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Magazin Mitbestimmung

Stabsmitarbeiter: Im Hintergrund

Ausgabe 10/2014

Sie analysieren die Konzernstrategie, machen sich mit den neuesten Trends im Arbeitsschutz vertraut oder entwerfen Betriebsvereinbarungen. Doch ihre Gesichter kennt kaum einer. Dabei sind die Referenten der großen Betriebsräte oft ziemlich innovativ. Zu Besuch in Wolfsburg und Essen. Von Andreas Kraft

Begriffe flirren über den Schirm: Big Data. Industrie 4.0. Connectivity. 270 Folien sind es jetzt, 30 sollen es werden. Markus Bieber seufzt. Die Zukunftsfragen der Automobilindustrie sind ziemlich komplex. Der Stabsmitarbeiter muss sie in den kommenden Tagen auf den Punkt bringen, damit die gut 250 deutschen Betriebsräte des VW-Konzerns und die Arbeitnehmervertreter im Ausland auch die richtigen Fragen stellen können. Schließlich geht es um die Zukunft von rund 600 000 Arbeitsplätzen.

Doch das Ehrenamt eines Betriebsrates in einem Weltkonzern gleicht dem Alltag eine Berufspolitikers: Die Interessenvertreter hetzen von Termin zu Termin, reden mit Beschäftigten, tauschen sich in zahllosen Sitzungen mit anderen Betriebsräten aus. Zeit, sich 270 Folien anzuschauen, findet keiner von ihnen. Dafür haben sie Markus Bieber. Wenn er mit der Präsentation fertig ist, werden die Arbeitnehmervertreter informiert: am Standort, im Gesamt- und im Konzernbetriebsrat, und außerhalb Deutschlands – bis hin zum Weltkonzernbetriebsrat.

Seit sieben Jahren arbeitet Bieber als Referent des VW-Gesamtbetriebsrates. Er ist in Wolfsburg aufgewachsen, machte erst eine Lehre zum Industriekaufmann bei dem Autobauer, ging dann zum Studieren nach Göttingen, kam zurück ins Werk und arbeitete im Personalwesen, bis er sich intern auf den Referentenposten bewarb. In der mitbestimmten VW-Kultur kann das eine Station unter vielen sein. „Ein Wechsel in andere Bereiche und Aufgaben ist so normal wie bei jedem anderen auch“, sagt der 40-Jährige. 

GRENZEN ÜBERBRÜCKEN

Wenn die 90 Eurobetriebsräte von ThyssenKrupp in der Konzernzentrale in Essen zu ihren Sitzungen zusammenkommen, wird in neun Sprachen simultan übersetzt. Dann liegen die Beschlussvorlagen und Tagesordnungen bereits in 13 Sprachen übersetzt vor. Dafür gesorgt hat Sophia Hartmann. die Stabsmitarbeiterin des Europäischen Betriebsrats (EBR). Und wenn sie mit Wolfgang Krause, dem EBR-Vorsitzenden, Kollegen in Spanien, Portugal oder Italien besucht, ist immer ein Dolmetscher dabei. 

Neben den Sprachbarrieren gibt es aber auch noch die kulturellen Unterschiede. Und die Kultur der Mitbestimmung kann von Land zu Land ziemlich unterschiedlich sein. In Südeuropa etwa sind die Gewerkschaften deutlich ideologischer und konfrontativer als im auf Kooperation angelegten deutschen System. „Da hilft nur reden, reden, reden“, weiß Sozialwissenschaftlerin Hartmann, die zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin im Europäischen Parlament war. „Aber etwa den Franzosen klarzumachen, dass hier selbstverständlich ein Gewerkschafter als Arbeitsdirektor plötzlich zum Vorstandsmitglied werden kann, war nicht ganz einfach.“ Doch inzwischen sei den Kollegen klar geworden, dass sie durch den guten Kontakt zwischen Eurobetriebsrat und Arbeitsdirektor Oliver Burkhard auch einen ganz anderen Draht zur Konzernleitung haben. Auch bei einer Werksschließung in Spanien hat sich der Eurobetriebsrat eingemischt – als Mediator. Die Fronten waren verhärtet. Der EBR hat anfangs das Reden übernommen. „Am Ende stand ein Sozialplan, der sich sehen lassen kann“, sagt Hartmann.

