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Magazin Mitbestimmung

Demokratie: Getrennte Welten

Ausgabe 04/2015

Wer wenig hat und weniger gebildet ist, geht weniger wählen. In sozialen Brennpunkten sinkt das Vertrauen in die Politik dramatisch – und damit die Wahlbeteiligung. Was sind die Ursachen, wer steuert dagegen? Zu Besuch im Falkenhagener Feld in Berlin-Spandau. Von Gunnar Hinck

Die Siegener Straße ist eine ruhige Wohnstraße in Berlin-Spandau, aber sie markiert eine tiefe Grenze. Auf der einen Seite stehen die Wohnhäuser des Falkenhagener Feldes, einer Großsiedlung aus den 60er Jahren mit einem wuchtigen 16-Geschosser in der Mitte. Die andere Straßenseite wird gesäumt von Einfamilienhäusern, die Makler wohl als „gepflegt“ bezeichnen. Auf dieser Seite sind bei der letzten Bundestagswahl, 2013, 62 Prozent zur Wahlurne gegangen. Gegenüber waren es 42 Prozent. Hinzu kommen die Briefwähler, die separat erfasst werden und im gesamten Bezirk Spandau fast 20 Prozent der Wahlberechtigten ausmachten. Weil die Briefwahl besonders in den sogenannten besseren Vierteln genutzt wird, wird der Unterschied insgesamt noch stärker ausgefallen sein. 

Wer wenig hat und weniger gebildet ist, geht weniger wählen – dieser Zusammenhang ist wissenschaftlich belegt. Im Wahlkreis Spandau gaben bei der Bundestagswahl knapp 70 Prozent ihre Stimme ab, im gediegenen Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf fast 80 Prozent. 1994 waren es in den beiden Bezirken noch knapp 80 und 84 Prozent, seitdem geht die Schere immer weiter auseinander. Nicht zu wählen ist kein Ausdruck einer allgemeinen Demokratiemüdigkeit, sondern ein soziales Problem. 

EIN STADTTEIL IM NIEDERGANG

Die SPD als einstige „Schutzmacht der kleinen Leute“ ist vom Rückgang der Wahlbeteiligung überdurchschnittlich betroffen. „Es haben sich ganze Schichten von der Demokratie abgewendet – oder haben wir uns abgewendet?“, fragt der Spandauer SPD-Politiker und Bundestagsabgeordnete Swen Schulz, den das Magazin Mitbestimmung im letzten Bundestagswahlkampf begleitet hat (siehe Ausgabe 9/2013). Den Wahlkreis hat er nicht direkt gewonnen, sondern ist dank eines guten Listenplatzes wieder in den Bundestag eingezogen. Schulz sagt, dass er das Direktmandat wohl gewonnen hätte, wenn die Wahlbeteiligung im Falkenhagener Feld genauso hoch gewesen wäre wie in den Einfamilienhaussiedlungen. Er trifft, so sagt er, auf immer mehr Menschen, die „einfach nichts von Politik wissen und wissen wollen. Politik hat aus deren Sicht nichts mit ihrem Leben zu tun.“ 

Der Berliner Sozialstrukturatlas des Senats analysiert regelmäßig das soziale Gefälle in der Stadt und stellt auf der Basis verschiedener Faktoren – unter anderem Einkommen, Bildung, Lebenserwartung und Transferbezug – ein Ranking auf. Von insgesamt 138 Regionen liegt das Falkenhagener Feld auf Platz 114. Bei der Erhebung zuvor lag es noch zehn Plätze höher. Das Falkenhagener Feld, kurz „das Feld“ genannt, gilt heute als sozialer Brennpunkt. Dabei war es einmal eine Utopie in Beton. Funktionale Siedlungen am Stadtrand sollten die Wohnungsnot lindern und gleichzeitig die Lebensverhältnisse der Arbeiter- und Mittelschicht verbessern: Luft, Licht und Zentralheizung statt Wohnen in Mietshäusern mit drei Hinterhöfen in der Innenstadt. Das Konzept hat im Falkenhagener Feld bis zum Mauerfall leidlich funktioniert, auch, weil Hochhäuser sparsam platziert wurden. Arbeiter bei den Spandauer Werken von Siemens und BMW wohnten neben Polizisten und Krankenschwestern. 

Nach der Wiedervereinigung zogen die Besserverdiener hinter die nahe Stadtgrenze nach Brandenburg und bauten sich ihr eigenes Haus – das Falkenhagener Feld entmischte sich, zurück blieben diejenigen, die nicht umziehen konnten oder wollten.

