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Magazin Mitbestimmung

Produktionssysteme: Einfach schöner

Ausgabe 10/2014

Der Hausgerätehersteller Miele hat in Oelde jetzt seine Fließbänder verschrottet und produziert nun Herde und Backöfen an festen Montageplätzen. Was sagen die Beschäftigten dazu, dass sie nun ein komplettes Gerät selbst bauen? Von Michaela Böhm

Andrea Hänsel schiebt ihren Montagewagen zur Arbeitsstation und lässt sich auf einem Stuhl nieder. Hier kann sie im Sitzen arbeiten. 15 Jahre lang hat die 47-Jährige am Fließband gestanden und die immer gleichen Tätigkeiten ausgeführt. „Eintönig war das.“ Heute arbeitet sie in der U-Insel und baut einen kompletten Backofen zusammen. Sie entnimmt den Oberhitzekörper aus dem Karton, setzt ihn ein, dann den Ringheizkörper, die Lüfterflügel und die Rückwand, alles verschrauben, fertig, nächste Station. 

Moment, sie schaut kurz auf, Fragen beantworten und arbeiten, das geht nicht gleichzeitig. Sie zieht die Handschuhe aus und streift die gelben Stulpen ab, die sie trägt, um sich keine Schnittwunden zuzuziehen. Ihren Montagewagen übernimmt ein Kollege. Jetzt hat sie Zeit. „Früher hab ich bei der Arbeit schon mal an etwas anderes gedacht“, sagt sie. Woran? An den Einkaufszettel, ans Kochen? Sie lacht verlegen. „So in etwa.“ Heute ist das nicht mehr möglich. Ihr Kopf gehört der Arbeit. 

Sie muss sich konzentrieren, um keine Fehler zu machen, aber die Arbeit sei abwechslungsreicher. Außerdem kann sie heute – zwei Stunden nach Schichtbeginn – um acht Uhr mit der Arbeit beginnen und so auch ihre dreijährige Tochter in den Kindergarten bringen. Eine Teilzeit mit 28,7 Wochenstunden wäre am Fließband unmöglich gewesen. Seit März dieses Jahres hat der Hausgerätehersteller Miele in Oelde seine Produktion von Herden, Backöfen und Backöfen mit integrierter Mikrowelle komplett auf U-Insel-Montage umgestellt. U-Inseln heißt das Montagelayout, weil die Fertigung in U-Form aufgebaut ist. Die drei alten Fließbänder wurden verschrottet.

600 Menschen arbeiten bei Miele im münsterländischen Oelde, genauer im Ortsteil Lette. Wo die Volkstänzer im Heimathaus proben und die Jungs sich im Mai um die Wette und für 30 Liter Bier im Tauziehen messen. Wo es noch Landwirte gibt, aber keine Apotheke, keinen Arzt, keinen Pastor. Am Rande des Ortsteils, inmitten von Wiesen und Feldern, liegt das Werk, das gerade 100 Jahre Fließbandgeschichte umschreibt. Mit einem für Miele bislang einzigartigen Modell, das womöglich auch in anderen Werken, etwa für die Produktion von Staubsaugern, übernommen wird.

Los geht es an einem stationären Hubtisch, weiter zum Rondell, wo Patrick Günnewig, 29, der mal Industriemechaniker gelernt hat und seit zehn Jahren bei Miele arbeitet, den Garraum mit Dämmmaterial und Blech ummantelt. Dann packt er das unfertige, acht Kilogramm schwere Gerät auf den Montagewagen und fährt die Stationen ab. Nach rund 30 Minuten hat er die U-Form abgelaufen und ist zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. In der Zeit hat Günnewig ein komplettes Gerät fertiggestellt, es in der Prüfstation getestet und dem Backofen einen Stempel verpasst mit einer Zahlenkombination, die ihm zugeordnet ist. Am Ende der Schicht wird er 15 Geräte gebaut haben und einen halben Kilometer gelaufen sein. Das war anfangs ungewohnt, „aber das Gehen tut gut“. Seit er in der U-Insel arbeitet, sind auch die Verspannungen im Nacken verschwunden. 

VORTEILE DER PRODUKTION IN U-INSELN

Am Fließband war es kaum möglich, sich seinen Arbeitsplatz so einzustellen, wie es der eigenen Körpergröße entspricht. Das führt zu einseitigen Belastungen. Immer wieder klagten Beschäftigte darüber, dass am Ende der Schicht Nacken, Schulter und Rücken schmerzten. Weil eben die immer gleichen Bewegungen die immer gleichen Körperteile beanspruchen. Muskel-Skelett-Erkrankungen stehen bei Miele in Oelde ganz oben auf der Liste der Gründe für Arbeitsunfähigkeitstage. Deshalb hat der Haushaltsgerätehersteller Physiotherapeuten für Gesundheitskurse in den Betrieb geholt. Sie machten Fitnesschecks und zeigten den Beschäftigten Ausgleichsübungen gegen die einseitigen Bewegungen am Fließband. 

