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Magazin Mitbestimmung

Weltsozialforum: Protestpotenzial trifft sich

Ausgabe 04/2015

Großartige Möglichkeiten, über den nationalen Tellerrand hinauszuschauen, aber auch Terrorängste und abseitige Aktionen – das Weltsozialforum 2015 in Tunis zeigt, in welch schwieriger Phase es selbst und der Arabische Frühling sind. Von Cornelia Girndt,

Wehte da wirklich der „Wind of Change“ durch den Campus der El-Manar-Universität? Oder war es nur ein veritabler Sturm, der in der letzten Märzwoche durch Tunis und über die Boulevards der europäischsten Stadt Afrikas fegte? Hat die Autorin also das kollektive Aufrütteln schlicht verpasst? Weil, wer beim Weltsozialforum (WSF) einen bestimmten Workshop besucht, gleichzeitig 80 andere Auftritte der kämpferischen globalen Zivilgesellschaft verpasst, die parallel dazu laufen. Dies wäre umso bedauerlicher, weil wir doch „eine weltweite Zunahme von Unzufriedenheit und einige der größten Proteste der Weltgeschichte“ erleben – wie eine Studie der FES New York herausgefunden hat, die hier in Tunis vorgestellt wurde. Proteste, die nicht zufällig seit der globalen Wirtschaftskrise die Welt erschüttern – vom Arabischen Frühling bis zu den spanischen Empörten, von Occupy bis zu Hungeraufständen. Sie werden in eine Reihe gestellt mit den Umwälzungen von 1848, 1917 und 1968, in denen Menschenmengen rebellierten und Veränderungen verlangten. 

JUGENDLICHER ENTHUSIASMUS

Dazu passte dann in der Tat die Melodie von „Give Greece a Chance“, die durch viele Workshops klang. Europaparlamentarier von Syriza, der griechischen Linkspartei, und von der spanischen Podemos sind da, und die versammelte Linke drängt darauf, das von ihr ausgemachte Zeitfenster strategisch zu nutzen – für die Transformation des Kapitalismus, ein Megathema auf allen Weltsozialforen. 

Viele Menschenrechtsinitiativen waren präsent, die diesmal das Thema Migration in den Mittelpunkt stellten. So berieten die Gewerkschaftsdachverbände aus Tunesien, Italien und Frankreich über koordinierte Aktionen angesichts der Flüchtlingsdramen zwischen Nordafrika und Europa. Und die deutsche Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) warb für mehr Bildungsanstrengungen für Flüchtlingskinder. Von den deutschen Gewerkschaften war diesmal sonst keine vertreten. Doch: Eine Gruppe der DGB-Jugend aus NRW legte einen mitreißenden Aktivismus vor. Ohne den hätten die zwölf Jugendvertreter und Studenten (unter ihnen Böckler-Stipendiaten) nicht den Geldtopf des Auswärtigen Amtes ausfindig gemacht, aus dem sie dann doch noch ihren Trip ins Herz des Arabischen Frühlings finanzieren konnten. 

Der geriet zum enthusiastischen Bildungsprogramm: Gestern haben sie noch schnell einen Termin im Gewerkschaftshaus der UGTT im Stadtzentrum von Tunis organisiert, wobei man die dramatische Joblosigkeit der tunesischen Hochschulabsolventen besprach. Am Morgen haben sie sich schon früh im Hotel mit Peter Senft verabredet, dem deutschen Sozialreferenten an der Botschaft in Kairo und Tunis. Dazwischen geht’s zum Auftakttreffen der deutschen WSF-Teilnehmer im Haus der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Und – schnell umziehen – am Abend zum Empfang der FES hinein in das Stimmengezwitscher der so neuen tunesischen Zivilgesellschaft. Um dann noch die eigenen Workshops vorzubereiten, einen zur dualen Bildung, den zweiten zur deutschen Mitbestimmung. 

