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Magazin Mitbestimmung

Schweden: Neue Chance

Ausgabe 03/2015

Durch die rot-grüne Regierung von Stefan Löfven, ehemals Chef der Metallgewerkschaft, bekommen Sozialstaat und Gewerkschaften wieder Rückenwind. Doch der politische Handlungsspielraum für ein neues schwedisches Modell ist begrenzt. Von Michaela Namuth

Die Olof Palmes Gata liegt im Geschäftszentrum von Stockholm. Verglaste Bürohäuser stehen neben Einkaufszentren. Hier, direkt vor dem Hauptquartier der Gewerkschaft IF Metall, wurde 1986 der sozialdemokratische Staatschef Olof Palme ermordet. Sein Name stand wie kaum ein anderer für das sogenannte „schwedische Modell“: ein Wohlfahrtsstaat, auch „Volksheim“ genannt, der die größtmögliche soziale Gleichheit seiner Bürgerinnen und Bürger anstrebt, ohne das kapitalistische Wirtschaftsmodell infrage zu stellen. Das weltweit bewunderte Modell hat fast ein halbes Jahrhundert lang funktioniert.

Doch in den 90ern, als das exportabhängige Land die Auswirkungen der Globalisierung zu spüren bekam, wurden als Antwort auf die Krise sozialstaatliche Ausgaben und Steuern gesenkt. Schulen und Krankenhäuser wurden zum Großteil privatisiert. In den vergangenen acht Jahren haben rechtsliberale Regierungen den systematischen Abbau von sozialen Rechten betrieben. Es entstand ein zweiter Arbeitsmarkt mit jugendlichen und ausländischen Billigarbeitskräften. Dies hat auch den schwedischen Gewerkschaften zugesetzt, die mit 70 Prozent Organisationsgrad zwar immer noch die stärksten der Welt sind, aber dennoch seit 2006 zehn Prozent ihrer Mitglieder eingebüßt haben.

DER HOFFNUNGSTRÄGER

Doch seit vergangenem Herbst herrscht wieder Aufbruchstimmung im Gewerkschaftshaus in der Olof Palmes Gata. Der Wahlsieg des Sozialdemokraten Stefan Löfven weckt Hoffnung. „Das schwedische Modell bekommt eine neue Chance“, sagt Anders Ferbe, Chef der IF Metall. Der neue Regierungschef ist ein Mann aus den eigenen Reihen. Der 58-jährige Löfven, der Sozialarbeit studiert und später als Schweißer gearbeitet hat, war von 2006 bis 2012 Vorsitzender der IF Metall, die früher Svenska Metall hieß. Nach seinem Wahlsieg sagte er: „Unser Land befindet sich in einer ernsten Lage. Hunderttausende haben keine Arbeit. Kein anderer OECD-Staat hat beim PISA-Test an den Schulen so viel an Boden verloren. Da ist etwas zu Bruch gegangen in Schweden.“ Diesen Bruch will er wieder kitten. Aber bei der Wahl haben nicht nur die Sozialdemokraten zugelegt, sondern auch die einwanderungsfeindlichen Rechtspopulisten der Schwedenpartei. Sie haben das rot-grüne Minderheitskabinett, das nur mit den Stimmen aus anderen Parteien regieren kann, gleich im Dezember am Haushalt scheitern lassen. Löfven hatte für März Neuwahlen angekündigt. Jetzt will er aber doch mit der Allianz der Mitte-rechts-Parteien weiterregieren. Das schränkt seinen Handlungsspielraum ein.

Dennoch hat sich die Lage verändert, auch für die Gewerkschaften. „Diese Regierung sucht den Dialog mit uns. Das war in den vergangenen Jahren nicht so“, erklärt Metaller-Chef Ferbe. Eine der ersten Regierungsmaßnahmen war die Erhöhung des Arbeitslosengeldes, die ab Mai 2015 gelten soll. Derzeit beträgt es monatlich zwischen 500 und 1000 Euro und gehört damit – im Verhältnis zu den Lebenskosten – zu den niedrigsten Europas. Jetzt soll das Tagesgeld von 680 auf 900 Kronen erhöht werden, umgerechnet rund 90 Euro. Da es von den Gewerkschaften ausbezahlt wird, bedeutet die Erhöhung auch eine Stärkung ihrer Position.