Unter seinem Motto „Jeder Arbeitsplatz hat ein Gesicht“ hat der EBR dabei auch Druck auf die Konzernleitung aufgebaut. So hängten europaweit Thyssen-Beschäftigte das Plakat „Gegen die Schließung von TK Gildema“ in ihren Betrieben auf und ließen sich davor fotografieren. Dem Management wollte der EBR so klarmachen: Die Beschäftigten halten europaweit zusammen, ihr müsst euch bewegen. Heute arbeiten beispielsweise 50 Angestellte aus dem spanischen Stahlwerk in Duisburg. Ihre Familien haben sie mitgebracht, ihre Kinder bekamen Ausbildungsplätze im Konzern. Die Härten der enormen Umstrukturierungen bei ThyssenKrupp in den vergangenen zwei Jahren konnten so wenigstens ein bisschen abgefedert werden. Und Sophia Hartmann hat die Kollegen in ganz Europa mit Telefonaten, E-Mails und Newslettern dabei ständig mit den nötigen Infos aus Deutschland versorgt.

EINE STRATEGIE GEGEN DIE STRATEGIE

Auch in Wolfsburg stehen die Arbeitsplätze im Mittelpunkt der Strategie des Betriebsrates. Als Martin Winterkorn dort 2007 als neuer Vorstandsvorsitzender das gebeutelte Unternehmen übernahm, formulierte er Ziele für den VW-Konzern. Etwa sollte VW „wachsen, ohne zu wachsen“. Der Betriebsrat, damals, nach der VW-Affäre, selbst in einer Krise, wollte dem etwas entgegensetzen und begann, eine eigene Vision für das Unternehmen zu entwerfen. Martin Bieber, der damals gerade als Stabsmitarbeiter angefangen hatte, feilte dabei daran, wie eine eigene beteiligungsorientierte Strategie des Betriebsrats mit langfristigen Zielen und Maßnahmen erarbeitet werden könnte.

Am Ende eines langen Diskussionsprozesses in der Belegschaft erschien eine Broschüre, in der der Betriebsrat darstellte, was er bis 2020 erreichen will. Der zentrale Punkt: Nicht allein die Wirtschaftlichkeit soll Ziel des Unternehmens sein, sondern auch der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen. „Im Vorstand hat das richtige Diskussionen ausgelöst“, erinnert sich Bieber. „Aber heute spricht auch Martin Winterkorn gern darüber, wie viele Arbeitsplätze in den vergangenen Jahren im Konzern entstanden sind.“ Aus dem Unternehmensziel „Wachsen, ohne zu wachsen“ ist ein „Wachsen, um zu wachsen“ geworden.

Sich mit den großen Fragen zu beschäftigten und eine Vision für die Betriebsratsarbeit zu formulieren, helfe auch dabei, von den Entwicklungen nicht überrollt zu werden. Es gehe darum, die Initiative zu behalten. „Wenn man dem Unternehmen konkret Vorschläge macht, kommt man viel weiter, als wenn man nur zustimmen oder ablehnen kann“, sagt Bieber. „Und es trägt auch dazu bei, dass wir als Gesprächspartner ernst genommen und sogar geschätzt werden. Auch wenn es natürlich mal Konflikte gibt.“ Es ist wie in der Politik: Wer Gesetze einbringen kann, kann deutlich mehr mitbestimmen. Auch wenn nicht jeder Vorschlag angenommen wird.

Kürzlich hat das Management nun sein Zukunftsprogramm „Future Tracks“ vorgestellt. Und Martin Bieber analysiert jetzt die Strategie für den Betriebsrat – am Ende soll alles auf 30 Folien auf den Punkt gebracht sein. Damit die Mandatsträger wissen, was auf sie zukommt, und in der Lage sind, zu agieren und nicht nur zu reagieren.