WAS AUS UNSERER REVOLUTION WURDE

Bedrückt wirken dagegen die jungen Bürgerrechtler aus Jemen, Marokko und Tunesien. Fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling wurden sie von der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgewählt, hier Bericht zu erstatten über ihre „Revolution“, wie sie den Umbruch nennen. Sally Adeeb, 23, Gründerin der sozialistischen Partei in Jemen, rattert etwas abwesend Kampfgeist herunter. Vermutlich ist ihr zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass sie und ihre Landsleute zunächst in Tunis bleiben müssen, weil seit zwei Tagen in ihrem Land Krieg ist. Ihre Co-Referentin, eine junge Aktivistin aus Ägypten, war kurz vor Beginn der Runde über ein Übersetzungskabel gestolpert und wird (lieber) nichts berichten. Sie hätte wohl andeuten müssen, was Peter Senft am Tag zuvor im Kreis der DGB-Jugend gesagt hatte: dass der autoritäre Rollback in Ägypten beachtlich und das neue Parlament eine Farce ist. 

Was wolltet ihr, was habt ihr bekommen? „Wir wollen eine konstitutionelle Monarchie wie in Spanien“, lautet die mutige und klare Ansage des marokkanischen Aktivisten Mehdi Bouchouna. Und der 25-jährige Zied Boussen, ein tunesischer Revolutionär der ersten Stunde, der die NGO „Jeunes indépendants démocrates“ gegründet hat, sagt: „Wir wollten vor allem eins: Jobs! Aber da ist bisher nichts passiert. Und wir wollten Freiheit! Ja, Demokratie und freie Gewerkschaften, das haben wir erreicht“, sagt Boussen. Auch nationale Würde sei für viele Tunesier ein Wert, zu zeigen, dass man Kultur hat und gut ausgebildete Menschen.

TERROR SETZT UNTER STRESS

Richtig lebhaft wird der junge Demokrat erst, als eine aparte Frau mit pastellfarbenem Kopftuch sich „im Namen Gottes“ zu Wort meldet und kritisiert, man habe in Tunesien zu viel Zeit auf die verfassungsgebende Versammlung verschwendet, statt sich um soziale Gerechtigkeit zu kümmern. „Wenn wir die neue Verfassung nicht hätten, könntest du jetzt nicht hier sitzen und deine Meinung sagen“, kontert der junge Mann. 

Auch er weiß in diesem Augenblick, dass die Gewehrschüsse vor genau einer Woche im Bardo-Museum, die 22 Menschen, darunter 21 Touristen, töteten, die Suche nach Jobs schwieriger gemacht und gezeigt haben, wie fragil die Lage ist – auch im demokratischen und gewerkschaftlich aktiven Hoffnungsträgerland Tunesien, das an seinen Grenzen zu Algerien und Libyen Dschihadisten bekämpfen muss. Das Attentat wenige Tage vor Beginn des Weltsozialforums 2015 setzte die teilnehmenden Organisationen – darunter aus Deutschland auch attac, Brot für die Welt und das Forum solidarische Ökonomie – kurzfristig unter Stress. Sie entschieden, ja, wir fahren nach Tunis, räumten aber ihren Delegationsmitgliedern ein, jederzeit absagen zu können. Was einige taten. 

„Wir sind auch deshalb hierhergekommen, weil wir den Demokratieprozess unterstützen wollen“, sagt Manfred Brinkmann, Leiter Internationales beim GEW-Vorstand, einem tunesischen Radiosender. Dessen Station gleich gegenüber dem Hotel Ibn Khaldun ist seit dem Anschlag mit Absperrungen verbarrikadiert. So wie die Regierungsgebäude überall in der Stadt. Auch vor dem Eingang zur El-Manar-Universität bilden sich lange Schlangen, weil jeder der geschätzt 20 000 Teilnehmer seinen Rucksack öffnen muss. Ehe sich die Aktivisten in zeitraubenden Suchprozessen zu einem der über 1000 Workshops und durch das pfundschwere Programmheft durchkämpfen. Trotz allem – ein Weltsozialforum bietet großartige Möglichkeiten, über den nationalen und eurozentrischen Tellerrand hinauszuschauen. Mit libyschen Kriegsflüchtlingen in Kontakt kommen aus dem aufgelösten Lager Coucha, von geheim gehaltenen Frackingprojekten in der Sahara zu erfahren, einer iranischen Wissenschaftlerin und Feministin zu lauschen, die sagt: „Unter dem Schah wurde meine Großmutter gezwungen, das Kopftuch abzulegen, unter Chomeini wurde meine Mutter gezwungen, es zu tragen, ich will selbst entscheiden können.“ 