Zeitgleich gingen in Spandau durch den Wegfall der Westberlin-Subventionen Tausende Arbeitsplätze verloren. Damit schmolzen auch die Strukturen einer Partei wie der SPD zusammen. „Unsere Betriebsgruppen gibt es alle nicht mehr“, sagt der örtliche SPD-Vorsitzende Stephan Machulik. Sein Ortsverein deckt einen Großteil des Falkenhagener Feldes ab. Machulik, hauptberuflich Bezirksstadtrat im Spandauer Rathaus, meint die Betriebsgruppen der AfA, der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD. Durch diese Gruppen hielt die Partei den direkten Draht zu ihrer Stammklientel. Heute ist diese Klientel weggezogen, arbeitet in Unternehmen ohne Betriebsgruppen – oder ist arbeitslos. Sein Ortsverein, eine Fusion aus zwei einst selbstständigen Verbänden, hat nach einem starken Aderlass nur noch 110 Mitglieder, davon sind nur 15 Prozent unter 40 Jahre alt. Machulik ist froh, wenn er genug Mitglieder organisiert, die die Infostände betreuen. Allerdings fragt er sich auch: „Ist das noch die richtige Form, um Wähler anzusprechen?“

SOZIOLOGEN NENNEN ES SEGREGATION

Stephan Machulik sieht heute einen politischen Fehler darin, dass der Berliner Senat in den 90er Jahren Leerstand in den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften vermeiden wollte und darauf bestand, die Wohnungen möglichst schnell wieder zu belegen. Es kamen diejenigen, die kein anderer Vermieter aufnehmen wollte: Migranten, darunter einige Tausend Russlanddeutsche, und Sozialleistungsempfänger. So tragen die Großsiedlungen, die einst gebaut wurden, um soziale Probleme zu entschärfen, zur heutigen sozialen Spaltung bei. Aufgrund der Masse an Wohnungen wurden hier blockweise Menschen mit ähnlich schwieriger sozialer Lage untergebracht, obwohl „bessere“ Stadtteile mehr soziale Ressourcen hätten, um zum Beispiel Migranten aufzunehmen. Die Bewohner verstärken sich gegenseitig in ihrer Meinung, dass die Politik sie allein lasse und dass ein Wahlgang keinen Sinn für sie habe. Früher hat der Lehrer den angelernten Arbeiter, mit dem er die Etage im Wohnblock teilte, im Zweifel zur Wahl bewogen, heute leben sie in getrennten Sphären – Segregation nennen Soziologen dieses Phänomen.

Zusätzlich unter Druck geriet das Falkenhagener Feld durch den Verkauf von ehemals landeseigenen Wohnanlagen an private Fondsgesellschaften. Bezirkspolitiker und Quartiersmanager berichten übereinstimmend, dass sich der Zustand der Anlagen rapide verschlechtert hat, weil zu wenig in den Erhalt investiert wurde. Die neuen Eigentümer zeigten kein Interesse an Investitionen wie Spielplätzen oder Gemeinschaftsräumen. Inzwischen beginnt eine landeseigene Wohnungsgesellschaft, Immobilien zurückzukaufen, worüber Stephan Machulik froh ist: „Öffentliche Gesellschaften sind kooperativer, und die Einflussmöglichkeiten des Bezirks sind größer.“

VIEL FRUST IM QUARTIER

Ute Gourri sitzt in ihrem kleinen Büro, einem ehemaligen Kiosk, während die Flugzeuge im Minutentakt im Anflug auf Berlin-Tegel über das Falkenhagener Feld donnern. Sie führt den Verein „Nachbarn im Kiez“, der Nachhilfe für Schüler, Beratungen und Hilfe bei Nachbarschaftsprojekten anbietet. Ute Gourri sieht das Grundübel im Rückzug des Staates dort, wo er am nötigsten ist. „Früher hatten wir hier ein Gesundheitsamt mit Schulärzten, Sozialfürsorge und sozialpsychiatrischer Beratung. Das ist alles weg“, sagt sie und zeigt auf einen leer stehenden Bürobau, der inzwischen von der benachbarten Schule übernommen worden ist. 

An die Stelle des Staates sind freie Träger getreten, gemeinnützige GmbHs, die im Auftrag des Landes mit Hilfe von EU- und Bundesmitteln versuchen, dem Quartier zu helfen. Eine absurde Situation: Der Staat hat sich zurückgezogen, um später wieder Geld zu geben, ohne direkt Einfluss nehmen zu können. Die Träger arbeiten projektbezogen und zeitlich begrenzt. 

