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Pressemitteilungen

In Westeuropa zwischen 8,06 und 11,12 Euro: Mindestlöhne in der EU wieder stärker gestiegen

02.03.2015

Mit Deutschland verfügen nun 22 von 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union über einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Die Mehrheit unter ihnen hat ihre Lohnuntergrenze zum 1. Januar angehoben. Die Erhöhungen fielen überwiegend etwas stärker aus als in den Vorjahren. Da gleichzeitig die Inflation sehr niedrig war, legten die Mindestlöhne in den meisten EU-Ländern auch real zu. Das zeigt der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Während der preisbereinigte Zuwachs in West- und Südeuropa meist unter zwei Prozent blieb, stiegen die Lohnuntergrenzen in den meisten mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländern auf niedrigerem Niveau deutlich. Der deutsche Mindestlohn ist im westeuropäischen Vergleich moderat und liegt relativ zum nationalen Durchschnittsverdienst lediglich im internationalen Mittelfeld.

11,12 Euro in Luxemburg, 9,61 Euro in Frankreich, 9,21 Euro in den Niederlanden – zum 1. Januar 2015 haben 16 EU-Länder ihre gesetzlichen Mindestlöhne erhöht. Großbritannien und Portugal hatten schon im vergangenen Herbst aufgeschlagen. Im Vergleich zu den Vorjahren, in denen die Austeritätspolitik in zahlreichen EU-Staaten auch die Mindestlohnentwicklung ausbremste, „gewann die Entwicklung wieder etwas an Fahrt“, schreibt WSI-Tarifexperte Dr. Thorsten Schulten im Mindestlohnbericht, der in der neuen Ausgabe der WSI-Mitteilungen erscheint.

Das lässt sich nach Analyse des Forschers an zwei Indikatoren ablesen: Zum einen sank die Zahl der Länder, die ihren Mindestlohn „eingefroren“ haben, im Vergleich zu 2013 von 6 auf 3. Und in den Ländern, in denen es Erhöhungen gab, fielen diese meist etwas stärker aus. In West- und Südeuropa reichten die nominalen Anhebungen von 0,2 Prozent in Luxemburg, Malta und Slowenien bis zu 3 Prozent in Großbritannien und 4,1 Prozent in Portugal. In Osteuropa stiegen die Mindestlöhne fast überall um nominal mindestens drei Prozent, in Rumänien sogar um 14,7 Prozent. In insgesamt 17 Ländern lag die Anhebung über der – niedrigen – Inflationsrate, 2013 hatte das für 14 Staaten gegolten. Auch einige Länder außerhalb der EU hoben ihre Mindestlöhne spürbar oberhalb der Inflation an, darunter Korea, die Türkei und Brasilien. In den USA verlor der nationale Mindestlohn dagegen real um 1,6 Prozent an Wert.

Westeuropäische Euro-Länder zwischen 8,50 und 11,12 Euro
In den westeuropäischen Euro-Ländern betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne nun zwischen 8,50 Euro in Deutschland und 11,12 Euro brutto in Luxemburg. In Großbritannien müssen umgerechnet mindestens 8,06 Euro gezahlt werden. Dieser Wert ist jedoch von der anhaltenden Schwäche des Britischen Pfunds beeinflusst. Wenn man den Wechselkurs zugrunde legen würde, der 1999 bei Einführung des britischen Mindestlohns galt, läge dieser heute bei 9,87 Euro und damit im westeuropäischen Spitzenbereich, erklärt Schulten.

Die südeuropäischen EU-Staaten haben Lohnuntergrenzen zwischen gut drei Euro in Portugal und 4,16 Euro auf Malta. Etwas darüber liegt mit 4,57 Euro Slowenien. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne noch deutlich niedriger. Allerdings haben mehrere davon weiter aufgeholt. So müssen etwa in Polen jetzt mindestens 2,42 Euro pro Stunde bezahlt werden. Zudem spiegeln die Niveauunterschiede zum Teil auch unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und dem höchsten gesetzlichen Mindestlohn in der EU von 1:11 auf etwa 1:5,5.

