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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Italien braucht eine Industriepolitik"

Ausgabe 12/2014

Maurizio Landini, Chef der italienischen Metallgewerkschaft FIOM-CGIL, über seine Alternative zur Deregulierungspolitik der Regierung Renzi. Die Fragen stellte Michaela Namuth

Seit Monaten protestiert Ihre Gewerkschaft gegen die von der Regierung Renzi geplante Arbeitsmarktreform. Aber gerade dafür hat der Regierungschef bei seinen europäischen Kollegen Lob eingeheimst. Jetzt drohen Sie mit einem Generalstreik am 12. Dezember. Warum?

Wir kritisieren ein soziales und wirtschaftliches Modell, das der Entwicklung des Landes keine Zukunft bietet. Renzi und seine Regierung setzen – wie auch seine Vorgänger – auf ein altes, neoliberales Konzept, das davon ausgeht, dass die Beschäftigung steigt, wenn der Schutz der Arbeitnehmer sinkt. Die Regierung räumt den Unternehmen systematisch Hindernisse aus dem Weg, die dem sozialen Schutz der Arbeitnehmer gelten.

Ein wichtiger Streitpunkt zwischen Gewerkschaften und wechselnden Regierungen ist seit Jahren der Kündigungsschutz. Nun will auch Renzi den Artikel 18 des Arbeitnehmerstatutes streichen. Warum heizt sich das Klima immer auf, wenn es um dieses Gesetz geht?

Weil dieses Gesetz verhindert, dass die Unternehmer individuell kündigen können. Bei einer unbegründeten Kündigung müssen Unternehmer mit mehr als 15 Beschäftigten den Arbeitnehmer wieder einstellen. Wird der Artikel 18 abgeschafft, müssen sie dafür nur eine geringe Strafe bezahlen. Das wäre ein Rückschritt in die 50er Jahre. Zudem garantiert dieses Gesetz auch die Freiheit der Arbeitnehmer, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

In dieser Debatte bekommen Sie Schützenhilfe von dem Soziologen Luciano Gallino, der vor der Gefahr warnt, demokratische Strukturen unter dem Diktat von Wirtschaftsinteressen abzubauen.

Ja, und auch von vielen anderen, die erkennen, dass es nicht nur um gewerkschaftliche, sondern auch um demokratische Rechte geht. Durch das Arbeitnehmerstatut war die italienische Verfassung nach vielen Kämpfen endlich auch in den Betrieben angekommen. Die Unternehmen mussten eine soziale Verpflichtung gegenüber ihren Beschäftigten übernehmen. Das soll jetzt wieder aufgehoben werden.

Es bleibt das Argument, dass die Liberalisierung des Kündigungsschutzes mehr Beschäftigung schaffen soll. Immerhin liegt die Arbeitslosenquote in Italien bei knapp 13 und die der Jugendlichen bei über 44 Prozent.

Dieses Argument entbehrt in der Realität dieses Landes jeglicher Basis. Das Problem der Unternehmen in Italien ist nicht, dass sie nicht kündigen können, sondern dass sie keine Aufträge haben. Seit 2006 haben 50 000 Unternehmen dichtgemacht. Deshalb sind die wichtigen Themen: Wo kommen neue Investitionen für bessere Produkte her? Wie können die Arbeitnehmer dafür qualifiziert werden? Die Regierung glaubt, man könne ein wenig Unternehmenssteuern senken, und damit seien die Probleme gelöst. Das ist pure Illusion. Die Probleme sind in Italien struktureller Natur und bedürfen einer staatlichen Industriepolitik. Die gibt es nicht. Die Unternehmen investieren nicht in Forschung und Innovationen. Korruption und Steuerhinterziehung gehören zu den höchsten in Europa. Die Mafia ist reich und mächtig. Deshalb hinkt unsere Wirtschaft hinterher.

Was sollte die Regierung tun?

Sie sollte Gesetze erlassen, die Unternehmen prämieren, die in ihre Betriebe und in innovative Produkte investieren, und nicht jenen das Leben erleichtern, die einfach nur kündigen wollen, oft um billigere Arbeitskräfte einzustellen. 

Renzi lehnt Treffen oder gar Vereinbarungen mit den Gewerkschaften kategorisch ab. Unterstützen Sie deshalb Kooperationsabkommen auf Konzernebene, wie es jüngst zwischen der FIOM Emilia-Romagna und der IG Metall Wolfsburg vereinbart wurde? Damit soll eine gemeinsame Strategie in den Töchterfirmen der zum VW-Konzern gehörenden Audi-Gruppe, Lamborghini und Ducati, gefördert werden.

Das ist ein guter Ansatz, um eine gemeinsame europäische Strategie zu entwickeln. Wichtig ist, dass von Anfang an auch die Zulieferer einbezogen wurden. Die Basis ist die Charta der Arbeitsbeziehungen des VW-Konzerns, die einzigartig ist. Als Gewerkschaften müssen wir uns aber sofort die Frage stellen, wo und wie wir diese Praxis ausweiten können. Wir können den Arbeitnehmern nicht sagen, dass sie bestimmte Rechte haben, weil sie zu einem Konzern gehören und nicht weil ihnen diese gesetzlich zustehen. Das würde eine Privatisierung der industriellen Beziehungen bedeuten, wie sie die italienische und andere europäische Regierungen nach Vorbild der USA ja auch anstreben.

Das deutsche Gewerkschaftsmodell ist stärker betrieblich orientiert als das italienische. Sehen Sie darin ein Problem für gemeinsame Strategien?