Auch Ute Gourris Nachbarschaftstreff wurde zunächst gefördert, jetzt stemmt die pensionierte Justizbeamtin den Betrieb mit ehrenamtlichen Helfern. Sie beobachtet viel Frustration im Quartier, weil „die Leute sich nicht ernst genommen fühlen“. Sie stellt fest, dass sich die verschiedenen Gruppen – Erstmieter, die inzwischen Rentner sind, Migranten verschiedener Herkunft, deutsche Hartz-IV-Bezieher – nicht füreinander interessieren. Jede Gruppe bleibe für sich.

Günther Hornberger ist Mitarbeiter bei einem der freien Träger im Falkenhagener Feld. 3,5 Stunden Sozialberatung pro Woche in einer „Kiezstube“ hat man ihm genehmigt, daneben betreut er noch andere Aufgaben. Seine Klientel sind Bewohner, die Hilfe bei Anträgen brauchen oder mit Geldsorgen konfrontiert sind. Einige Wohnungsbaugesellschaften bieten Hartz-IV-Empfängern gar Mietnachlässe, damit das Jobcenter die Miete übernimmt. Hornberger sieht die Tücken: Wenn ein Hartz-IV-Bezieher schließlich im Niedriglohnbereich Arbeit findet, kann es passieren, dass er die volle Miete nicht zahlen kann. Auch im „Feld“ sind die Mieten zuletzt angezogen. In anderen Fällen hat das Jobcenter seinen Klienten, die das Quartier verlassen wollen, um in einem anderen Bezirk einen Neuanfang zu wagen, den Umzug nicht genehmigt, weil die neue Miete zu teuer wäre. Die politisch inzwischen gewollte, bessere soziale Mischung wird so konterkariert. Mit der Förderung von Eigenverantwortung, mit der Hartz IV einst begründet wurde, haben diese Entwicklungen nichts zu tun. Günther Hornbergers Analyse ist bitter: „Wenn ich wenig Einfluss auf mein eigenes Leben habe, dann habe ich auch kein Interesse an meiner Umgebung und am öffentlichen Leben. Wenn ich den Eindruck habe, dass mich die Gesellschaft nicht mehr will und ich von ihr abgehängt werde, dann verliere ich das Interesse an der Gesellschaft.“

WAS KANN POLITIK?

Raed Saleh, ein SPD-Linker, ist Fraktionsvorsitzender im Berliner Abgeordnetenhaus, wollte im vergangenen Jahr Regierender Bürgermeister werden und hat seine politische Karriere in Spandau begonnen. Saleh ist so etwas wie der respektierte große Bruder im Bezirk. Er kennt die Probleme aus eigenem Erleben; der Sohn palästinensischer Einwanderer, der mit fünf Jahren nach Berlin kam, ist in einer ähnlichen Großsiedlung aufgewachsen. Sein Wahlkreis umfasst einen Großteil des Wohngebiets. Für die SPD hat er 2011 als direkt gewählter Abgeordneter das zweitbeste Ergebnis geholt. Und doch war die Wahlbeteiligung auch in seinem Wahlkreis mit knapp 52 Prozent ähnlich niedrig wie in anderen sozialen Brennpunkten. Die Vergleichszahlen: 60 Prozent gingen landesweit zur Wahl, in Steglitz-Zehlendorf waren es 70 Prozent. 

Raed Saleh teilt die Ursachenanalyse der Ortspolitiker und Aktiven im Falkenhagener Feld. Er kritisiert die Privatisierungswelle der Vergangenheit deutlich: „Es sind gravierende Fehler gemacht worden.“ Auf die Wohnraumknappheit habe der letzte SPD-geführte Senat zu spät reagiert. Inzwischen versucht die Politik, gegenzusteuern, unter anderem bauen die städtischen Wohnungsbaugesellschaften wieder. Saleh sieht viel Potenzial bei den Bewohnern des Falkenhagener Feldes, meint aber auch: „Wir binden diese Potenziale zu wenig ein.“ Seine Überzeugung, dass der Markt nicht alles regeln könne, wirkt bei Raed Saleh nicht einfach so dahergesagt. Seine eigene Lebenserfahrung spielt mit hinein, wenn er sagt: „Ich war nicht meines eigenen Glückes Schmied, ich habe Hilfe bekommen – viel Hilfe.“

Mehr Informationen

Armin Schäfer: DER VERLUST POLITISCHER GLEICHHEIT. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, Band 81. Frankfurt am Main, Campus Verlag 2015

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