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Magazin Mitbestimmung

Republik Moldau: Aufgerieben zwischen Ost und West

Ausgabe 01/2015

In Chisinau drängen die Menschen angesichts der Politik Putins auf schnelle Beitrittsverhandlungen mit der EU. Was wäre der Preis? Von Silviu Mihai

Valeria Svart wartet seit Stunden vor der deutschen Botschaft in Chișinău. Es ist kalt in der moldauischen Hauptstadt, Nieselregen fällt auf den schlecht gegossenen Asphalt. Die 25-Jährige ist genervt. „Ende April wurde die Visumpflicht für die EU aufgehoben, doch das gilt nur für kurze Besuche“, erklärt sie. Svart ist in Chișinău geboren und begann hier an der Staatsuniversität ein Ökologiestudium, ehe sie vor drei Jahren nach Berlin wechselte. Sie redet schnell und erzählt gerne ihre Geschichte – in gepflegtem Rumänisch oder, wahlweise, in exzellentem Deutsch. Mit ihren Eltern, einem Lehrerehepaar, spricht sie Russisch.

Das Land, in dem Valeria Svart geboren wurde, gibt es nicht mehr: Als die Sowjetunion kollabierte, blieb Valeria, damals zwei Jahre alt, ohne eine klare nationale Identität. Genauer: Sie bekam mehrere Identitäten, die nur schwer zusammenpassen wollten. In Chișinău erklärten die Politiker 1991 die Unabhängigkeit der neuen Republik. Viele strebten eine schnelle Vereinigung mit dem benachbarten und historisch eng verbundenen Rumänien an, sie wollten sich der russischen Einflusssphäre entziehen. Der Versuch scheiterte, denn andere fühlten sich eher Russland verbunden.

REGION IM UMBRUCH

Viele Fragen sind seither national aufgeladen. Wer sich in der Republik Moldau als „rumänisch“ definiert, gilt automatisch als prowestlich, europäisch oder modern. Wer sich „russisch“ fühlt, muss sich oft anhören, er sei gegen den EU-Beitritt oder gar ein Anhänger Wladimir Putins. Jetzt hat die aggressive Politik Moskaus gegenüber der Ukraine die Menschen an den östlichen Grenzen der EU erschreckt. Die politischen Eliten in Chișinău, genauso wie in Kiew oder Tiflis, drängen lauter denn je auf eine schnelle Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU. Die Republik Moldau hat bereits das Assoziierungsabkommen unterzeichnet und ratifiziert – jenes Abkommen, das die Krise in Kiew auslöste und den früheren Präsidenten Wladimir Janukowitsch das Amt kostete, weil er die Unterschrift verweigerte.

Angesichts des Militärkonflikts in der Ukraine zeichnet sich in der Region eine neue Situation ab. Im Gegenzug zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens beschloss die EU im Schnellverfahren, die Visumpflicht für moldauische Staatsangehörige aufzuheben. Das fordern auch die Ukrainer – seit über zehn Jahren. Doch was bedeutet diese Turboannäherung an die EU aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht? 

Am 30. November fanden in Moldau Parlamentswahlen statt. Die proeuropäische Koalition, die das Land seit 2009 regiert, bekam wieder eine Mehrheit im Parlament: ein Zeichen, dass die Bürger die jüngste Annäherung an die EU und vor allem die Aufhebung der Visumpflicht zu schätzen wissen. Die prorussischen Parteien versuchten zwar, auf dem Land und unter den Rentnern zu mobilisieren, diesmal jedoch ohne Erfolg. „Der Weg in Richtung Europa ist für uns eine Chance, das Land zu modernisieren“, betont der sozialdemokratische Abgeordnete Igor Corman, der lange auch Botschafter in Berlin war.

POSTSOWJETISCHER ALLTAG

In den Straßen Chișinăus florieren die Wechselstuben, Plakate werben für Dienstleistungen rund um Arbeit in der EU, Übersetzungen und den internationalen Bargeldtransfer. Die Überweisungen an die Daheimgebliebenen machen rund die Hälfte des moldauischen Bruttoinlandsprodukts aus. Unweit des Regierungsviertels bieten Mobilfunkfirmen ihren Kunden Gesprächszeit auf Pump für den Fall, dass Guthaben und Geld alle sind – gegen Zins, versteht sich. Einkaufen gehen die meisten Hauptstadtbewohner auf Märkten, die nach dem Kollaps des sozialistischen Handels das Erscheinungsbild vieler postsowjetischer Städte prägen. Für ein Kilo Obst aus dem benachbarten Dorf oder eine Packung Zigaretten aus der Ukraine sind umgerechnet 30 Cent zu zahlen. Beim nächsten Händler gibt es chinesische Staubsauger und Dessous aus Bangladesch – während die wenigen Supermärkte mit einer beeindruckenden Auswahl an westlichen und russischen Qualitätswaren auf ihre exklusive Kundschaft warten. Kaviar von der sibirischen Pazifikküste und französischer Weichkäse, meist teurer als in Deutschland, gibt es hier nur für die Schönen und Reichen. „Für normale Arbeitnehmer ist der Supermarkt ein unbezahlbarer Luxus. Und selbst Arbeit überhaupt zu haben gilt als Privileg“, sagt Oleg Budza, der Vorsitzende des moldauischen Gewerkschaftsdachverbands CNSM. Der Durchschnittslohn der moldauischen Arbeitnehmer liegt bei rund 200 Euro im Monat, fast so hoch wie die Heizungsrechnung im Winter.

