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HBS Böckler Impuls

Arbeitsschutz: Nichts Neues aus Brüssel

Ausgabe 11/2015

Ein einheitlicher Markt braucht einheitliche Regeln. Doch auf dem Gebiet des Arbeits- und Gesundheitsschutzes bleibt die EU-Kommission tatenlos – obwohl jährlich über 160.000 Europäer an den Folgen berufsbedingter Krankheiten sterben.

Dass „die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmerschaft gefördert werden muss“, steht schon im Gründungsvertrag der EU. Allerdings kam der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz häufig zu kurz. Lediglich von Mitte der 1980er- bis Anfang der 2000er-Jahre war eine gewisse Dynamik zu verzeichnen. Danach kam die europäische Rechtsetzung bei diesem Thema „praktisch zum Erliegen“, so die Analyse des Rechtswissenschaftlers Laurent Vogel. Der Europarechtsexperte des Europäischen Gewerkschaftsinstituts in Brüssel warnt: Das „Fehlen gemeinsamer Bestimmungen im Bereich Gesundheit und Sicherheit“ führe „unweigerlich zu einer Abwärtsspirale, wobei das Leben und die Gesundheit der Arbeitnehmer als Wettbewerbselement eingesetzt werden“.

Die ersten nennenswerten Arbeitsschutzinitiativen der EU datieren aus dem Jahr 1962. Dabei handelte es sich um Richtlinien zum betriebsärztlichen Dienst und zu Berufskrankheiten. Mit Blick auf die Umsetzung in nationales Recht „war das Ergebnis dieser ersten Etappe nicht ermutigend“, so Vogel. Bis heute existieren bei der Anerkennung von Berufskrankheiten von Land zu Land große Unterschiede.

Nach einer längeren Phase des Stillstands erließ die Europäische Gemeinschaft 1978 die Richtlinie über den Umgang mit monomerem Vinylchlorid, einer krebserregenden Substanz, die bei der PVC-Herstellung eine Rolle spielt. Darin wurden Minimalvorschriften festgelegt und den Einzelstaaten die Möglichkeit gelassen, strengere Regeln festzulegen. Dies ist Vogel zufolge insofern bemerkenswert, als die Arbeitsschutzrichtlinie damit „einer anderen Logik folgte als Richtlinien zum Warenhandel“.

1980 kam eine Richtlinie über „die Gefährdung durch chemische, physikalische und biologische Arbeitsstoffe“ dazu. Sie sah vor, dass für eine Reihe gefährlicher Materialien verbindliche Grenzwerte festgelegt werden. Geschehen ist dies jedoch nur bei wenigen Stoffen wie Blei und Asbest. Aromatische Amine, eine Gruppe chemischer Verbindungen, wurden verboten. Die Verhandlungen waren stets schwierig und „von harten Auseinandersetzungen über die zu erwartenden Kosten für die Arbeitgeber begleitet“, so der Rechtsexperte. Nach gescheiterten Bemühungen um eine Benzol-Richtlinie verlegte man sich schließlich darauf, nur noch Richt- statt Grenzwerte vorzugeben.

Zwischen 1989 und 2004 nahm die europäische Regulierungsaktivität in Sachen Arbeitsschutz wieder Tempo auf. Vogel spricht von einer „Reformdynamik, die in mehreren Ländern zur Verbesserung der innerstaatlichen Gesetzgebung führte“. Wobei sich einige Länder wie Deutschland und Großbritannien auf eine „minimalistische Umsetzung“ beschränkt hätten, während sich beispielsweise Italien und Spanien als ehrgeiziger erwiesen. In der Rahmenrichtlinie zum Arbeits- und Gesundheitsschutz von 1989 sei „ein Teil der Errungenschaften der sozialen Bewegungen“ zum Tragen gekommen, „zu deren zentralen Forderungen in der vorangegangenen Dekade vor allem bessere Arbeitsbedingungen gehörten“. Hektische und monotone Fabrikarbeit geriet damit auch offiziell in die Kritik. Auf die Rahmenrichtlinie folgten rund 20 Einzelrichtlinien, die unterschiedliche Arbeitnehmergruppen und verschiedene Arten von Risiken ins Zentrum stellen.

Von 2004 bis 2014, in der Amtszeit von EU-Kommissionschef José Manuel Barroso, kamen keine neuen Initiativen mehr zustande. Sofern überhaupt noch etwas zum betrieblichen Gesundheitsschutz verabschiedet wurde, handelte es sich um Modifikationen bestehender Richtlinien oder die verspätete Umsetzung alter Vorschläge. Der Rechtswissenschaftler Vogel interpretiert diese „Regulierungskrise“ als Teil einer „allgemeinen Infragestellung“ der Harmonisierung arbeitsrechtlicher Bestimmungen. Argumentiert werde in diesem Zusammenhang stets, strengere Vorschriften brächten Nachteile für Europas Industrie auf dem Weltmarkt mit sich. Tatsächlich gehe es jedoch eher um den Binnenmarkt, wo harmonisierte Arbeitsbedingungen als „Hindernis für die Entfaltung des freien Wettbewerbs“ angesehen würden. So liegen Richtlinienentwürfe zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen und berufsbedingtem Krebs seit über zehn Jahren auf Eis – obwohl Letzterer für 100.000 der jährlich 160.000 Todesfälle durch berufsbedingte Krankheiten in der EU verantwortlich ist.

  • Schlechte Arbeitsbedingungen kosten die Gesundheit. Zur Grafik

Laurent Vogel: Aufstieg und Niedergang eines sozialpolitischen Handlungsfeldes: der Arbeits- und Gesundheitsschutz der Europäischen Union, in: WSI-Mitteilungen 3/2015

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