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Magazin Mitbestimmung

Bildungsarbeit: Vom Gala-Dinner bis zu VWL

Ausgabe 10/2014

Die Anforderungen an Arbeitnehmervertreter nehmen zu. Das spiegelt sich auch im Seminarangebot der gewerkschaftlichen Bildungsstätten wider: Rollenspiele, Führungsfähigkeiten, politische Interessenvertretung – es gibt nichts, was es nicht gibt. Von Guntram Doelfs

Thomas Wilde sitzt am kleinen Karpfenteich und muss sich erst einmal eine Zigarette drehen. Es ist gerade Mittagspause in der lauschigen Bildungsstätte Kagel der IG BCE, mitten im Grünen, am östlichen Rand von Berlin gelegen. Für den 44-Jährigen ist für heute Schluss. Doch Wilde wird wiederkommen – wie seit drei Jahren schon. Seither büffelt der freigestellte Betriebsrat einer Reifenfirma im brandenburgischen Oranienburg bei der IG BCE für den Hochschulabschluss als „Manager in der Sozialökonomie“. „Wenn alles klappt, mache ich auch noch meinen Bachelor“, erzählt der gelernte Schlosser mit entschlossener Mimik. Das meint jede Menge Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Arbeitsrecht, Soziologie und Politikgeschichte – immer neben seinem laufenden Job. „Ich will halt persönlich weiterkommen“, sagt der langjährige Betriebsratsvorsitzende der Tochterfirma von Michelin. Ein Studienabschluss über die Gewerkschaft – auch das gehört zur modernen Bildungsarbeit dazu. 

Wildes Fortbildung ist ein Angebot der „Akademie für Führungskräfte“ der IG BCE, eines Programms, das sich seit 2011 speziell an Betriebsratsvorsitzende, freigestellte Betriebsräte sowie Mitglieder im Aufsichtsrat richtet. Das Angebot der Gewerkschaft ist breit gefächert – von stark erweiterten Praxishilfen für eine professionelle Betriebsratsarbeit über Entwicklungen des Arbeitsrechts bis hin zu speziellen Themenangeboten. So reisen für ein Seminar extra Experten von wissenschaftlichen Fachinstitutionen wie der Fraunhofer Gesellschaft oder dem Max-Planck-Institut an, um neueste technologische Entwicklungen in diversen Branchen vorzustellen, von der IT über die Optoelektronik bis hin zur Biotechnologie. Ziel dieses Seminars ist, mögliche technologische Veränderungen rechtzeitig zu erkennen, bevor die Konsequenzen die Firma möglicherweise in Bedrängnis bringen. „Unsere Seminarteilnehmer sollen den Blick über den Tellerrand lernen“, sagt Reinhard Aster, der bis Ende Juni die Bildungseinrichtung in Kagel leitete und jetzt seine Nachfolgerin Heidi Trunsch unterstützt. 

Die IG BCE arbeitet auch über die Universität Hamburg mit Unternehmensberatern und Wirtschaftsexperten zusammen, um Betriebsräten und Aufsichtsratsmitgliedern modernes Know-how der Arbeitgeberseite zu vermitteln. Dazu zählen das Veränderungs-, Prozess- und Personalmanagement ebenso wie ausgefeilte betriebswirtschaftliche Analysen zur Bilanzierung und theoretische Grundlagen der Volkswirtschaftslehre. Selbst Lernangebote für Umgangsformen und Habitus bietet die Industriegewerkschaft Bergbau Chemie, Energie an. Ein großer Hit ist das „Gala-Dinner“, wo Arbeitnehmervertreter im Rollenspiel Etikette und Selbstdarstellung des Managements nachzuvollziehen lernen. Auch das erfreut sich wachsender Nachfrage. 

„Immer mehr Betriebsratsvorsitzende müssen auch auf dem gesellschaftlichen Parkett sicher agieren und professionell auftreten können. So werden sie vom Management auf Augenhöhe wahrgenommen“, erzählt Reinhard Aster. Von den insgesamt rund 3000 Seminarteilnehmern in Kagel durchliefen laut Heidi Trunsch rund ein Drittel die Angebote der Führungsakademie. 

VER.DI – HALB BILDUNG, HALB BERATUNG

Bei der ver.di-Bildungstochter Bildung + Beratung gGmbH sind derzeit besonders jene Seminare gefragt, die Probleme eines zunehmenden Trends im Bereich der Tarifverträge in Dienstleistungsbranchen auffangen sollen. „Immer mehr Tarifverträge, besonders im öffentlichen Dienst, haben Öffnungsklauseln und regeln viele Dinge nicht mehr im Detail. Deren Klärung verlagert sich auf die betriebliche Ebene“, schildert Geschäftsführer Ralf Wilde. Die Folge sind deutlich gestiegene Anforderungen an die Betriebs- und Personalräte, „weil es auf einmal betriebliche Spezialisten braucht“. Eingruppierungsspezialisten hat es schon immer gegeben, nun sei aber auf einmal viel mehr gefragt. „Jemanden, der sich mit Leistungsrecht auskennt, hat man bisher in Betriebs- und Personalräten nicht gehabt. Wir wollen in den Gremien zwar keine absoluten Spezialisten schaffen, aber wir brauchen wenigsten die spezialisierten Generalisten, die das Thema einordnen können“, so der Pädagoge.