GUTE ARBEIT IM BÜRO

Im Nachbarbüro von Martin Bieber sitzt Christoph Harland-Juhl. Auch er ist einer der rund 20 Referenten des VW-Betriebsrates, die wie andere VW-Beschäftigte Angestellte des Konzerns sind. Der 37-Jährige kümmert sich derzeit um das Projekt „Gute Arbeit im Büro“ für den Betriebsrat am Standort Wolfsburg. Gut die Hälfte der Beschäftigten dort arbeitet inzwischen am Schreibtisch. „Bei den Kolleginnen und Kollegen, die in den Büros arbeiten, sind wir genauso dicht dran wie in den Werkshallen“ sagt der Stabsarbeiter. „Allerdings sind die Tätigkeiten am Band wissenschaftlich deutlich besser erforscht als die Arbeit in den Büros.“ Er ist gerade dabei, daran etwas zu ändern.

Den Anstoß dafür gab ein kleines, auf den ersten Blick unscheinbares Dokument. Als die Unternehmensführung beschloss, zahlreichen Beschäftigten ein Smartphone zu stellen, formulierten die Betriebsräte im Ausschuss für IT-Systeme schnell eine Regelung: Damit die Tarifbeschäftigten auch mit Blackberry und Co. noch einen richtigen Feierabend haben, können bei VW nach 18.15 Uhr keine Mails mehr von den Smartphones gesendet und empfangen werden. „Die Reaktion war auch außerhalb von Volkswagen überwältigend“, sagt Harland-Juhl. „Vom ‚Spiegel‘ über die großen Tageszeitungen bis hin zur internationalen Presse haben alle hier angerufen.“ So eine Medienresonanz habe man nur selten erlebt. „Wir hatten offensichtlich einen Nerv getroffen“, sagt der Stabsmitarbeiter. Schnell war klar: Da geht sicher noch mehr.

Harland-Juhl sichtete die wissenschaftliche Literatur sowie existierende Vereinbarungen zum Thema Büroarbeit. Doch um Ideen für die VW-Beschäftigten zu entwerfen, reichte ihm das nicht aus. Der Betriebsrat beschloss daher, die Experten zum Thema zu befragen, die Kollegen an den Schreibtischen. An der Umfrage im Oktober 2013 in Wolfsburg beteiligten sich mehr als 19 000 Beschäftigte. Ergebnis: Bei Ergonomie, Arbeitsklima oder Weiterbildung sind die Wolfsburger Büroarbeiter ziemlich zufrieden. Die Hälfte wünscht sich jedoch mehr Flexibilität, und ein Großteil klagt darüber, dass sie so oft von E-Mails, Anrufen oder Mach-doch-mal-schnell-Aufträgen gestört werden, dass sie gar nicht mehr zu ihrer eigentlichen Arbeit kommen. 

Der Betriebsrat entwickelt jetzt Ideen, was verbessert werden könnte. In den kommenden Monaten wird dann mit dem Management verhandelt. Am Ende wird es vermutlich eine weitere Betriebsvereinbarung geben. Ob sie ein ähnliches Medienecho hervorrufen wird? Den Beschäftigten dürfte das egal sein. Hauptsache, die Arbeit im Büro wird etwas besser.

AUF UMFRAGEN MÜSSEN VERÄNDERUNGEN FOLGEN

Bei ThyssenKrupp sind die Beschäftigten Ende September 2014 ebenfalls befragt worden: Alle rund 160 000 Beschäftigte des Konzerns weltweit konnten sich beteiligen – in 28 Sprachen. Bei der Formulierung der Fragen war auch der Eurobetriebsrat einbezogen. In den Meetings, in denen der Fragebogen ausgearbeitet wurde, war auch Sophia Hartmann, die EBR-Stabsmitarbeiterin, dabei.

Angestoßen hatte das Projekt allerdings das Management: Vorstandschef Heinrich Hiesinger will die Konzernkultur des Stahlriesen umkrempeln. Rund um das Stahlwerk in Brasilien, das ewig nicht fertig und letztlich viel teurer wurde als geplant, hatten die Medien in der Berichterstattung vor allem eine Fehlerquelle analysiert: Bei ThyssenKrupp habe sich jahrelang keiner getraut, wirklich seine Meinung zu sagen. Jetzt hängen in der Konzernzentrale überall Plakate mit Aufschriften wie „Wir müssen reden“, „Sag es, wie es ist“ oder „Butter bei die Fische“. Die Umfrage soll jetzt auch ein Signal an die Belegschaft senden: Meldet euch, wenn etwas schiefläuft.

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