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Magazin Mitbestimmung

Mobilarbeit: Dienstplanung per Smartphone

Ausgabe 12/2014

Mobile Anwendungen zur Personaleinsatzplanung fordern die Betriebsräte und ihre Mitbestimmung heraus. Sie müssen einen Weg finden zwischen den Bedürfnissen der Beschäftigten und dem Rationalisierungsdruck der Arbeitgeber. Von Jörn Boewe und Johannes Schulten

Es klingt wie ein Managertraum: digitale Kapazitätsplanung, orientiert am Bedarf des Kunden. Beim Ludwigsburger Automobilzulieferer BorgWarner ist dieser Traum Realität geworden. Hier bekommen die Beschäftigten in der Produktion seit März ihre Dienstpläne automatisch auf ihre Smartphones gesendet. Fällt kurzfristig eine Zusatzschicht an, identifiziert eine App automatisch die infrage kommenden Mitarbeiter. In Nullkommanichts haben diese eine Anfrage auf ihrem Smartphone und einigen sich per Gruppenabstimmung untereinander, wer die Schicht übernimmt. Soll- und Ist-Arbeitszeiten werden bei dem Programm genauso zugrunde gelegt wie die Qualifikation der Kollegen oder deren Urlaubstage. Diskussionen mit dem Betriebsrat etwa weil sich immer dieselben Mitarbeiter melden, deren Überstundenkonten längst im roten Bereich sind – sollen der Vergangenheit angehören.

DAS KAPAFLEXCY-PROJEKT

„Wo früher Teamleiter oder Schichtführer die Schichtplanung organisierten, unterstützt jetzt ein Algorithmus“, sagt Stefan Gerlach. Das sei nicht nur weniger aufwendig. „Indem die Mitarbeiter eigenverantwortlich entscheiden, erhöhen sie die Flexibilität des Unternehmens.“ Gerlach muss es wissen: Er ist Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart. Unter dem Motto „Smartphone statt Stechuhr“ koordiniert er das sogenannte „KapaflexCy“-Projekt, an dem neben BorgWarner, dem Sicherheitstechniker Kaba auch der Flughafen Stuttgart und andere beteiligt sind. Das Ziel: ein digitaler Mechanismus, der den Personaleinsatz blitzschnell an Marktschwankungen und Auftragslage anpasst. 

Doch hält die Rhetorik von mehr Eigenverantwortung und Beteiligung? Was passiert, wenn in der Gruppe niemand die Schicht übernehmen möchte? Oder wenn zu viele arbeiten wollen? Und: Wer kontrolliert überhaupt, dass die Gruppen nach Qualifikation und nicht etwa nach Kostenkriterien zusammengestellt werden? Solche Fragen stellt sich Frank Iwer, der die IG Metall im von der Bundesregierung initiierten „Arbeitskreis Industrie 4.0“ vertritt. „Instrumente wie „KapaflexCy“ erhöhen den Rechtfertigungsdruck für die Kollegen, wenn sie mal Nein sagen“, sagt der Gewerkschaftssekretär. Durch vermeintlich einfache technische Lösungen bekämen konfliktive Themen wie Arbeitszeiten oder Schichtarbeit eine „Scheinobjektivität“: Einen Teamleiter kann man in seinem Büro aufsuchen, wenn einem die Schicht nicht passt, man kann mit ihm diskutieren, ihm widersprechen. Bei einem digitalen Schichtplan geht das nicht. Trotz der Ansagen von mehr Eigenverantwortlichkeit glaubt Iwer: „Den Unternehmen geht es natürlich vor allem darum, den Personaleinsatz zu rationalisieren.“ Das laufe dann auf ein System „Arbeit auf Abruf“ hinaus.