Auf der Flaniermeile der Hauptstadt mischen sich bei gutem Wetter Studenten mit gefälschten Markenschuhen, Bettler mit orthodoxen Ikonen, zwielichtige Geschäftsleute und Straßenhändler, die das beliebte Malzgetränk Kwas verkaufen. Hoch und runter rasen die Sammeltaxis, in und zwischen den moldauischen Städten die schnellsten und zuverlässigsten Verkehrsmittel: Nach einem ursprünglich deutschen Wort „Marschrutkas“ genannt, nehmen diese Kleinbusse so viele Passagiere an Bord, bis die Türen kaum mehr zu schließen sind. Jenseits der Hauptstraßen ist Armut allgegenwärtig. „Wir sind gezwungen, in den Verhandlungen mit Brüssel die Bedingungen der EU zu akzeptieren“, stellt Gewerkschafter Budza fest. „Wir wissen, dass durch das Freihandelsabkommen alles zunächst schlimmer wird, weil noch mehr Arbeitsplätze verloren gehen. Einziger Ausweg bleibt im Moment die Migration in den Westen.“

Auch beim besten politischen Willen wird für die Republik Moldau der Weg in die EU eine lange Reise sein. Chișinău ist im Vergleich zu Kiew oder Tiflis am weitesten gelangt – und hat dafür einen hohen sozialen Preis gezahlt. Zwar sind Arbeitnehmerrechte nicht direkt Teil der Verhandlungen mit Brüssel, doch die vollständige Öffnung des Markts für westeuropäische Produkte und Dienstleistungen setzt die einheimische Wirtschaft unter einen enormen Druck, für Investitionen fehlt meist das Kapital. Gleichzeitig besteht die EU-Kommission darauf, dass Subventionen abgebaut werden, was zu einer Verteuerung von Energie und Lebensmitteln führen wird. Nicht zuletzt leidet vor allem die moldauische Landwirtschaft unter den russischen Sanktionen: Auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU reagierte Moskau mit einem Importverbot, das Wein und Obst aus der Republik Moldau betrifft. 

SOWJETISCHE FOLKLORE

Darüber hinaus bleibt das Problem namens Transnistrien: jener schmale Landstreifen jenseits des Dnjestrs, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Stalin an die neue moldauische Sowjetrepublik angegliedert wurde. Als die Politiker in Chișinău immer mehr Autonomie gegenüber Moskau und eine Annäherung an Bukarest suchten, erklärte Transnistrien 1990 einseitig seine Unabhängigkeit – noch bevor die Republik Moldau ein Jahr später selbst so weit war. Es folgte ein politischer Konflikt, der 1992 zu einer militärischen Auseinandersetzung mit Hunderten von Toten auf beiden Seiten führte. 

Tiraspol, die Hauptstadt der abtrünnigen Republik Transnistrien, liegt nur 60 Kilometer von Chișinău entfernt. Die Marschrutka aber braucht fast zwei Stunden aufgrund eines mindestens halbstündigen Stopps für die Grenzabfertigung. Die 14. Russische Armee, die im militärischen Konflikt eine entscheidende Rolle zugunsten der transnistrischen Seite gespielt hat, ist noch immer am Dnjestr stationiert. Seit der Gründung regiert das Land eine Clique von ehemaligen staatssozialistischen Funktionären, die heute Geschäftsleute sind und eine autoritäre Farce mit sowjetischer Symbolik inszenieren. Die Straßen von Tiraspol tragen die Namen von Lenin oder Karl Liebknecht, die alten Helden des Kommunismus sind überall zu sehen. Bis heute wird die Regierung in Tiraspol durch Moskau unterstützt, vor Kurzem forderte das dortige Parlament, genau wie auf der Krim, die Aufnahme in die Russische Föderation. 

