zurück
Magazin Mitbestimmung

Interview: "Warum nicht mal 30 Stunden?"

Ausgabe 01/2015

Arbeitszeitforscher Gerhard Bosch wirbt für eine verkürzte Normalarbeitszeit in bestimmten Lebensphasen. Eine generelle Arbeitszeitverkürzung sieht er skeptisch. Das Gespräch führten Kay Meiners und Ingo Zander

Herr Professor Bosch, von der Nachkriegszeit bis in die jüngere Vergangenheit konnten die deutschen Gewerkschaften mit Vorschlägen zur Arbeitszeitverkürzung punkten. Dann war das Thema zehn Jahre lang tot. Warum?

Durch die angespannte Arbeitsmarktlage nach der Wiedervereinigung sank der Einfluss der Gewerkschaften. Denken wir nur mal an die vorhersehbare Niederlage beim Streik für die Einführung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie im Jahr 2003. Danach verschwand das Thema über Nacht in der Versenkung. 

Was war die Folge dieser zehnjährigen Abstinenz?

Viele Beschäftigte waren froh, überhaupt einen Arbeitsplatz zu haben, und sahen in weitergehenden Forderungen eine Bedrohung ihres Arbeitsplatzes. Die Gewerkschaften führten bis vor ein paar Jahren fast nur noch Defensivkämpfe gegen eine Verlängerung der Arbeitszeiten durch abweichende Tarifverträge oder durch den Verlust der Tarifbindung. 

Jetzt kehrt das Thema zurück auf die tarifpolitische Agenda. Wie erklären Sie das Comeback? 

In der Krise ab 2008 konnten durch Kurzarbeit und andere Formen der Verringerung der Arbeitszeit in Deutschland Kündigungen vermieden werden. Damit war bewiesen, dass man durch die Umverteilung von Arbeitsstunden Beschäftigung sichern konnte. Mit der Senkung der Arbeitslosenzahlen, dem wachsenden Fachkräftebedarf sind die Arbeitnehmer zudem wieder selbstbewusster geworden. Plötzlich wurden lange unterdrückte Wünsche nach einer verbesserten Lebensqualität, zu der auch Zeitwohlstand gehört, wieder lebendig. 

Doch stoßen die Arbeitnehmer auf starke Gegenkräfte. 

In Teilen unserer Wirtschaft erleben wir eine deutliche Verlängerung der Arbeitszeit mit ständiger Rufbereitschaft auch in der Freizeit und im Urlaub. Weil die Nachfrage nach einfacher Arbeit nachgelassen hat, arbeiten gerade Beschäftigte mit höherer Qualifikation länger als früher. Die Unternehmen haben das Interesse, die „Gehirnlaufzeiten“ der guten Leute möglichst lange zu nutzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeiteten Führungskräfte fast in einer 40-Stunden-Woche, die Arbeiter schufteten 60 Stunden. Heute ist es eher umgekehrt.

Der Druck hat fraglos auch bei einfachen Tätigkeiten zugenommen. 

Ja. Die Kehrseite kürzerer Arbeitszeiten ist die Leistungsverdichtung. Man kann eine Arbeitsstunde von 1970 einfach nicht mehr mit heute vergleichen. Pflegekräften werden heute für die Arbeit mit Patienten zeitliche Vorgaben gemacht. Und die Digitalisierung sorgt dafür, dass die Taktung schneller wird und wir unter kontrollierten Bedingungen arbeiten. Jeder Maschinenbauer weiß, an welcher Position sich ein Fertigungsstück im Herstellungsprozess gerade befindet, und kann die Leistung der Mitarbeiter überwachen. Karl Marx hat das einmal die „dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit“ genannt.

Früher ging es gemütlicher zu?

Wir dürfen die Vergangenheit nicht romantisieren. Vergessen wir nicht, dass die Arbeitszeiten in der Landwirtschaft extrem lang waren – bei harter körperlicher Arbeit. Denken wir daran, dass der Samstag bis in die 60er Jahre ein normaler Arbeitstag war und dass Beschäftigte in den 70er Jahren im Schnitt dreimal so viele Überstunden anhäuften wie heute. Mittlerweile haben sich Unternehmen wegen hoher Zuschläge teilweise von der Samstagsarbeit und von Überstunden gelöst. Andererseits gibt es durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten oder durch die globale digitale Vernetzung von Arbeitsprozessen neue Wochenend- und Nachtarbeit. Die Bilanz ist sehr komplex. 

Wir haben eine starke Standardisierung, die auf der Fünf-Tage-Woche basiert. Trotzdem wirken viele Leute gehetzt. 

