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HBS Böckler Impuls

Europa: Das Lohngefälle wird wieder steiler

Ausgabe 11/2015

Die Löhne innerhalb der EU haben sich bis 2008 angenähert. Seitdem nimmt die Ungleichheit wieder zu.

Massive Höhenunterschiede weist Europa nicht nur in geographischer Hinsicht auf. Auch bei den Löhnen ergibt sich ein steiles Gefälle, wenn man beispielsweise den Londoner Finanzsektor mit der rumänischen Landwirtschaft vergleicht. Wie groß die Differenzen auf europäischer Ebene insgesamt ausfallen, haben Forscher der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) analysiert.* Den Ergebnissen zufolge war in den Jahren vor der Wirtschafts- und Finanzkrise ein Konvergenzprozess bei den Arbeitseinkommen zu beobachten, der sich danach umgekehrt hat.

Die Einkommensungleichheit innerhalb nationaler Grenzen sei umfassend dokumentiert, heißt es in der Eurofound-Studie. Auch mit der globalen Ungleichheit hätten sich schon diverse Arbeiten befasst. Dagegen sei die EU als Wirtschaftsraum in diesem Zusammenhang bisher kaum berücksichtigt worden – obwohl es dafür gute Gründe gäbe. Denn ob die europäische Integration auch zu einer Annäherung bei Löhnen und Einkommen führe, sei politisch eine elementare Frage.

Um eine Antwort zu erhalten, haben die Wissenschaftler die Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen und die Verdienststrukturerhebung der EU für die Jahre 2004 bis 2011 ausgewertet. Die Berechnungen beziehen sich auf die Bruttostundenlöhne abhängig Beschäftigter, die nach Kaufkraftparität gewichtet, also um das nationale Preisniveau bereinigt wurden.

Betrachtet man, wie sich die Beschäftigten der Mitgliedsländer auf die gesamteuropäische Lohnpyramide aufteilen, fällt auf, dass im unteren Fünftel die Osteuropäer dominieren. Nationale Muster sind klar zu erkennen: In Griechenland, Portugal und allen osteuropäischen Staaten außer Slowenien verdienen drei Viertel der Beschäftigten weniger als 2.000 Euro im Monat, in den nordischen und den kontinentalen Ländern liegen drei Viertel über 2.000 Euro. Allerdings sind Deutschland und Großbritannien trotz ihres insgesamt hohen Lohnniveaus laut Eurofound auch mit „signifikanten Anteilen“ am unteren Ende der Skala vertreten. Insbesondere die britische Arbeitnehmerschaft weise eine „bemerkenswerte Polarisierung“ auf: Fast die Hälfte des reichsten Prozents der Europäer besteht aus Briten, gleichzeitig sind zahlreiche britische Beschäftigte in den unteren beiden Fünfteln der EU-Lohnverteilung anzutreffen.

Dass die EU insgesamt von egalitären Verteilungsidealen recht weit entfernt ist, zeigen die Anteile der Einkommensklassen an der gesamten Lohnsumme. An das Top-Prozent gehen fast sieben Prozent, ähnlich viel wie an das gesamte untere Fünftel. Der Gini-Koeffizient, der das Niveau der Ungleichheit auf einer Skala von 0 bis 1 misst, beträgt 0,346, wenn man die EU insgesamt wie ein Land betrachtet. Der Analyse zufolge ist die gesamteuropäische Lohnspreizung damit größer als die innerhalb der meisten Mitgliedstaaten, allerdings kommen beispielsweise die USA mit 0,4 auf einen noch höheren Wert. Auch Großbritannien, Portugal und Lettland sind stärker polarisiert als die EU insgesamt.

Für den Zeitraum zwischen 2004 und 2008 können die Eurofound-Mitarbeiter einen Rückgang der Lohnungleichheit in der EU nachweisen. Der Hauptgrund für diesen Trend war ihrer Analyse zufolge der Aufholprozess der osteuropäischen Länder, während beispielsweise in Deutschland die Löhne stagnierten. Dass der gesamteuropäische Gini-Koeffizient seit 2008 wieder zunimmt, liege dagegen in erster Linie an Entwicklungen innerhalb bestimmter Staaten. Großbritannien spiele als große Volkswirtschaft mit stark wachsender Ungleichheit hier eine entscheidende Rolle. Dagegen sei der Annäherungsprozess zwischen den Mitgliedsländern angesichts stagnierender oder sogar sinkender Löhne in Südeuropa zum Stillstand gekommen.

Lohndifferenzen zwischen Branchen können laut der Studie einen Teil der Ungleichheit erklären, auf nationaler Ebene sind es bis zu 40 Prozent. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tariflandschaft: Branchen mit hoher Tarifabdeckung weisen im Schnitt eine geringere Lohnspreizung auf.

  • Im unteren Bereich der gesamteuropäischen Lohnverteilung dominieren die Osteuropäer. Doch auch deutsche Beschäftigte sind hier mit signifikanten Anteilen vertreten. Zur Grafik

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