Die ist in manch anderen Branchen längst Realität. Im klein- und mittelständisch geprägten Hotel- und Gaststättengewerbe ist es verbreitet, dass Mitarbeiter per SMS oder den Instant-Messaging-Dienst WhatsApp informiert werden, wann sie zum Dienst kommen müssen. In diesen Bereichen ist jedes zweite Arbeitsverhältnis ein Minijob, sagt Guido Zeitler von der Gewerkschaft NGG. „Die Arbeitgeber sehen die Beschäftigten als Aushilfen und behandeln sie auch so.“ Zwar sei es auch früher schon verbreitete Praxis gewesen, Beschäftigte kurzfristig telefonisch an die Arbeit zu ordern. Doch mit der Verbreitung von Handys und Smartphones sei der Zwang, ständig erreichbar zu sein, viel größer geworden.

Die Produktion vernetzt sich. Maschinen werden digital miteinander verbunden, um automatisch auf Sonderwünsche aus dem Internet zu reagieren. Industrie 4.0, Cloud-Working oder Internet der Dinge – die Begriffe, die den Wandel beschreiben, sind unbestimmt und schnelllebig. Es geht letztlich nicht um Datenschnittstellen zwischen technischen Geräten: Die Digitalisierung der Arbeitswelt zielt vor allem auf die Beschäftigten. Tablets, Smartphones, Netbooks erlauben es, Arbeit aus dem Büro praktisch überallhin mitzunehmen – oder zu schicken. Mit den Möglichkeiten mobiler Datennetze wachsen aber auch Erwartungshaltungen, Risiken und Ungewissheiten. Der Achtstundentag mit Schichtbeginn und -ende, mit klar definierter Grenze zwischen Arbeit und Freizeit, Arbeitsplatz und Zuhause ist ein Auslaufmodell. Die Zeitregime der Arbeit lösen sich auf. Technisch ist heute jede und jeder jederzeit erreichbar – aber will, soll und muss man das wirklich sein? Antworten auf diese Fragen stehen nicht im Gerätehandbuch. Sie müssen ausgehandelt werden, individuell und kollektiv.

AMBIVALENTE MOBILARBEIT

Das weiß auch Ulrich Jager, Betriebsratsvorsitzender am Forschungsstandort der Robert Bosch GmbH im schwäbischen Schwieberdingen: Auf der einen Seite gibt es bei uns den „deutlichen Wunsch“ der Beschäftigten nach mehr Flexibilität, sagt Jager. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen des Forschungs- und Entwicklungsstandorts haben lange Arbeitswege. „Für die ist ein Tag Homeoffice ein enormer Gewinn an Lebensqualität.“ Auf der anderen Seite müssten Betriebsräte aufpassen, dass der Arbeitgeber nicht mehr Arbeitszeit aus den Kollegen „herausquetscht“. 

Für die Betriebsräte ist es nicht immer einfach, eine Balance zu finden. Bei Bosch und anderen Unternehmen wurden deshalb in den letzten Jahren Konzern- oder Betriebsvereinbarungen zu mobiler Arbeit verabschiedet. Um Missbrauch und gesundheitsschädliche Entwicklungen zu vermeiden, haben sich die Vorgesetzten und Mitarbeiter bei Bosch verpflichtet, die gesetzlichen und tariflichen Arbeits- und Ruhezeiten einzuhalten. Die Zeiterfassung für die Arbeit außerhalb des Büros liegt bei den Beschäftigten und erfolgt selbstständig. In eine ähnliche Richtung geht man bei BMW. Hier gibt es sogar ein Recht auf Nichterreichbarkeit. Der Betriebsrat ist aktiv geworden, weil immer mehr mobile Endgeräte genutzt werden, die Mitarbeiter immer länger erreichbar sind und sich gesundheitliche Probleme in der Belegschaft gehäuft hatten. Nun werden alle Arbeiten, die außerhalb der BMW-Betriebe gemacht werden, als mobile Arbeit gezählt – sowohl online als auch offline. Erfassen dürfen die Kollegen selber.