Die Standardisierung und den Wert des Wochenendes kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Eine Gesellschaft braucht solche Rhythmen. Bei Beschäftigten ohne geregelte Erholungspausen wächst der Wunsch, längere Auszeiten zu nehmen. Auszeiten sind inzwischen sogar unter Topmanagern hoffähig geworden. Der Wettbewerb setzt die Unternehmen jedoch unter einen enormen Druck, den sie an ihre Beschäftigten weiterreichen. Es gibt Unternehmen, die ausgelaugte IT-Spezialisten regelmäßig auswechseln. Die Experten verdienen sehr gut und scheiden frühzeitig aus. Aber das ist keine Lösung für alle. Ich plädiere eher für eine Entschleunigung auch durch Sabbaticals.

Heute sind viel mehr Frauen erwerbstätig als früher. Doch arbeiten sie oft weniger, als sie es sich wünschen. Was sind die Ursachen?

Durch die fehlende Kinderbetreuung, die Abgabenfreiheit für Minijobs, die über den Ehepartner abgeleitete Krankenversicherung und das Ehegattensplitting arbeiten viele deutsche Frauen in Minijobs. Diese sind gegenüber sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit erheblich billiger. Für manche Tätigkeiten werden fast nur noch Minijobs angeboten, wodurch die Chancen auf einen Übergang in reguläre Arbeit sinken. Im Unterschied zu anderen Ländern wurde bei uns die durchschnittliche Arbeitszeit der Frauen dadurch – entgegen ihren ausdrücklichen Wünschen – immer kürzer.

Sie plädieren als Wissenschaftler seit 15 Jahren für eine neue Arbeitszeitordnung. Wie sollten die Arbeitszeiten zukünftig gestaltet werden?

Ich werbe für ein neues Normalarbeitsverhältnis, in dem je nach Lebenslage auch Phasen mit bezahlten und unbezahlten Unterbrechungen oder Teilzeitarbeit einen Platz haben. Die Art und Weise, wie wir heute arbeiten, entspricht nicht mehr den Lebensentwürfen vieler Beschäftigter. Wir wissen längst, dass viele Frauen in einer längeren Teilzeit arbeiten wollen und dass Männer weniger Überstunden machen wollen. 

Männer sollen also weniger Erwerbsarbeit leisten und Frauen mehr? Was sind eigentlich die Vorteile? 

Die Vorteile liegen in einer größeren betrieblichen Bindung der zunehmend gut qualifizierten Frauen und der kostengünstigen Flexibilität bei kurzer Vollzeit, da die Überstunden innerhalb der Regelarbeitszeit keine Zuschläge erfordern. Die Polarisierung zwischen langen Arbeitszeiten und marginaler Teilzeitarbeit könnte abgebaut werden. Eine egalitärere Stundenverteilung würde auch die Einkommensungleichheit verringern. 

Sie plädieren aber nicht für eine große, allgemeine Arbeitszeitverkürzung? 

Das ginge an den Wünschen der Menschen ebenso vorbei wie an den Verhältnissen in den Betrieben, die in einer globalen Konkurrenz stehen. Firmen sollten aber verstärkt lange Teilzeit – zwischen 20 und 28 Stunden – sowie kurze Vollzeit – zwischen 28 und 35 Stunden – anbieten. Wenn Frauen und Männer gleichermaßen erwerbstätig sind, sich Erziehungs- und Pflegeaufgaben teilen, muss die Arbeitswelt flexibler werden. Wir brauchen ein neues, flexibles Normalarbeitsverhältnis mit der traditionellen Schutzfunktion, die ein unbefristeter Arbeitsvertrag bietet, aber erweitert um Optionen für eine selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung im Erwerbsverlauf. 2002 haben wir „längere Teilzeit“ und „kurze Vollzeit“ als neue Arbeitszeitnormen vorgeschlagen. Jetzt sind diese Begriffe endlich in der politischen Diskussion angekommen. 

Das hört sich alles gut an. Aber wer kann es sich schon leisten, längere Zeit nur 30 Stunden zu arbeiten? 

Wenn in einer Paarbeziehung beide 30 Stunden arbeiten, ist das Einkommen nicht niedriger als mit einem Alleinverdiener. Aber es stimmt: Bei einem zu geringen Haushaltseinkommen scheitert das Modell. In Ländern wie den USA, in denen Einkommen sehr ungleich verteilt sind, versuchen die Geringverdiener, ihren Lebensstandard durch einen zweiten Job oder Überstunden zu sichern. Bei zunehmender Einkommensungleichheit laufen alle Vorschläge zu einer auch nur vorübergehenden Verkürzung der Arbeitszeit ins Leere. 

