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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Wie eine selbstgewählte Ersatzfamilie"

Ausgabe 12/2014

Markus Hertwig vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen über selbst gebastelte Arbeitnehmervertretungen ohne verbriefte Mitbestimmungsrechte. Die Fragen stellte Gunnar Hinck

In Firmen mit einer Start-up-Kultur äußern Geschäftsführung und Angestellte oft die gleiche Meinung zu Betriebsräten: „Das brauchen wir nicht, das ist überflüssig.“ Woran liegt das? 

Die Beschäftigten merken, wenn die Geschäftsführung wenig von Betriebsräten hält. Das wird entweder auf unterschwellige Weise oder ganz direkt signalisiert. Und die neu Eingestellten passen sich diesen Normen an. Hinzu kommt, dass sich junge, gut qualifizierte Angestellte in der Start-up-Branche in hohem Maße mit der Geschäftsführung identifizieren. Diejenigen, die einen Betriebsrat wollen, werden von der Geschäftsführung oft als kommunikativ inkompetent oder Unruhestifter dargestellt, weil sie ihre Anliegen nicht selbst in die Hand nehmen oder die vermeintliche Harmonie im Betrieb stören.

Beschäftigte wie Geschäftsführung bemühen häufig das Bild von der „Familie“ – wie bei einem kleinen oder patriarchalisch geführten Unternehmen: Wir regeln Probleme unter uns, wir brauchen kein dazwischengeschaltetes Gremium. Warum stellen sich ausgerechnet Start-ups als „Familie“ dar? 

Eine Start-up-Firma ist für junge Beschäftigte wie eine selbst gewählte Familie, eine Ersatzfamilie. Dazu trägt bei, dass ihnen die Geschäftsführung das Gefühl vermittelt, dass sie sich um sie kümmert – zum Beispiel mit Annehmlichkeiten wie freien Getränken und gemeinsamen Partys.

Bei Zalando hat sich ein alternatives Vertretungsorgan gebildet, die ZEP. Kann das ein Ersatz sein für einen Betriebsrat? 

Nein, diese anderen Vertretungsorgane (AVOs) besitzen keine verbrieften Rechte und sind damit schwächer als Betriebsräte. Allerdings können sie durchaus Einfluss nehmen, wenn das Verhältnis zur Geschäftsführung gut ist oder sie über einen starken Rückhalt in der Belegschaft verfügen. Das ist so ähnlich wie bei Betriebsräten: Dort hängt der Einfluss auf Unternehmensentscheidungen auch vom persönlichen Verhältnis ab und nicht nur von den formalen Rechten.

Besteht die Gefahr, dass die AVOs Betriebsratsgründungen bei Start-up-Unternehmen den Boden entziehen?

Ja, die Gefahr besteht. Die Geschäftsführung würde in diesen Fällen sagen: „Wir haben doch unser Modell; warum wollt ihr noch etwas anderes, das gar nicht zu uns passt?“ Es könnte aber auch zu einer Emanzipation etwa der ZEP-Mitglieder bei Zalando kommen, wenn sie merken, dass sie bei Fragen wie Arbeitszeitregelungen nicht weiterkommen und zu dem Schluss kommen, dass sie einen Betriebsrat brauchen. Oder aber die Betriebsratsidee bleibt der Belegschaft kulturell fremd.

MEHR INFORMATIONEN

Markus Hertwig: Die Praxis ‚anderer Vertretungsorgane’. Formen, Funktionen und Wirksamkeit. Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 122. Berlin, Edition sigma 2011. Zu beziehen bei ralf-guthoff@boeckler.de

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