MOLDAUERIN UND EUROPÄERIN

Valeria Svart versteht sich als Moldauerin und Europäerin. „Ich bin stolz auf mein Land und möchte mich nach dem Studium unbedingt weiter in Moldau für soziale und Umweltprojekte engagieren“, erklärt sie enthusiastisch. „Wir brauchen endlich ein Recyclingsystem und vor allem Energieeffizienz, denn fast 40 Prozent der Energie gehen durch die alten Netze verloren. Und wir brauchen dringend Arbeitsplätze.“.

Wie Valeria Svart lebt heute beinahe ein Drittel aller Moldauer im Ausland, aber nur die wenigsten teilen ihren Wunsch nach einer Rückkehr. Denn die Hoffnungen, die sich viele Bürger der neuen Republik Anfang der 90er Jahre gemacht haben, wurden bitter enttäuscht. Der kleine Binnenstaat blieb politisch isoliert in einer Grauzone zwischen der EU und Russland, ohne über die strategische Bedeutung und die Ressourcen der Ukraine zu verfügen. Abhängig von der russischen Energie und angewiesen auf Subsistenzlandwirtschaft, gilt die Republik Moldau nach wie vor als das ärmste Land Europas. Erst seit der ukrainischen Krise bekommt auch sie ein wenig Aufmerksamkeit in den westeuropäischen Hauptstädten. 

Doch selbst in den prowestlichen Kreisen an der EU-Ostgrenze wird die Kritik am bisherigen Kurs Brüssels immer lauter. „Wenn die EU sich für uns tatsächlich interessiert, muss sie eine bessere Alternative anbieten als die zwischen Abhauen und Verhungern“, sagt Gewerkschafter Oleg Budza. „Sonst sieht es so aus, als ob Europa von Putins Aggression profitieren will, um neue Märkte zu erschließen, ohne Rücksicht auf die Menschen.“

GEWERKSCHAFTEN IN DER REPUBLIK MOLDAU UND DER UKRAINE: UNTER REFORMDRUCK

Die Gewerkschaften in der Republik Moldau kämpfen mit den typischen Problemen der postsowjetischen Gesellschaften – genau wie beim großen Nachbarn, der Ukraine. Mitgliederschwund, Anpassungsschwierigkeiten in einem raschen Strukturwandel und Korruptionsprobleme erschweren eine effiziente Arbeitnehmerinteressenvertretung. Der größte ukrainische Gewerkschaftsverband FPU, der überwiegend Industriearbeiter aus den staatlichen Unternehmen organisiert, verliert mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und der Arbeitsbedingungen an Durchsetzungskraft, während die Organisierung der Arbeitnehmer im neuen Privatsektor noch in den Kinderschuhen steckt. 

Beide Länder stehen heute vor einer vielleicht einzigartigen historischen Chance. Ihre europäische Integration bzw. Assoziierung wird ernsthaft diskutiert. Doch auf diesem Weg warten enorme Herausforderungen. Das Erbe der alten Schwerindustrie aus Sowjetzeiten ist – vor allem in der Ukraine – eine schwere Last. Die EU, der IWF und eine Mehrheit der Ökonomen betonen die Notwendigkeit, die marode, hoch subventionierte Industrie radikal zu reformieren, zu privatisieren oder zu schließen. Zugleich beschäftigen diese Fabriken, Minen oder Kommunalunternehmen Millionen Arbeitnehmer. 

In beiden Ländern führt die Schwäche des Staates zu einer chronischen Unterfinanzierung des öffentlichen Sektors, die vor allem die Bereiche Bildung, Gesundheit und Verwaltung schwer beeinträchtigt. Notorisch niedrige Gehälter und mangelnde Investitionen demotivieren die Beschäftigten und schufen über Jahre ein Gefühl der Ohnmacht und Apathie. Auch die verbreitete Schattenwirtschaft erschwert die gewerkschaftliche Organisierung. Die Landwirtschaft, in beiden Ländern nach wie vor ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, ist ebenfalls weitgehend ein weißer Fleck für die Arbeitnehmervertreter. Nach der Krise in der Ukraine wird – eine geopolitische Befriedung vorausgesetzt – mit weiteren Wirtschaftsreformen gerechnet. Eine weitere Annäherung Moldaus an die EU knüpft Brüssel an drastische Sparmaßnahmen und an die Umstrukturierung zahlreicher Bereiche. „Viele Forderungen der EU-Kommission sind sinnvoll und tragen zur Modernisierung von Staat und Gesellschaft bei“, sagt Ana Mihailov, Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chișinău. Auch die Gewerkschaften müssten sich einem Reformprozess unterziehen, ihre Strukturen an die neuen Realitäten anpassen und ihr Image als Teil des alten Kollektivs glaubhaft überwinden. Nur so könnten sie effektiv Arbeitnehmerrechte vertreten und verteidigen. Diese Aufgabe wird immer wichtiger, denn jetzt werden die Weichen für die künftige, europäische Entwicklung der Region gestellt.

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