Die Konsequenz ist, dass es nur funktioniert, wenn die Steuerzahler und die Unternehmen tiefer in die Tasche greifen? 

So pauschal – nein! Wir werden einem Vollzeitbeschäftigten kaum erklären können, warum er oder sie den Lohnausgleich für die Teilzeitarbeit anderer finanzieren soll. Nur bei gesellschaftlich wichtigen Aufgaben wie Kindererziehung, Pflege, Weiterbildung sollte der Staat die Einkommensverluste ausgleichen. Für die nicht bezahlten Auszeiten sollten Politik und Tarifpartner allerdings die Barrieren abbauen.

Wie können Politiker die neue, flexible Normalarbeitszeit attraktiv machen? Was sind die wichtigsten Bausteine? 

Die Option für eine flexible Nutzung des Elterngelds bis zum achten Lebensjahr eines jeden Kindes und einen zusätzlichen Bonus, wenn beide Eltern zwischen 25 und 30 Stunden arbeiten – so, wie beim Elterngeld Plus –, ist schon ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem neuen Normalarbeitsverhältnis.

Gibt es dafür eine ausreichende Infrastuktur?

Das Angebot an Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen mit zuverlässigen ganztägigen Öffnungszeiten muss weiter verbessert werden, sodass Eltern auch tatsächliche Arbeitszeitoptionen erhalten. Die gegenwärtigen Versuche der Politik, ein neues Familienmodell zu fördern, sind inkonsequent, da der Ausbau der Kinderbetreuung und der Ganztagsschulen durch gegenteilige Anreize im Steuer-, Sozial- und Arbeitsrecht konterkariert wird. 

Sie fordern Wahlarbeitszeiten für Beschäftigte, was neben dem Recht auf Teilzeit auch das Rückkehrrecht auf die alte Arbeitszeit einschließt. Wie weit zieht die Politik mit? 

Mit der Verabredung im Koalitionsvertrag, Rückkehrrechte auf die alte Arbeitszeit bei Kindererziehung und Pflege gesetzlich zu verankern, wurde ein großer Schritt in diese Richtung getan. Vielleicht kommt man im nächsten Schritt dazu, solche Rückkehrrechte auf alle Teilzeitbeschäftigten auszudehnen.

Zusätzlich plädieren Sie auch für den Ausbau bezahlter und unbezahlter Freistellungen für Weiterbildung. Überfordern Sie die Betriebe damit nicht?

Die Betriebe können nicht alles bezahlen. Aber ein Teil der Lohnerhöhungen kann in Weiterbildungszeiten gehen. Außerdem sollten wir – wie in Schweden – ein Erwachsenen-BAföG einführen, das aus Steuermitteln finanziert wird. Viele Betriebe praktizieren bereits flexible Arbeitszeitmodelle. Sie können die Beschäftigten stärker an den Betrieb binden, was mit wachsendem Fachkräftebedarf immer wichtiger wird. Flexible Arbeitszeiten werden zudem zum wesentlichen Instrument des Personalmarketings in der Konkurrenz um den knapper werdenden Nachwuchs. 

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig ist mit der Idee einer 32-Stunden-Woche ohne Lohneinbußen für junge Eltern bei der Kanzlerin abgeblitzt. Jetzt greift die IG Metall das Thema auf. Wird sie mehr Erfolg haben?

Wenn Politik und Tarifpartner mitziehen, ist die 32-Stunden-Woche für junge Eltern keine Utopie. Der Lohnausgleich über das Elterngeld hinaus wäre eine Art zweites Kindergeld, dessen Finanzierung in Konkurrenz zu anderen Zielen wie Freistellung für Weiterbildung oder Pflege steht. Die Finanzierung kann man nicht den Betrieben auferlegen, sodass die Tarifpolitik hier an Grenzen stößt.

Zur Person

Gerhard Bosch, geboren 1947 in Bamberg und Professor an der Universität Duisburg-Essen, befasst sich mit arbeits- und wirtschaftssoziologischen Fragen. Der Soziologe und Diplom-Volkswirt war von 1981 bis 1991 am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung beschäftigt, danach am Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen. Seit 2007 ist er geschäftsführender Direktor 
des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bosch war an zahlreichen nationalen und internationalen Forschungsprojekten beteiligt und gehörte vielen Expertenkommissionen an. Er ist Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und hat Aufsichtsratsmandate bei Mannesmann-Vallourec sowie bei ThyssenKrupp Steel Europe.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen