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Magazin Mitbestimmung

Medien: Der Tendenzschutz bröckelt

Ausgabe 06/2015

Mit der Umwandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft bleibt der Aufsichtsrat des Medienkonzerns ProSiebenSat.1 wohl auf Dauer mitbestimmungsfrei. Für den SE-Betriebsrat hingegen konnten die Betriebsräte und ver.di gute Konditionen aushandeln. Von Carmen Molitor

Dass die Digitalisierung eine Zeitenwende für Medienunternehmen bedeutet, ist Ulrich Schaal schon lange klar. Der gelernte Journalist kennt sich aus in dem Metier, hat in Medienmanagement promoviert und war als „Leiter Digital“ zuständig für die digitalen Produkte von Sat.1. Als er vor einem Jahr in den Betriebsrat der ProSiebenSat.1 Media AG in Unterföhring gewählt wurde, war er der Einzige der 19 Gremienmitglieder aus dem Bereich Digitales. Eine Verstärkung, die der Betriebsrat gut brauchen konnte, denn die Digitalisierung verändert den Medienkonzern mit europaweit knapp 5000 Mitarbeitern – davon rund 4400 in Deutschland – zurzeit spürbar. Der Wachstumskurs gehe in zwei Richtungen, erklärt Schaal. „Schritt eins ist, durch neue, digitale Geschäftsmodelle unabhängiger von der klassischen TV-Werbung zu werden. Der zweite Schritt ist eine Internationalisierung dieser Geschäftsmodelle, indem man etwas, das in einem Land funktioniert hat, auch in einem anderen Land macht. Warum sollte man ein Reiseportal, das in Deutschland gut läuft, nicht auch in Polen, Spanien oder Frankreich lancieren?“

In welche Richtung das Unternehmen sein Geschäftsfeld ausdehnt, wird entscheidend für die künftige Form der Mitbestimmung sein. Zurzeit genießt ProSiebenSat.1 als Medienunternehmen „zum Zwecke der Berichterstattung und freien Meinungsäußerung“ gesetzlichen Tendenzschutz – eine deutsche Besonderheit. Das bedeutet: Es gibt keine Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, die Rechte des Betriebsrats sind eingeschränkt. Doch warum sollte ein Medienkonzern, der womöglich bald überwiegend über Geschäfte wie Reiseportale sein Geld verdient, weiter Tendenzschutz genießen? „Wir sind der Ansicht, dass bei uns im Unternehmen die Voraussetzungen für den Tendenzschutz irgendwann nicht mehr klar nachweisbar sein werden“, sagt Ulrich Schaal. Aber bis der Schutz tatsächlich fällt, kann es dauern. Rechtsprechung aus vergleichbaren Fällen, auf die man sich bei einer Klage berufen könnte, gibt es kaum. Ende Mai nun hat die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 Media AG die Umwandlung des Konzerns in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) beschlossen. Für Insider liegt nah, dass das Management damit langfristig auch einer Ausweitung der Mitbestimmung entgegenwirken will.

Das Verhältnis zum Arbeitgeber sei gut, und im Alltag spüre der Betriebsrat durch den Tendenzschutz nur wenige Einschränkungen. „Aber es gibt schon ein paar elementare Ausnahmen“, schränkt Betriebsrat Schaal ein. Er vermisst insbesondere einen Wirtschaftsausschuss und den regelmäßigen Abgleich von Daten der einzelnen Unternehmen. „Wir sind ja nicht einfach nur Fernsehen, wir sind 30, 40 Teilunternehmen, die man sich einzeln angucken müsste.“ Um auf Augenhöhe verhandeln zu können, sei auch eine unternehmerische Mitbestimmung elementar: „Wir kriegen zwar alles, was wir für unsere Arbeit brauchen. Aber manchmal wäre es sehr schön, wenn wir den Tendenzschutz nicht hätten, weil wir dann mit einer anderen Haltung auftreten könnten“, betont Schaal. „Auch vom Arbeitgeber würden wir anders wahrgenommen, wenn wir im Aufsichtsrat präsent wären.“

ERFOLGREICHE VERHANDLUNGSRUNDE

Wie die Beteiligung der Beschäftigten in der neuen SE aussehen soll, legten von Mitte Januar bis Ende Februar 2015 Verhandlungen der Firmenleitung mit dem 15-köpfigen Besonderen Verhandlungsgremium (BVG) aus europäischen Arbeitnehmervertretern und Gewerkschaften fest. Neben Betriebsräten der europäischen Standorte gehörten auch zwei Vertreter von ver.di zum Gremium. Den dritten Gewerkschaftssitz nahm Melanie Frerichs ein, Referatsleiterin Mitbestimmung und Gute Arbeit in der Hans-Böckler-Stiftung. Vorsitzender war Ulrich Schaal. Zentrales Thema: die Rechte des SE-Betriebsrates. 