Gerade Initiativen wie das Abkommen zwischen IG Metall Wolfsburg und FIOM Emilia-Romagna geben uns die Möglichkeit, unterschiedliche Modelle zu vergleichen, inner- und außerhalb der Unternehmen. Sie sind eine Chance, gemeinsam Probleme anzugehen, vor die wir alle gestellt sind. Dazu gehört zuvörderst, dass die Mehrheit der Beschäftigten in Europa nicht gewerkschaftlich organisiert ist. Dies ist auch eine Folge der totalen Fragmentierung der Arbeitswelt. Es gibt Millionen von Menschen, die arbeiten und kaum geschützt sind. Allerdings bewegt sich die IG Metall – anders als wir – in einem Land, wo Industriepolitik betrieben wird.

Wie meinen Sie das?

Der italienische Staat trifft keine Entscheidungen, in strategische Sektoren wie umweltfreundliche Transportmittel oder erneuerbare Energien zu investieren. In der Stahlindustrie hat diese Konzeptionslosigkeit verheerende Folgen: für die Arbeitsplätze und auch für die Umwelt. Es geht nur darum, dass jedes Unternehmen machen kann, was es will. Der Fall Fiat ist dafür emblematisch. Italien ist heute ein Industriestaat ohne Autoindustrie. Der Konzern, jetzt mit Sitz in Amsterdam, produziert hier weniger als 400 000 Autos, die Hälfte der Beschäftigten ist in Kurzarbeit, und die Investitionen fließen in die USA oder nach Brasilien. In Deutschland hingegen werden im Jahr sechs Millionen Autos gefertigt, und die Unternehmen investieren in Elektro- und Hybridmotoren. In Italien macht sich niemand Gedanken über Mobilitätskonzepte. Wir sind ein Land, das immer noch hohe Qualität produzieren kann, weil es – auch in der Metallindustrie – spezialisierte Arbeitskräfte gibt. Doch wir riskieren, dieses Know-how und damit auch eine Zukunftsperspektive zu verlieren.

Die italienische Presse hat schon ein Gegenmodell zu Fiat gefunden: die VW-Audi-Tochter Lamborghini, wo deutsche Mitbestimmung auf italienische Autospezialisten trifft. Sehen Sie das auch so?

Auf jeden Fall. Es ist ein ganz anderes Modell, zu produzieren und die Qualität des Produkts und der Arbeit zu bewerten, auch ein anderes Modell, industrielle Beziehungen zu gestalten. Es existiert ein faires System der Konfrontation und der Kooperation. Genau das fordern wir auch von unserer Regierung.

ZUR PERSON

MAURIZIO LANDINI, 53, steht seit 2010 an der Spitze der italienischen FIOM, der Metallorganisation der Gewerkschaft CGIL. Er hat mit 15 eine Schweißerlehre begonnen und ist seit Mitte der 80er Jahre hauptamtlicher Gewerkschafter. In seinen Reden wendet er sich nicht an „Arbeitnehmer“, sondern an „Menschen, die arbeiten müssen, um zu leben“, und spricht damit auch prekär lebende, jüngere Leute an. Dies und seine klaren Positionen haben ihm auch außerhalb der Gewerkschaft Popularität eingebracht.

DEUTSCH_ITALIENISCHE VERNETZUNG Die IG Metall Wolfsburg und die FIOM-CGIL der Region Emilia-Romagna diskutierten in Bologna gemeinsame Strategien. „Wir wollen einen gemeinsamen Nenner finden und nicht in Konkurrenz gehen“, erklärt Hartwig Erb, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Wolfsburg. „Wir wollen eine gemeinsame Verhandlungspolitik entwickeln“, sagt Bruno Papignani, Vorsitzender der FIOM Emilia-Romagna. So lauten die Wünsche und Ziele der deutschen und italienischen Metaller, die sich am 14. und 15. Oktober in Bologna zu der Tagung „Die Internationalisierung der Wirtschaft als Herausforderung für die industriellen Beziehungen“ getroffen haben. Das Treffen fand im Rahmen des neuen Kooperationsabkommens der beiden Organisationen statt. Dieses gilt für die Gewerkschaften und Betriebsvertreter der italienischen Standorte der Audi-Firmengruppe, zu der in der Emilia-­Romagna Lamborghini und Ducati gehören. Ein Ziel ist es auch, die Zulieferer zu integrieren. Bei Fragen der Interessenvertretung auf internationaler Ebene bezieht das Abkommen die kleineren Metallgewerkschaften FIM und UILM mit ein. Vorgesehen ist ein kontinuierlicher Austausch, zu dem auch die gegenseitige Beobachtung von Tarifverhandlungen gehört (siehe Magazin Mitbestimmung 7+8/14). Koordinator des Projekts ist der Deutsche Volker Telljohann, Sozialforscher beim IRES-Institut Emilia-Romagna der CGIL. Das IRES gehörte wie die Friedrich-Ebert-und die Hans-Böckler-Stiftung zu den Organisatoren der Tagung. Die Kooperationspartner wurden von Michael­ Braun, FES Rom, und Stefan Lücking von der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung vertreten. Eines der zentralen Themen war das deutsche duale Ausbildungssystem, das derzeit bei Ducati und Lamborghini in dem Pilotprojekt DESI getestet wird.

Diskutiert wurde auch die geplante Arbeitsmarktreform in Italien. „Der Angriff auf den Artikel 18 des Arbeitnehmerstatutes ist ein Angriff auf die Beschäftigten in ganz Europa. Wird der Kündigungsschutz in einem Land abgebaut, ist dies ein gefährliches Signal. Was wir hingegen brauchen, um die Globalisierung zu gewinnen, sind gut ausgebildete Menschen mit einer stabilen Perspektive“, so das Fazit von IG-Metaller Hartwig Erb.

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