Löfven hat ein Beschäftigungsprogramm und Investitionen in grüne Technologien und Infrastrukturen versprochen. Seit 2007 wurden in der schwedischen Wirtschaft 150 000 Arbeitsplätze abgebaut. Die Arbeitslosenquote beträgt acht, die der Jugendlichen unter 25 Jahren sogar 22,7 Prozent. Dazu kommt die zunehmende Fragmentierung des Arbeitsmarktes: Während die von der IF Metall oder anderen Gewerkschaften vertretenen Arbeitnehmer gut bezahlt und abgesichert sind, wächst die Grauzone der prekär Beschäftigten außerhalb des stark dezentralisierten Lohntarifsystems. Heute haben zehn Prozent der Beschäftigten befristete Verträge, die meist auch Billiglohnverträge sind. Vor zehn Jahren war es noch ein Prozent. Einen gesetzlichen Mindestlohn gibt es nicht. Das möchten die Gewerkschaften auch nicht. Ihr Organisationsgrad ist immer noch so hoch, dass sie dieses und andere Themen der sozialen Sicherheit direkt mit den Arbeitgebern aushandeln können. „Wir wollen nicht, dass Politiker darüber entscheiden. Das ist seit jeher unser Terrain“, erklärt Ferbe, der den Organisationsgrad der IF Metall auf 80 Prozent beziffert. Das gelte auch für Volvo, Saab und ABB, die längst nicht mehr in schwedischer Hand sind. 

Die starke Präsenz von multinationalen, exportorientierten Konzernen in Schweden ist auch einer der Gründe für die seit jeher starke internationale Ausrichtung der Gewerkschaften. Deshalb ist Ferbe viel unterwegs, in China und vor allem in Europa. Sein Koffer steht schon gepackt neben dem Schreibtisch. Er fliegt gleich nach Brüssel zu einer Konferenz von IndustriALL. „Im Moment sind wir zwar nicht traurig darüber, nicht zur Eurozone zu gehören, aber Europa ist und bleibt die Basis unserer Politik“, sagt er.

EINSCHNEIDENDES EUGH-URTEIL

So sehen das auch seine Kollegen von der TCO, dem Dachverband der Angestellten. Samuel Engblom, Leiter der Politikabteilung, war früher Chefjurist der Gewerkschaft. „Rechtliche Angelegenheiten bedeuten für uns immer europäische Angelegenheiten“, erklärt er. Für die TCO und die anderen schwedischen Gewerkschaften ist deshalb der Stachel, der sie am meisten verletzt hat, das sogenannte Laval-Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Dieser hatte 2007 auf die Klage der lettischen Baufirma Laval entschieden, dass sie für die nach Schweden entsandten Arbeiter keinen schwedischen Tarifvertrag abschließen muss. In Schweden, wo die Wirtschaft von ausländischen Multis dominiert wird, wirkte das Urteil wie ein Hammerschlag. „Es ist eine Aufforderung zum Sozialdumping und muss geändert werden“, sagt Mika Domisch, der in Engbloms Abteilung für europäische Politik zuständig ist. Sein Verband drängt auf eine Revision des Urteils.

Die TCO ist einer der drei großen Dachverbände – Landesorganisationen i Sverige (LO), Tjänstemännens Centralorganisation (TCO) und Sveriges Akademikers Centralorganisation (SACO). Zu ihnen gehören nahezu alle 60 Einzelgewerkschaften. In Schweden wie in den anderen nordischen Ländern sind die Gewerkschaften nach Berufsständen aufgeteilt. Die LO, zu der auch die IF Metall gehört, organisiert vor allem Arbeiter. Ihre traditionelle Bindung an die sozialdemokratische Partei ist allerdings weniger eng als früher. 

„Wir vertreten die gesamte Skala vom Unternehmensberater bis zum Callcenter“, erklärt Engblom von der TCO, die in der Dienstleistungsbranche stark ist. Seine Organisation verzeichnet vor allem bei den weiblichen Mitgliedern Zuwächse. Schon heute sind sie im Vorstand in der Mehrheit, und auch an der Spitze des Verbandes steht eine Frau. Weibliche Angestellte sind nach Engbloms Meinung die Gewerkschaftsmitglieder der Zukunft. Sie werden allerdings eher in exportorientierten Unternehmen arbeiten, weniger im öffentlichen Dienst, der seit den 90ern zunehmend privatisiert wurde. In keinem anderen Land gab es so starke Privatisierungen bei steuerfinanzierten Dienstleistungen wie Bildung, Pflege, Gesundheit und Flüchtlingsbetreuung.

Die Folgen dieser Politik werden von den Gewerkschaften heftig kritisiert. „In den Vorstädten und einwohnerschwachen Gebieten werden ärztliche Versorgung und Schulen mit dem Kostenargument gestrichen“, erzählt Engblom. Seiner Meinung nach gehören diese Karenzen und die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu den Ursachen der Jugendrevolte im Stockholmer Vorstadtviertel Hässelby vor zwei Jahren. Viele schwedische Jugendliche sind heute ungenügend qualifiziert und deshalb auf Billigjobs angewiesen, um die sie oft auch mit erwachsenen Einwanderern konkurrieren. Das schürt Konflikte und den Zulauf zu rechtsradikalen Gruppen.

ECKPFEILER DES SOZIALSTAATS

Auch Monika Arvidsson vom gewerkschaftlichen Thinktank Tiden beobachtet eine Realität, die den sozialen Zusammenhalt der schwedischen Gesellschaft langfristig gefährden könnte. „Es gibt heute Armut in diesem Land – Leute, die kein Geld haben, ihren Kindern etwas zu essen zu kaufen“, sagt sie. Doch ist die Ökonomin davon überzeugt, dass der schwedische Sozialstaat durchaus zu retten ist, wenn die Politik entsprechende Entscheidungen trifft. „Ein soziales Modell entwickelt sich dynamisch. Man muss es immer wieder korrigieren, und das hängt in hohem Maße von den nationalen Regierungen ab“, erklärt Arvidsson. Das größte Problem sieht sie derzeit darin, dass weder Schweden noch Europa in Arbeitsmarktpolitik investieren. In Schweden beruhen zwar viele soziale Errungenschaften auf der Verhandlungsstärke der Gewerkschaften, die deshalb auch zu den Eckpfeilern des Sozialstaats gehören. „Ohne politische Rahmenbedingungen werden aber auch sie langfristig geschwächt“, so Arvidsson.

Was die Forscherin vermisst, ist jemand, der eine Vision hat – wie Olof Palme, dessen Büste ernst den Eingang ihres Instituts bewacht. „Wenn wir ein anderes Wachstumsmodell möchten, muss sich die Politik für ein Gesellschaftsmodell entscheiden und nicht darauf schielen, was die Wirtschaft will“, sagt sie. Aber sie glaubt auch, dass man in Schweden mehr als eine Legislaturperiode braucht, um die Politik in diese Richtung zu steuern. Wie viele andere befürchtet sie allerdings, dass Löfven und seine Regierung diese Zeit nicht haben werden.

MEHR INFORMATIONEN

Gero Maaß: NORDIC MODEL 2030 – EROSION ODER ERNEUERUNG? In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1–2/2015. Kostenlos zu beziehen über: fes-wena@fes.de

Hakan A. Bengtsson: THE SWEDISH MODEL. Conflict or Consensus? Friedrich-Ebert-Stiftung, International Policy Analysis, November 2013. 

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