Deutscher Mindestlohn moderat
Der neue deutsche Mindestlohn liegt nach Schultens Analyse bei der absoluten Höhe „am unteren Rand der westeuropäischen Spitzengruppe“ – hinter Luxemburg, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Irland. Schaut man auf das relative Niveau, rangiert Deutschland lediglich im internationalen Mittelfeld: Gemessen am jeweiligen Medianlohn, den Vollzeitbeschäftigte verdienen, hätte die deutsche Lohnuntergrenze im Jahr 2013 – dem letzten, für das derzeit international vergleichbare Daten vorliegen – 50 Prozent betragen. Beim Medianlohn handelt es sich um denjenigen Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Da seit 2013 der Medianlohn in Deutschland weiter angestiegen ist, dürfte der relative Wert des Mindestlohns heute sogar unter 50 Prozent liegen. Ähnlich ist das Niveau in zahlreichen Ländern innerhalb und außerhalb Europas. Deutlich höher im Vergleich zum Medianlohn, nämlich über 60 Prozent, liegen die Mindestlöhne unter anderem in Frankreich, Slowenien, Neuseeland oder der Türkei. Deutlich niedriger sind sie unter anderem in Japan, den USA oder Tschechien. Setzt man die Lohnuntergrenze ins Verhältnis zu den nationalen Lebenshaltungshaltungskosten, profitieren deutsche Mindestlohnbezieher vom relativ günstigen Preisniveau in der Bundesrepublik: Ihre Kaufkraft ist etwas höher als die von Beschäftigten, die in den Niederlanden, Belgien oder Irland für den Mindestlohn arbeiten müssen.

Außerhalb der EU verfügen nach Daten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) rund 80 weitere Staaten über eine allgemeine Untergrenze für Löhne. Exemplarisch betrachtet das WSI die Mindestlöhne in zehn Ländern. Sie reichen von umgerechnet 1,15 Euro in Brasilien und 5,46 Euro in den USA über 7,21 Euro in Kanada bis zu 11,46 Euro in Australien.

Zunehmend Debatten über niedriges Mindestlohn-Niveau
Zwar ließen sich 2014 erstmals seit der Finanz- und Wirtschaftskrise zumindest bei den Mindestlöhnen in Europa „wieder Anzeichen für eine höhere Lohndynamik erkennen“, konstatiert WSI-Experte Schulten. „Insgesamt bleiben die Mindestlöhne in den meisten Fällen jedoch nach wie vor auf einem äußerst bescheidenen Niveau.“ Das werde in mehreren Ländern zunehmend kritisch diskutiert, berichtet der Forscher. In den USA hat sich die Obama-Regierung für eine Erhöhung des nationalen Mindestlohns um fast 40 Prozent ausgesprochen, was von der republikanischen Mehrheit im Kongress jedoch abgelehnt wird. Gleichzeitig haben die Mehrheit der US-Bundesstaaten und etliche Kommunen eigene, höhere, Lohnuntergrenzen festgelegt. Die Stadt Seattle beschloss sogar, den Mindestlohn lokal innerhalb von drei Jahren auf 15 Dollar (11,29 Euro) zu erhöhen. In Großbritannien will die oppositionelle Labour Party im Falle eines Wahlsiegs den National Minimum Wage bis 2020 von nach aktuellem Kurs umgerechnet 8,06 auf 9,92 Euro erhöhen. In London hat die Stadtregierung im November 2014 beschlossen, im öffentlichen Dienst und bei Auftragsvergaben mindestens umgerechnet 11,35 Euro zu bezahlen.

Zudem hätten im Umfeld der Europawahlen 2014 auch die Diskussionen über eine koordinierte Europäische Mindestlohnpolitik wieder an Intensität gewonnen, beobachtet Schulten. Dabei gehe es im Wesentlichen darum, sich auf europäischer Ebene auf einen gemeinsamen Mindestlohnstandard zu verständigen. Vorgeschlagen werde beispielsweise, dass der Mindestlohn in allen EU-Staaten 55 oder 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns nicht unterschreiten dürfe. Der Forscher hält eine europaweit koordinierte Mindestlohnpolitik aus mehreren Gründen für sinnvoll. Zum einen könne sie „einen wichtigen Beitrag dafür leisten, dass die heute noch vielfach auf Armutsniveau befindlichen Mindestlöhne auf ein Niveau angehoben werden, das internationalen Standards für „faire“ und „angemessene“ Löhne – wie sie etwa durch die Europäische Sozialcharta des Europarates vorgegeben werden – entspricht“, schreibt Schulten. Zum anderen könnte sie ökonomisch helfen, die Lohnentwicklung in Europa insgesamt zu stabilisieren und damit einen wichtigen Beitrag gegen die drohende Deflationskrise zu leisten.

Weitere Informationen:

Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2015 – Ende der Lohnzurückhaltung? In: WSI-Mitteilungen 2/2015.

Mehr Forschungsergebnisse zu Mindestlöhnen

Mindestlohndaten immer aktuell in der WSI-Mindestlohndatenbank
English version

Kontakt:

Dr. Thorsten Schulten
WSI-Tarifexperte

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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