In den U-Inseln ist dagegen jeder Montagewagen in der Höhe verstellbar, die Arbeitstische können gekippt werden. Die Beschäftigten gehen, stehen, sitzen, immer im Wechsel, wie es Arbeitswissenschaftler empfehlen. Noch ist es zu früh, um Bilanz zu ziehen und festzustellen, ob die U-Insel-Montage die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage tatsächlich senkt. Die Physiotherapeuten kommen immer noch einmal pro Woche und geben Tipps. Dehnen, beugen, strecken – das geht in der Aktivpause, drei mal zwei Minuten pro Schicht. Sie war auf Vorschlag des Betriebsrats als Ersatz für die Bandpause von zwei mal neun Minuten eingeführt worden. Das war ein Kompromiss, sagt der Betriebsrat. Denn Miele hatte kategorisch erklärt: Ohne Band keine Bandpause. 

Die Auseinandersetzung um die Bandpause war nicht der erste Konflikt zwischen Betriebsrat und Management. Rund vier Jahre ist es her, dass sich in allen acht Standorten kleine Veränderungen zeigten. In einem Werk wurden Rüstworkshops durchgeführt, im nächsten die Stapler abgeschafft und kleine Logistikzüge angeschafft, in einem anderen probierte man ein Prinzip aus, durch Ordnung und Sauberkeit überflüssige Handgriffe und lästiges Suchen nach Material zu verringern. 

Obwohl es in Oelde noch nicht einmal einen Plan für die U-Insel-Montage gab, prophezeite Birgit Bäumker im Gesamtbetriebsrat: „Da kommt was Großes auf uns zu.“ So war es dann auch. Sie ist die Betriebsratsvorsitzende in Oelde und kennt das schon aus der Vergangenheit: „Wir sind oft die Vorreiter für Veränderungen.“ Fließband verschrotten und in U-Inseln montieren – das sind keine Kleinigkeiten. Was will das Unternehmen? Was passiert bei Miele? Ein übergeordnetes Konzept für alle acht Werke ließ sich nicht erkennen, geschweige denn die Einführung eines neuen Produktionssystems für den Hausgerätehersteller. 

CHANCEN UND RISIKEN CHECKEN

Der Gesamtbetriebsrat hat es sich über die Mitbestimmung hart erkämpfen müssen, bis der Arbeitgeber letztlich sein Konzept auf den Tisch gelegt hat. Und er hat sich sofort Unterstützung der IG Metall geholt und sich intensiv damit beschäftigt, was es mit dem neuen Produktionssystem auf sich hat, welche Chancen drinstecken und welche Risiken. Klar war: Eine Produktion lässt sich nur umkrempeln, wenn Betriebsrat und Beschäftigte beteiligt sind. Das war in Oelde der Fall. „Wir waren überall beteiligt“, erzählt Bäumker. Ob bei der Arbeitsplatzgestaltung in den U-Inseln, Arbeitszeitfragen oder bei der Planung der Lerninseln. 

Die U-Inseln in Oelde sind keine Erfindung von Miele, sondern Teil eines neuen Produktionssystems, wie es inzwischen in vielen Industriezweigen praktiziert wird. Vorbild ist der japanische Automobilbauer Toyota, Ziele sind kostengünstiger und schneller produzieren und gute Qualität liefern. Denn die Konkurrenz unter den Hausgeräteherstellern ist hart und der Kostendruck hoch, sagt Miele. Der Lagerbestand war dem Unternehmen zu hoch und zu teuer, es wollte die kürzesten Lieferzeiten auf dem Markt garantieren und teure Stillstandszeiten reduzieren. Deshalb ist Miele aus der Fließbandfertigung ausgestiegen und hat vier Millionen Euro in die U-Insel-Montage investiert.

„Wir verteufeln die Linie aber nicht.“ Tatsächlich läuft in der Halle, die komplett entkernt und mit den sieben U-Inseln bestückt wurde, noch ein Fließband, an dem ganz klassisch hohe Stückzahlen gefertigt werden, 400 Backöfen und Herde pro Schicht in maximal zwei Varianten. „Das ist unser Ford-T-Modell“, sagt Werksleiter Ernst-Jürgen Breford in Anspielung auf jenes Ford-Modell, das in den USA 15 Millionen Mal vom Band rollte. Und den Beginn standardisierter Massenfertigung markierte: immer in gleicher Ausführung, ohne Schnickschnack und immer in Schwarz. 

Genau das war das Problem. Miele-Backöfen und -Herde werden in 800 verschiedenen Varianten angeboten, havannabraun oder brilliantweiß, mit Klimagaren oder ohne, für den amerikanischen Markt mit Platz für den Truthahn oder in der Singleversion. Weit entfernt von Massenfertigung.

Durch die vielen Varianten ist am Fließband keine gleichmäßige Auslastung möglich. Die Bänder mussten häufig umgerüstet werden, was Zeit kostet. „In der Summe führte das zu viel Leerlauf und unproduktiven Zeiten“, sagt der Werksleiter. Pure Verschwendung. Dagegen können in einer U-Insel acht, fünf, drei Menschen oder nur einer arbeiten, je nachdem wie viele Herde und Backöfen Miele pro Tag herstellen möchte. 