Immer häufiger nähern sich Seminare dabei auch der „Nahtstelle zwischen Bildung und Beratung“ an, wie Geschäftsführer Ralf Wilde schildert. Zum Beispiel beim Thema Leistungsentgelt, wo aufgrund hoher Nachfrage die Inhouse-Seminare des ver.di-Bildungsträgers deutlich zugenommen haben. „Dabei geht es schnell in die Beratung, weil man ja Eckpunkte einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung erarbeiten muss.“ Das Thema ist ein politisches Minenfeld in den Gewerkschaften, weil Leistungssysteme häufig als ungerecht betrachtet werden. Weil das Thema aber von Betriebsseite nachgefragt wird, Beratungsleistungen aber nicht gemeinnützig sind, hat ver.di mit der „Ratgeber GmbH“ deswegen eine eigene Beratungstochter gegründet. Für viele Spezialthemen in der Tarifpolitik zieht der ver.di-Bildungsträger inzwischen auch ausgewählte Juristen hinzu. „Wir brauchen ganz andere Netzwerke von hoch spezialisierten Referenten, die in der Regel auch Freiberufler sind“, so Wilde. So gebe es beim Thema Leistungsrecht im öffentlichen Dienst bundesweit eine überschaubare Zahl von zehn bis 15 Spezialisten, mit denen man zusammenarbeite. Die hohe Spezialisierung hat einen weiteren Vorteil: Die Kombination aus hoher Expertise mit geringen Teilnehmerzahlen führt dazu, dass der gewerkschaftliche Bildungsanbieter keine Konkurrenz freier Träger fürchten muss. „Bei den ganz normalen Einsteigerseminaren zu Betriebsverfassung oder Arbeitsrecht haben wir oft nicht so gute Karten, obwohl deren Seminare deutlich teurer sind. Diese finden dann aber auch in Vier-Sterne-Häusern oder in Nähe des Ostseestrandes statt“, räumt der Geschäftsführer ein.

Ein neues Feld sind auch erweiterte Kompetenzen in politischer Interessenvertretung. Warum? „Es ist wichtig, ganz früh in politischen Debatten und Gesetzgebungsverfahren tätig zu werden. Wenn wir im Vorfeld keinen Griff darauf kriegen, ist es später im Betrieb trotz formaler Beteiligungsrechte fast nicht mehr möglich, Dinge abzufedern“, sagt ver.di-b+b-Geschäftsführer Wilde. Also versucht sein Haus, mit gezielten Schulungen gegenzusteuern. Als Beispiel nennt er jene EU-Verordnung, die in das Personenbeförderungsgesetz mündete. Da informierte sein Haus Betriebsräte aus Nahverkehrsunternehmen gezielt zu Fragen des Vergaberechts, damit diese bei der Vergabe von Verkehrsleistungen durch Bürgermeister und Landkreise kompetent mitreden und Einfluss nehmen konnten.

Ein weiteres neues Thema ist die Demografie. ver.di bietet dazu inzwischen unter anderem spezifische Seminare an, wo Betriebsräte lernen, wie eine Demografie-Analyse er stellt wird, ein Demografie-Budget aussehen kann oder tarifliche Regelungen festgezurrt werden können. Insgesamt durchliefen 2013 rund 25 000 Teilnehmer die 2100 Seminare des ver.di-Bildungsträgers. 

ES BRAUCHT ZEIT, BIS EIN THEMA MASSENTHEMA WIRD

In den Bildungsstätten der IG Metall, die ebenfalls spezielle Angebote für Betriebsratsvorsitzende und Aufsichtsratsmitglieder anbieten, sind derzeit Seminare zu allen Aspekten von Produktionssystemen stark nachgefragt, mit denen Unternehmen etwa in der Autoindustrie ihre Produktionsprozesse effizienter gestalten, indem sie sie enger verzahnen. Das führt zu einer höheren Belastung der Beschäftigten, weswegen die Gewerkschaft viele Seminare zum Umgang mit Produktionssystemen anbietet. Dort werden dann Charakter und Struktur von solchen Systemen thematisiert und deren Instrumente „entmystifiziert“, so Stephan Vetter, Bildungsreferent in der IG-Metall-Bildungsstätte Sprockhövel. Zudem werden für Betriebsräte strategische Fragen im Umgang damit und Möglichkeiten der Einflussnahme angesprochen.

Im Zusammenhang mit den neuen Produktionsformen wird auch die Überlastung von Beschäftigten zunehmend ein Thema in den Bildungseinrichtungen der Gewerkschaft. „Leistungsdruck gab es früher auch schon, aber es gibt inzwischen keine zeitlichen Puffer mehr für die Arbeitnehmer. Manche Mitarbeiter arbeiten parallel an zwei Projekten und müssen vielleicht noch ein drittes starten. Ganzheitliche Produktionssysteme finden deshalb auch in der Verwaltung ihren Niederschlag“, sagt Vetter. Folgerichtig werden auch zunehmend die stark gestiegenen psychischen Belastungen am Arbeitsplatz in Seminaren thematisiert. Allerdings hält sich hier die Nachfrage durch Betriebsräte bislang in Grenzen. 

Warum? „Vielleicht liegt es daran, dass Betriebsräte nicht so recht überzeugt sind, dass man das überhaupt regulieren kann“, meint Vetter. Ein Mauerblümchendasein fristen bislang auch Seminarangebote, die Umbruchprozesse thematisieren – etwa die derzeit unter Akademikern beliebten Debatten um Industrie 4.0 oder über mobiles Arbeiten. Das dürfte sich bald ändern.

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