TREFFPUNKT DER BILDUNGSINTERNATIONALE

Gegründet wurde das Weltsozialforum 2001 im brasilianischen Porto Alegre als Treff der globalen Zivilgesellschaft. Motto: „Eine andere Welt ist möglich“. Manfred Brinkmann und der Brandenburger GEW-Landesvorsitzende Günther Fuchs waren seitdem alle zwei Jahre dabei und wissen, wie man ein Weltsozialforum mit Bildungsthemen bespielt, zusammen mit internationalen Partnern in der Delegation – diesmal aus der Türkei und Burkina Faso. 

Zweimal täglich schleppen Brinkmann und Fuchs den schweren Koffer mit den Übersetzungsutensilien quer über den weitläufigen Campus zu ihren Veranstaltungen. An Tag zwei des WSF quetschen sich 140 Menschen in einen Raum nicht größer als ein Klassenzimmer. Da sitzt, sein iPad auf dem Schoß, Augustin Tumba Nzuuji, der Präsident der Lehrergewerkschaft des demokratischen Kongo, neben ihm der Kollege von der Elfenbeinküste. 

Das Thema lautet: Welcher Druck geht von den Freihandelsabkommen TISA und TTIP aus, Bildung zu privatisieren? Vorne klärt eine US-Aktivistin von „Our World is not for Sale“ auf, flankiert wird sie von Erfahrungs- und Widerstandsberichten aus Deutschland, Portugal und Kanada. Ganz am Schluss steht ein älterer Mann auf, der einen weißen Turban trägt, und sagt: „Ich habe heute viel Interessantes erfahren, bei uns in Indien ist man gerade dabei, aus Bildung eine Industrie zu machen.“ 

ANTISEMITISMUS NICHT ZULASSEN

Gestern hatten sie auf der Demo ein Großplakat gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit durch die Straßen von Tunis getragen. Und jetzt wird auf dem Campus zwischen den weißen Zeltpavillons auf der israelischen Flagge herumgetrampelt und werden diverse Plakate aufgehängt, etwa mit dem Judenstern als Zielscheibe.

Was die 16 GEWler ziemlich empört. Zumal sie im Vorfeld eine Erklärung angeregt hatten, nach der „wir gemeinsam dafür Sorge tragen müssen, dass auf dem Weltsozialforum 2015 jeder Art von Diskriminierung und Antisemitismus konsequent entgegengetreten werden muss“. Die war dann aber weder verabschiedet noch ins Netz gestellt worden, weil die Nordafrika-Büros der beiden deutschen Parteienstiftungen zögerten – aus Rücksicht auf ihre arabischen Kooperationspartner, wie es hieß. Eine Haltung, die nicht nur den GEW-Landesvorsitzenden Fuchs ziemlich auf die Palme brachte.

Mehr noch: Das gut gemeinte Prinzip, dass sich beim Weltsozialforum jeder mit jedem (noch so abseitigen) Thema online anmelden kann, ist einigen Menschenrechtlern bitter aufgestoßen. Es kam zu Handgreiflichkeiten zwischen Marokkanern und Algeriern über die Westsahara und deren Flüchtlingslager. Und es wurde eben auch Leuten ein Forum geboten, die man durchaus als Stalinisten, antisemitische Hetzer und Diktatorenfreunde bezeichnen darf. Was „taz“-Redakteur Christian Jakob mit der Aufforderung an die Organisatoren verband: „Lasst nicht jeden rein.“ Im Netz fiel das Resümee von Tunis 2015 ambivalent aus. „Ein anderes Forum ist möglich“, schrieb ein Teilnehmer ironisch. Das dürfte sich spätestens beim nächsten Mal zeigen, im August 2016 in Quebec.

MEHR INFORMATIONEN

 Gibt es auf der Internetseite der GEW zum Weltsozialforum

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