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Magazin Mitbestimmung

Studie: Pflichtfach Europa

Ausgabe 07/2015

Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bringen Europa mehr Kritik, aber auch mehr Interesse entgegen – so das Ergebnis einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie, die neue Inhalte für die politische Erwachsenenbildung vorschlägt. Von Michaela Namuth

Europa muss man üben, behauptet Oskar Negt. In seinem Buch „Gesellschaftsentwurf Europa“ beschreibt er die Demokratie als „die einzige politisch verfasste Ordnung, die gelernt werden muss“ – und zwar ein Leben lang. Deshalb könne auch ein demokratisches Europa nur durch eine neue, gemeinsame Disziplin der politischen Bildung entstehen, bei der wir uns nicht nur mit der Politik, sondern auch mit Kultur, Geschichte und Alltagsleben der anderen Europäer vertraut machen.

Dieser Idee folgt auch die Studie „Was denken Arbeitnehmer/-innen über Europa?“, ein Projekt der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. Ausgangspunkt ist die offensichtlich kritischere Einstellung der Deutschen und der anderen Europäer gegenüber der EU seit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Daten des Eurobarometers belegen, dass der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die der Europäischen Union ihr Vertrauen aussprechen, zwischen 2009 und 2012 von 48 auf 31 Prozent gesunken ist. Seit 2014 ist die Tendenz wieder steigend – was sich allerdings erneut geändert haben dürfte, seit die Griechenland-Krise und die unkoordinierte Trutzburgpolitik gegen Zuwanderung einmal mehr die Handlungsunfähigkeit der EU beweisen.

Dennoch sehen die Autoren der Studie in der gegenwärtigen Europakrise „eine historische Gelegenheit für eine aktive Auseinandersetzung der europäischen Bürger/innen mit der europäischen Integration“. Voraussetzung hierfür sei die Demokratisierung von Entscheidungsprozessen, bei der die arbeitnehmerorientierte politische Bildung eine entscheidende Rolle spielt. Unter diesem Aspekt untersucht die Studie Einstellungsmuster von Arbeitnehmern und wie sich diese in den vergangenen Jahren gewandelt haben. Über das Bildungsförderungswerk (bfw) Heidelberg wurden Interviews mit Seminarleiterinnen und -leitern aus der (gewerkschaftlichen) Bildungsarbeit und Gruppendiskussionen mit Teilnehmenden an europapolitischen Seminaren sowie mit ehrenamtlichen Referenten der IG Metall geführt. Neben der Hans-Böckler-Stiftung wurde die Studie auch von der IG BCE, der Otto Brenner Stiftung, der Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie vom DGB-Bildungswerk gefördert. 

TREND ZUR RENATIONALISIERUNG

Eines der zentralen Ergebnisse des Forschungsberichtes ist die Bestätigung der Ausgangsthese, dass viele Arbeitnehmer die EU heute skeptischer sehen als noch vor ein paar Jahren. Dadurch haben sich auch die Themen geändert, die sie interessieren. Diese sind heute vor allem Finanzpolitik, Lebensverhältnisse in Krisenländern, Demokratiedefizit in der EU, Zuwanderung und Erweiterung und der wachsende Rechtspopulismus.

Der Bezug zum Alltagsleben in anderen EU-Ländern wird in erster Linie über das Arbeitsleben vermittelt. Dies gilt vor allem für Berufsgruppen wie Hafenarbeiter oder Lkw-Fahrer. Die befragten Seminarleiter konnten bei den Teilnehmern jedoch keinerlei Ansätze für die Bildung von grenzüberschreitenden Gruppenidentitäten feststellen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Seit der Finanzkrise beobachten sie in den Seminaren einen deutlichen Trend zur Renationalisierung der Identität. Diese betrifft in vielen Fällen Skepsis gegenüber der Osterweiterung, die auch darauf beruht, dass die Kultur und der Alltag in diesen Ländern sehr viel weniger bekannt sind als die Lebensumstände der südeuropäischen Nachbarn. Dazu kommt die Angst vor Standortkonkurrenz, Werksverlagerungen und Sozialdumping. Ein Seminarleiter berichtet: „Die wollen ja alle unser deutsches Modell. Wir müssen zusehen, dass das nicht im Zuge der Harmonisierung alles nach unten angeglichen wird (…) Das hört man öfter.“

Oft werden diese Ängste von den Medien geschürt. Eine aktive Medienkritik gehört deshalb nach Meinung der Autoren zu den zentralen Punkten einer europäischen Bildung für Erwachsene. Ein wichtiges Ergebnis ist auch die Notwendigkeit einer gemeinsamen Interessensperspektive der Teilnehmenden auf europäischer Ebene, um die Bildung einer europäischen Identität zu fördern. Dies ist aber kaum möglich, ohne die Lebensumstände und Alltagsbezüge der Menschen in den Nachbarländern zu kennen. Die befragten Seminarleiter raten deshalb zu einer Intensivierung von internationalen Austauschprogrammen – auch an deutschen Bildungsakademien oder im Rahmen der Treffen von Eurobetriebsräten. 

Fazit der Studie, die keinen repräsentativen Anspruch erhebt: Es ist zu einem grundlegenden Einstellungswandel gekommen, „von einer eher diffusen – europafreundlichen oder europaskeptischen – Haltung hin zu einer konkreten Kritik an der Europäischen Union und der Bereitschaft, sich kritisch mit europäischer Politik auseinanderzusetzen“. Das Interesse an Europathemen ist nach der Krise gestiegen und nicht gesunken. Das ist ein gutes Zeichen und eine große Chance für die Bildung einer neuen europäischen Identität, bei der es um mehr geht als um erstarrte Institutionen und gescheiterte Finanzstrategien.

Mehr Informationen

Rainer Gries/Tom Kehrbaum/Clemens Körte/Martin Roggenkamp: WAS DENKEN ARBEITNEHMER/INNEN ÜBER EUROPA? Qualitative Untersuchung anhand des Bildungsverhaltens in der außerschulischen politischen Bildung. Heidelberg, April/Mai 2015.

Workshop „Einstellungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu Europa – Konsequenzen für die politische Bildungsarbeit“ am 25. September in Heidelberg. 

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