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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Tunesien ist Teil Europas"

Ausgabe 04/2015

Sozialreferent Peter Senf von der Deutschen Botschaft in Kairo darüber, warum Tunesien ein Teil Europas ist und über Arbeitsbedingungen in Ägypten. Die Fragen stellet Cornelia Girndt

Peter Senft, was motiviert einen Diplomaten am Weltsozialforum teilzunehmen? 

Ich wollte mir ein Bild machen, wie sich die sehr aktive Zivilgesellschaft in Tunesien entwickelt hat, dem Geburtsland des Arabischen Frühlings. Speziell haben mich die Workshops zu Kinderarbeit interessiert. Manchmal fragen Unternehmen, die in ein Joint Venture investieren wollen, bei der Botschaft an, ob da womöglich Kinderarbeit im Spiel ist. 

Wie schätzen Sie die Entwicklungschancen für Tunesien ein, dieses Zehn-Millonen-Land? 

Da gibt es nicht nur die geografische Nähe – von Frankfurt sind es zwei Flugstunden nach Tunis. Tunesien ist ein Teil Europas, stärker, als es die Entscheidungsträger hier, aber auch viele Europäer wahrhaben wollen. Allein schon die Sprachkompetenz. Es war ein souveräner Schritt von Präsident Habib Bourguiba 1957, kurz nach der Unabhängigkeit, Französisch als zweite Sprache von der Grundschule an einzuführen. So entsteht Nähe und ein breites Wissen, was in Europa passiert. 

Gilt das auch für die industriellen Beziehungen und Gewerkschaften? 

Wenn man bei uns von Nordafrika spricht, denkt kaum einer an Fabriken. Dabei existieren enge wirtschaftliche Verflechtungen mit der EU. So liefern rund 30 000 Beschäftigte Kabelbäume für die Automobilzuliefer­industrie in 18 Länder der EU, die Hälfte der Produktion just in time. Und in der Textil- und Bekleidungsindustrie werden vielfach italienische Stoffe in Tunesien verarbeitet. Europa ist nah. 

Was können die Gewerkschaften hier einbringen in die Demokratisierung des Landes? 

Man hat in Tunesien im vorparlamentarischen Raum schon das Verhandeln eingeübt. Weil die Tarife betrieblich angepasst werden, nachdem Regierung, Arbeitgeberverband UTICA und Gewerkschaft UGTT sie ausgehandelt haben. Dadurch sind Gewerkschaften und auch Parteien mehr und mehr zu Konsens und Kompromiss fähig. Wobei auch die ‚Direction du travail‘ eine wichtige Rolle spielt, nach eigenen Angaben werden von ihr 50 Prozent aller betrieblichen Dispute geschlichtet. 

Wie steht es um die Arbeitnehmerbeteiligung in deutschen Tochterunternehmen? 

In Ägypten hat man bisher nicht so genau hingeschaut. Meine Rolle ist, die deutschen Unternehmen der Waschmittel- oder der Textilindustrie an ihre eigenen Sozialstandards zu erinnern, im Einklang mit dem deutschen Aktienrecht. 

Wo gab es Anlass zum Nacharbeiten? 

Im ägyptischen Port Said ist in einem Zulieferbetrieb von Hugo Boss gerade wieder ein Gewerkschafter, der Präsident einer neuen, demokratischen Gewerkschaft ist, gemaßregelt worden. Er hatte die willkürliche Eingruppierung und Verteilung von Arbeitsplätzen kritisiert, die eben nicht, wie schriftlich vereinbart, sozialpartnerschaftlich vorgenommen worden war. Wir, Botschaft und FES, konnten da aktiv werden. Ebenso bei einem ähnlichen Fall bei Henkel in Port Said vor zwei Jahren. Damit das in Zukunft rund läuft, werden jetzt durch meine Vermittlung und mit Einverständnis der Geschäftsleitung von Henkel die betrieblichen Arbeitnehmervertreter von der FES geschult. 

Womit beschäftigen sich die Weiterbildungsprojekte? 

