur anderen Hälfte ausgeglichen. In der Praxis heißt das für jeden Mitarbeiter gut 50 Euro mehr Lohn pro Monat. Plus dreieinhalb Stunden weniger Arbeit im gleichen Zeitraum. Rückwirkend für 2014 schlugen zudem vier Tage weniger Arbeit zu Buche. Was das für die Belegschaft bedeutet? „Unsere Mitarbeiter sind zufrieden und fühlen sich wertgeschätzt“, sagt Flory.

So soll es bald auch in anderen Unternehmen sein. Denn die Umsetzung des BAG-Urteils könnte durch die Arbeit der Momentive-Betriebsräte einen Schub bekommen. Kollegen in Italien und Betriebsräte des Technologiekonzerns 3M haben sich bereits nach der Vereinbarung erkundigt. „Das zeigt uns, dass wir den richtigen Weg gegangen sind“, sagt der Betriebsratsvorsitzende. Sein Rat für Nachahmer: auf die Mitbestimmung setzen. „Bei uns haben Betriebsratsteam, die IG BCE und auch die Geschäftsleitung letztlich sehr gut zusammengearbeitet. Hier zeigt sich Sozialpartnerschaft in Reinkultur.“

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