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Magazin Mitbestimmung

Kommentar: Schrumpfende Ambitionen

Ausgabe 09/2014

Den Sozialstaat gibt es nur mit einer funktionsfähigen Infrastruktur. Warum wir keinen Magerstaat wollen können. Von Wolfgang Uellenberg-van Dawen, der die Grundsatzabteilung beim ver.di-Bundesvorstand in Berlin leitet. 

Nach welchen Mustern verläuft Haushaltskonsolidierung in westlichen Sozialstaaten? Welche Prioriäten werden gesetzt? In einer bemerkenswerten Studie haben Lukas Haffert und Philip Mehrtens, zwei junge Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, die Haushaltskonsolidierung in progressiven Sozialstaaten in den 1990er Jahren erforscht. Demnach erreichten die damals in Dänemark, Schweden, Finnland, Kanada, Australien und Neuseeland regierenden Sozialdemokraten tatsächlich ihr Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes. Dies wurde indes weniger durch Einschnitte in das Sozialbudget als vielmehr durch die systematische Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur erreicht. Die politische Erfahrung, nach der Rentenkürzungen in der Regel mehr Widerstand hervorrufen als die weniger auffällige Kürzung der Investitionsbudgets, hat in diesen Ländern zu einer systematischen Vernachlässigung von Brücken, Straßen, Schienen und Wasserwegen, von öffentlichen Gebäuden, Anlagen und Freizeiteinrichtungen geführt. 

Das mit der Haushaltskonsolidierung verbundene Ziel, durch Schuldenabbau auf Dauer mehr staatliche Handlungsspielräume zu bekommen, wurde jedoch nicht erreicht. Denn zum einen wurden fiskalpolitische Mechanismen, Instrumente und Entscheidungsparameter so fest installiert, dass sie die Haushaltspolitik auf Dauer einschnürten – und in den einmal eingeschlagenen Kurs zwangen. Zum anderen wurden Überschüsse nicht genutzt, um wieder zu investieren. Stattdessen wurden Steuern gesenkt. Es ging demnach nicht darum, durch Sparen neue Freiräume zu gewinnen, sondern – so das Fazit der Untersuchung – „um schrumpfende Ambitionen des Staates“.

Die Ambitionen des Staates stehen auch im Mittelpunkt der aktuellen Auseinandersetzung um die Beseitigung des Investitionsstaus in der öffentlichen Infrastruktur in Deutschland. Während immer neue Studien immer größere Summen ausweisen, die benötigt werden, um marode Verkehrswege, bröckelnde Schulgebäude, gesperrte Hörsäle und vernachlässigte Krankenhäuser und Altenheime zu sanieren, hält die politische Mehrheit am Dogma des schuldenfreien Haushaltes fest. Mehr noch: Sie kommt zu Vorschlägen wie der einer Nutzerfinanzierung der Verkehrswege, wozu so eine aberwitzige Idee wie die einer allgemeinen Pkw-Maut gehört. 

Oder aber sie überantwortet wesentliche Teile der Verkehrsinfrastruktur, des Gesundheitswesens oder der Bildung und Forschung privaten Trägern, damit diese die Scherben zusammenkehren und den Investitionsstau beseitigen und am Ende des Tages dafür dann bei den Bürgerinnen und Bürgern abkassieren können. 

Was aus dem Blickfeld gerät, ist der Sozialstaat und damit eine gelingende Gesellschaft. Die öffentliche Infrastruktur ist die Struktur des Sozialstaates: Marode Verkehrswege schaden der Wirtschaft, aber sie behindern auch die Mobilität der Menschen. Eine Lkw-Maut ist aus ökologischen Gründen sinnvoll, eine Pkw-Maut macht das Autofahren zum Privileg für die, die es sich leisten können – denn das wird am Ende auch aus europarechtlichen Gründen herauskommen. Steigende Preise für Bus und Bahn, aber auch verspätete Züge und fehlende Anbindungen verhindern Mobilität für jene, die nicht motorisiert sind. 

Noch offensichtlicher wirkt sich die Vernachlässigung der Infrastruktur im Bildungs- und Gesundheitswesen, im Kultur- und Freizeitbereich, in der Stadtentwicklung und im Wohnungsbau aus. Dabei geht es nicht nur um Beton, sondern auch um Köpfe, also die Menschen, die gesellschaftlich notwendige Dienste leisten. Diese Dienste müssen für alle in guter Qualität angeboten werden, für alle erreichbar und vor allem bezahlbar sein. Und das geht nur in einer funktionsfähigen Infrastruktur, wie sich vor allem in den Kommunen zeigt. Öffentliche Armut schadet dabei besonders denen, die auf gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen und Einrichtungen angewiesen sind: Das sind ganz junge und ganz alte Menschen mit kleinem Geldbeutel, das sind Eingewanderte, das sind Menschen aus sozial schwachen oder bildungsfernen Schichten. Das sind aber ebenso alle, die in irgendeiner Form öffentliche Dienste in Anspruch nehmen wollen. 

Welche Ambitionen hat der Sozialstaat? Droht ein Magerstaat, der sich mangels innerer Strukturen kaum noch aufrechterhalten kann und den Bürgerinnen und Bürgern noch gerade Minimalleistungen anbieten kann, wie schon in den 90er Jahren Erhard Eppler befürchtete? Oder aber wachsen die Erkenntnis, der Wille und vor allem die Mehrheit in der Gesellschaft wie in der Politik, dass der Wiederaufbau und der Ausbau des Sozialstaates in seinen Fundamenten, seiner Struktur wie seiner Statik höchste Priorität hat. Letzteres aber verlangt einen Politikwechsel, der tiefer geht, als viele meinen.

Mehr Informationen

Lukas Haffert/Philip Mehrtens: From Austerity to Expansion? Consolidation, Budget Surpluses, and the Decline of Fiscal Capacity. MPIfG Discussion Paper 13/16, Dezember 2013

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