Es gibt ein sehr gutes Projekt der IG Metall zusammen mit der UGTT und der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Automobilzulieferindustrie. Dabei werden die betrieblichen UGTT-Kollegen ganz klassisch am Wochenende geschult über die Lohnsystematik und Inhalte des Arbeitsrechtes. Damit sie wissen: Was darf ich? Was nicht? Was kann ich ändern? Denn nicht selten sind die Forderungen von Arbeitnehmerseite auch überbordend oder gehen in Bereiche, die Arbeitnehmer gar nicht regeln können. Die Arbeit niederzulegen, wenn gleichzeitig ein Tarifvertrag noch gilt, das geht eben nicht.

Was sind die wichtigsten Lernziele? 

Wir schulen – die FES mit Mitteln der Transformationspartnerschaft des Auswärtigen Amtes -  auch über das ägyptische Arbeitsrecht und die 45 ILO-Konventionen, die Ägypten alle ratifiziert hat, die aber weder in nationales ägyptisches Recht eingearbeitet wurden und auch nicht  eingehalten werden. Unser Projekt ist emanzipatorisch:  Wir wollen Menschen, die bisher wenig eigenständig organisieren konnten, die in Schule und Familie immer nur zugehört haben, die immer nur Objekt waren, befähigen: Wie man argumentiert, wie man verhandelt.  Nicht leicht. Wie führe ich ein sachliches Gespräch? Manchmal fehlt es schlicht an Kulturtechniken, sich und sein Gegenüber nicht in Rage zu bringen,  was in diesem Kulturkreis schnell der Fall sein kann. Ihre Macht gegenüber denen, die sich nur schwer fachlich artikulieren können, nutzen die Arbeitgeber natürlich gnadenlos aus. 

Was sind die größten Barrieren gegen Fortbildung und Engagement?   

In Ägypten ist die sehr fordernde Familie ein großes kulturelles Hindernis für politisches und gewerkschaftliches Engagement. Da steht der Druck der fordernden  Familien am Wochenende gegen Angebote an gewerkschaftlicher Bildung, was wir nur schwer ermessen können. Insofern ist in Ägypten nur eine kleine intellektuelle Elite aktiv. Das ist in Tunesien anders. Dort sind nach den Wahlen 2014 drei Frauen aus der Partei der Muslimbrüder Staatssekretärinnen in der neuen Regierung geworden unter anderem im Wirtschafts- und im Finanzministerium. Das nimmt bei uns kaum einer wahr.  Tunesien ist auf vielen gesellschaftlichen Feldern in Nordafrika am weitesten entwickelt.

Welche Rolle spielen die Frauen in diesem Kampf gegen Armut und Repression?

In Tunesien liegt die Frauenerwerbsquote bei 51 Prozent. Da gibt es schlicht einen Druck zur Erwerbsarbeit, weil das durchschnittliche Einkommen der Männer so gering ist.  Ein tunesischer Metallarbeiter verdient umgerechnet 300 Euro;  das ist wenig, angesichts des Preisniveaus im Land. Wohlstand wird nur erwirtschaftet, wenn Frauen mitarbeiten. 

Und in Ägypten?

Dort ist das völlig anders, in Ägypten liegt die Frauenerwerbsquote bei 21 Prozent. Was Frauen nicht als Nachteil empfinden. Wir haben es am Nil also noch mit sehr konservativen manchmal sogar reaktionären Familienstrukturen zu tun. Auch die Geburtenrate steigt in Ägypten seit 2008 wieder, trotz gestiegener Bildung unter den Frauen. Das heißt: jedes Jahr kommen in diesem jetzt 88-Milionen-Land zwei Millionen Einwohner hinzu. Da muss man leider sagen: die Gesellschaft hat keinen Plan, wie sie mit diesem Geburtenüberschuss umgehen will, auch nicht die neuen Parteien oder die neuen Gewerkschaften. Außerdem fehlt es - um gegen Repression zu kämpfen – den Frauen in Ägypten an gesellschaftlicher Unterstützung – es dominiert ein konservatives bis reaktionäres Gesellschaftsbild, das nicht allein auf religiöse Gruppen beschränkt ist.  Gewalt gegen Frauen ist täglich zu erleben.

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