Die Einstellung und damit die Mobilitätskompetenz ist letztlich das Entscheidende, meint Gerlinde Vogl, die für die Hans-Böckler-Stiftung erforscht, wie unterschiedlich Beschäftigte die beruflichen Mobilitätsanforderungen bewältigen. „Das Verständnis, dass die Arbeit zu Hause oder im Zug auch Arbeit ist, ist heute vielfach verloren gegangen“, sagt die Sozialwissenschaftlerin. „Indem mobile Arbeit als Arbeitszeit definiert und erfasst wird, haben die BMW-Betriebsräte dieses Bewusstsein wieder offengelegt.“

Damit die mobile Arbeit nach Feierabend nicht ausufert, setzt man beim Essener Spezialchemieunternehmen Evonik auf eine „E-Mail-Bremse“. Seit 2013 heißt es dort: Mails nach Feierabend nur im Notfall. „Jeder Mitarbeiter muss wissen: Wir erwarten nicht, dass Mails außerhalb der Arbeitszeit beantwortet werden“, sagt der Projektverantwortliche Frank Lelke. Über eine Software wird das Mail-Aufkommen der 17 000 mobilen Endgeräte anonymisiert ausgewertet. Seit Projektstart vor etwa einem Jahr habe man die Datenflut an Wochenenden auf diese Weise um die Hälfte reduzieren können, in der Woche weniger stark, aber ebenfalls deutlich. Individuelle Verhaltenskontrollen müsse dabei niemand befürchten, betont Lelke: Die kleinsten Ebenen, die ausgewertet werde, seien die sechs Geschäftsbereiche, die jeweils mehrere Tausend Mitarbeiter umfassen. Auch Betriebsrat und IG BCE beurteilen die Regelung als konkreten Fortschritt für die Beschäftigten. Was die Evonik-Regelung von vielen anderen unterscheidet: Die Manager von Evonik gehen mit gutem Beispiel voran. Die Leitlinien gelten für alle Mitarbeiter – bis hin zum Vorstandschef. 

HÖHERES ARBEITSPENSUM

Doch ein bewusster Umgang und eine Mitbestimmungskultur wie bei Bosch, BMW oder Evonik sind längst nicht die Regel. „Mobile Arbeit dient häufig nur dazu, ein höheres Arbeitspensum aus den Kollegen herauszupressen“, sagt Jutta Sonnemann, Mitglied im Gesamtpersonalrat für das Land und die Stadtgemeinde Bremen. Im bremischen öffentlichen Dienst herrscht Personalnot: 30 Prozent der Vollzeitbeschäftigten wurden in den vergangenen 20 Jahren abgebaut. „Um ihre Arbeit so zu erledigen, wie es ihren Anforderungen entspricht, setzen sich viele Kolleginnen und Kollegen immer öfter in ihrer Freizeit zu Hause an den Computer.“ Am Sonntagnachmittag die Mails für den Montag checken, nachts noch ein Protokoll für die Sitzung am nächsten Morgen lesen – ohne diese Mehrarbeit ist die Arbeit kaum noch zu bewältigen. Den Arbeitgeber freut es, den Kolleginnen und Kollegen fehlt es an wichtiger Erholungszeit. Allein durch eine Dienstvereinbarung zur mobilen Arbeit wird das Problem nicht zu lösen sein, ist sich Sonnemann sicher: „Das funktioniert nur mit mehr Personal.“

In der Praxis erweist sich die Gestaltung der „Digitalisierung der Arbeitswelt“ als ziemlich komplex. Fest steht, dass dieses Großprojekt weder mit technischen Lösungen noch mit der allgemeinen Forderung nach „mehr Mitbestimmung“ erledigt ist. Denn die Motive, warum Beschäftigte mehr Flexibilität bei ihrer Arbeitsgestaltung wünschen, sind verschieden. Das kann die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sein, Arbeitsdruck oder dass Beschäftigte lieber von zu Hause arbeiten wollen, weil sie sich im Großraumbüro permanent gestört fühlen, betont Manfred Scherbaum vom IG-Metall-Funktionsbereich Arbeitszeitgestaltung und Qualifizierungspolitik. 