„Wir wollten kein Frühstücksdirektorengremium aufbauen“, betont Schaal. „Dieser SE-Betriebsrat soll einer werden, in dem alle Länder so gut repräsentiert sind, dass eine gegenseitige Information und Anhörung und eine gegenseitige Beratschlagung mit dem Arbeitgeber möglich ist. Wir wollten einen arbeitsfähigen und dauerhaft wirksamen, echten Betriebsrat erreichen.“ Ein Hauptziel der Verhandlungen war deshalb, „den Tendenzschutz im Bereich Anhörungs- und Informationsrechte zu kippen“, berichtet Schaal. „Wir wollten wenigstens auf europäischer Ebene vollständig freie Informations- und Anhörungsrechte in allen vorgesehenen Angelegenheiten bekommen.“

Dieser Punkt war auch für Martin Lemcke wichtig, der für ver.di bereits bei einer Reihe von SE-Umwandlungen großer Konzerne in BVGs verhandelte.­ Hätte man akzeptiert, dass die Tendenzschutzbestimmung gilt, „wäre zum Beispiel die ganz normale jährliche oder auch halbjährliche Unterrichtung der SE-Betriebsräte über die Entwicklung des Unternehmens, die Geschäftspolitik, die finanzielle Lage, die personelle Situation, über Investitionspolitik nicht erfolgt“, erklärt Lemcke. „Es ist das Beste an der Vereinbarung, dass das klipp und klar ausgeschlossen worden ist.“ Das sieht auch Schaal als größten Erfolg: „Der Versuch des Arbeitgebers war es anfangs, uns nur teilweise die Rechte, die uns qua Tendenzschutz fehlen, in die Vereinbarung reinzuschreiben“, sagt er. Stattdessen habe das BVG erreicht, dass die sehr abgeschwächte­ Form der Anhörungs- und Informationsrechte, die der § 39 des SE-Beteiligungsgesetzes für Tendenzbetriebe vorgibt, keine Anwendung findet. „Es gibt jetzt eine explizite­ Freistellung von diesen Einschränkungen“, freut sich Schaal. Mit der Forderung nach Mitbestimmung im Aufsichtsrat biss man dagegen auf Granit: „Das war nicht verhandlungsfähig.“

Besonders interessant war für Schaal die internationale­ Teamarbeit der Arbeitnehmervertreter. Trotz der Mehrheit von neun Vertretern aus Deutschland habe er versucht, alle Interessen fair einzubeziehen. „Es war eine sehr spannende Aufgabe, das nicht auf der Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners zusammenzufügen, sondern zu versuchen, das Beste aus den einzelnen Ländern zu vereinen und nach vorne zu bringen.“ 

WERTVOLLE GEWERKSCHAFTSEXPERTISE

Sich auf jeden Fall an die Experten der zuständigen Gewerkschaft oder der Hans-Böckler-Stiftung zu wenden, wenn bei der Umwandlung in eine SE die Arbeitnehmerbeteiligung verhandelt werden muss, rät Melanie Frerichs betroffenen Betriebsräten. Auch Ulrich Schaal, Betriebsrat in einem traditionell sehr gering organisierten Hause, fand die ungewohnte Zusammenarbeit mit einer Gewerkschaft „einfach großartig“. Von Expertise und Erfahrung der ver.di-Vertreter habe man „massiv profitiert“.

Zufrieden zeigt sich auch ver.di-Experte Martin Lemcke: „Wenn man den Rahmen zugrunde legt, den die europäische Richtlinie vorgibt, dann ist das eine gute Vereinbarung“, kommentiert er. Das europäische Recht gewähre keine echten Mitbestimmungsrechte, wie man sie von nationalen Betriebsräten kenne; es gehe nur um Unterrichtung und Anhörung. „Der SE-Betriebsrat ist so eine ähnliche Veranstaltung wie beim deutschen Betriebsrat der Wirtschaftsausschuss“, erklärt Lemcke. „Er ist wichtig, weil er die Gelegenheit bietet, die Kollegen aus anderen Ländern kennenzulernen und sich darüber auszutauschen, was läuft.“ Ulrich Schaal jedenfalls freut sich auf die europäische Vernetzung.

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