Wäre das auch eine Lösung für andere Fließbänder in der Industrie? „Sicher nicht bei so großen Produkten wie Autos“, sagt Detlef Gerst, Experte für neue Produktionssysteme bei der IG Metall. Er hat die Miele-Betriebsräte beraten und kennt auch die U-Insel-Montage in Oelde. Aber eine Alternative zum Fließband gäbe es trotzdem, etwa eine taktentkoppelte Montage am stehenden Fahrzeug. Für kleinere Produkte könnte die U-Insel durchaus ein gutes Beispiel für andere Unternehmen sein. „In Oelde zeigt sich, wie menschengerechte Arbeit und Wirtschaftlichkeit zusammengehen können.“ 

VORTEILE FÜR BEIDE SEITEN

Betriebsratsvorsitzende Birgit Bäumker weiß, welche Spuren jahrelange monotone Fließbandarbeit hinterlässt. Sie macht alt im Kopf. Arbeitsforscher haben nachgewiesen, dass vor allem das Arbeitsgedächtnis leidet, das dafür zuständig ist, dass jemand zwischen verschiedenen Aufgaben wechseln kann und im Kopf behält, was eben noch gefragt war. 

Statt wie früher am Band alle ein bis drei Minuten die Handgriffe zu wiederholen, ist der Arbeitsumfang auf eine halbe Stunde gewachsen. In der U-Insel macht heute einer die gleiche Arbeit, die – zerhackt in einzelne Handgriffe – am Fließband viele Dutzend Menschen erledigten. „Das ist ein Fortschritt, wenn jemand mitdenken darf bei der Arbeit, Neues lernen kann und die eigenen Fähigkeiten nicht verkümmern“, urteilt Jürgen Klippert, der einst beim Institut für Arbeitswissenschaft der Universität Kassel arbeitete und heute bei der IG Metall beschäftigt ist. Und weil jede Frau und jeder Mann ein komplettes Gerät baut, ist auch das Gefühl verschwunden, nur ein Rädchen im Getriebe zu sein. „Die Mitarbeiter sind stolz auf das, was sie geschaffen haben“, erklärt der Werksleiter. 

Es gibt einen weiteren Grund, warum sich keiner nach dem Fließband zurücksehnt: „Hier ist es einfach schöner“, sagt Teamleiterin Birgit Helfberend. Der Mensch ist nicht mehr Teil einer Maschine und nicht mehr dem Band ausgeliefert, das Takt und Tempo vorgibt. „Allein die Tatsache, selbst entscheiden zu können, wann ich den Montagewagen in Bewegung setze, selbst zu steuern und mich selbst fortzubewegen, ist ein Fortschritt“, sagt Arbeitswissenschaftler Klippert. Um gleich einzuschränken: Taktgebunden ist die Arbeit dennoch. Denn die Reihenfolge der Handgriffe, der Ablauf der Arbeitsstationen und das Tempo sind in der U-Insel vorgegeben. 

Selbst nach so kurzer Zeit ist das Fazit für Miele positiv: „Wir produzieren heute mit derselben Zahl an Mitarbeitern mehr Geräte“, sagt Werksleiter Breford. Dass trotzdem niemand seinen Job verliert und auch keiner heruntergestuft wird und weniger verdient, ist in einer Vereinbarung zwischen Gesamtbetriebsrat und Management festgelegt worden. 

Doch es ist eine echte Herausforderung, auf einmal ein komplettes Gerät zu bauen. Ein-Minuten-Handgriffe sind schnell eingeübt, nicht aber das. Die angelernten Frauen und Männer, die allesamt jahrelang am Fließband gearbeitet hatten, waren besorgt, ob sie das schaffen werden. Doch in einer Lerninsel bekam jeder Einzelne beigebracht, wie Kabelbäume montiert werden und welche Steckverbindungen in welches Gerät gehören. Die Sorgen waren unbegründet, sagt der Werksleiter. „Die Mehrheit der Mitarbeiter war nach kurzer Anlernzeit in der Lage, das gesamte Gerät zu bauen.“ Dazu gab es Workshops zum Sozialverhalten. Dort wurden die Teamregeln festgelegt: Wir sprechen Probleme an. Wir überholen uns nicht. Wir fangen gemeinsam pünktlich an. 

Ja, es gab in der ersten U-Insel Konflikte, die solche Teamregeln nötig machten. Da fuhr man schon mal der Kollegin mit dem Montagewagen in die Hacken. Da trommelte einer mit den Fingern, um zu signalisieren, dass sie sich mal sputen muss. Was dazu führte, dass manch einer die Pause verkürzte und schon mal mit der Arbeit begann, um nicht angerüffelt zu werden. „Für uns war das zunächst nicht begreiflich, was da vor sich ging. Aber offensichtlich ist es so, dass man am Fließband eine ganze Schicht lang nebeneinanderher arbeiten kann, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln, wenn man nicht will. In der U-Insel geht das nicht“, sagt der Werksleiter. Ein externer Moderator löste die Konflikte schließlich in Gruppen- und Einzelgesprächen. Ein Problem, mit dem niemand gerechnet hatte. Und das am Fließband auch nie aufgetaucht war.

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