Dabei geraten die individuellen Bedürfnisse und Entscheidungen der Kollegen oft auch in Konflikt mit arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen und den daraus folgenden Regelungen. Etwa wenn es um Arbeiten am Abend und die Einhaltung der Elf-Stunden-Frist bis zum Arbeitsbeginn am folgenden Tag geht. Für IG-Metaller Scherbaum haben Betriebsräte nur eine Chance, ihrer Schutz- und Gestaltungsfunktion gerecht zu werden, wenn sie über den Sinn von Schutzregelungen aufklären und klarmachen, dass sie schützen und nicht bevormunden wollen. Und: Der Gesetzgeber muss auch aktiv werden. „Damit Regelungen beispielsweise für die Erreichbarkeitsfrage verpflichtend werden, brauchen wir dringend eine Anti-Stress-Verordnung.“

Welche Erfahrungen mit dem „KapaflexCy“-Projekt bei BorgWarner gemacht werden, kann Betriebsratsmitglied Muhsin Acar noch nicht abschließend beurteilen. „Es ist ein Pilotprojekt, die Teilnahme ist freiwillig“, betont er. Der Betriebsrat war in die Entwicklung einbezogen. „Unsere Kritikpunkte wurden aufgenommen“, sagt Acar etwas lapidar. In der Betriebsvereinbarung zum Pilotprojekt wurden als Mindeststandards festgelegt, dass „kein Zugriff auf personenbezogenene Daten“ erfolgt, auch „Leistungs- und/oder Verhaltenskontrollen“ sind ausgeschlossen. Die bestehenden Vereinbarungen zu Wochenarbeitszeit, Pausen- und Gleitzeitregelungen werden nicht angetastet. 

Langfristig wird „KapaflexCy“ hier jedoch eine erodierende Wirkung haben, und das ist auch so gewollt: Man hoffe, dass die App neue Diskussionen um betriebliche Arbeitszeitflexibilisierung anstoße, sagt Fraunhofer-Mann Gerlach. Fürs Erste wird die Regelung aus dem Pilotbetrieb BorgWarner den Projektpartnern als Musterbetriebsvereinbarung zur Verfügung gestellt.

DER ALGORITHMUS FÜHRT REGIE

Viktor Steinberger von der DGB-Technologieberatungsstelle in NRW hat an einem der Workshops teilgenommen, bei dem die App mit den Projektbeteiligten diskutiert wird. Es sei schlicht unmöglich, diese Technik einzusetzen, ohne dass der Bezug zu einer beteiligten Person hergestellt werden kann, sagt der erfahrene Betriebsratsberater. Und wer definiert überhaupt, nach welchen Kriterien die Schichtzuteilung organisiert wird? Es wäre doch möglich, die Teams anhand der Entgeltstufen zusammenzustellen. Der Algorithmus könnte zunächst immer diejenigen anfragen, die auf der Entgeltskala möglichst weit unten stehen. Das könnten zum Beispiel Leiharbeiter sein, die keine Schichtzulagen bekommen, meint Steinberger. 

Und das ist erst der Anfang: Heute geht es um die Personaleinsatzplanung, morgen werden Aufträge in andere Abteilungen gegeben, übermorgen prüft ein Computerprogramm, ob die Aufgabe durch den Einsatz von Werkvertragsnehmern kostengünstiger erledigt werden kann. Bisher sind für solche Überlegungen Menschen zuständig. Und die gehen nach vielfältigen, gewiss nicht ausschließlich rationalen Kriterien vor. Die Entscheidungen, die sie treffen, sind letztendlich aber immer noch menschliche Entscheidungen, die von Menschen kritisiert, infrage gestellt und korrigiert werden können. „Wenn das ein Algorithmus macht“, ist sich Steinberger sicher, „führt das zu einem Kosmos neuer Aufgaben.“

MEHR INFORMATIONEN

 Böckler-Projekt „Betriebsbezogene Mobilität – Katalysator sozialer Ungleichheit?“ sowie eine Studie zum Dowload finden Sie unter: 

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