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Magazin Mitbestimmung

Arbeiterkammer: Österreichische Wundertüte

Ausgabe 07+08/2014

Sie hat Zustimmungswerte, von denen Kirche, Parteien oder Polizei nur träumen können; sie ist ein fixer Baustein in der Architektur des Korporatismus: die österreichische Arbeiterkammer. Porträt einer Institution. Von Robert Misik

Herbert Tumpel gehört nicht zu jenem Typus Mensch, der einem auf Anhieb sympathisch ist. Tumpel, der im Vorjahr nach mehr als 15 Jahren an der Spitze der Wiener und gesamtösterreichischen Arbeiterkammer aus dem Amt geschieden ist, ist auf den ersten Eindruck ein bisschen maulfaul und grummelig. Wenn man ihn nicht kennt, könnte man ihn sogar für einen typischen Apparatschik halten. Kommt man ihm aber näher, stellt man schnell fest, dass Tumpel ein intellektueller, freundlicher und aufgeschlossener Mann ist. „Schau dir diese Zahlen an!“, sagt er und wedelt mit einem Blatt Papier. Man könnte dieses schlichte Blatt Papier auch die Bilanz seiner letzten 15 Berufsjahre nennen. Es ist der österreichische Institutionen-Vertrauensindex, der von Meinungsforschern regelmäßig abgefragt wird. Bundesregierung, Bundesheer, katholische Kirche – das sind die Institutionen, die schwer im Minus oder nur in einem blassen Plus liegen. Gemeinden, Polizei, Verfassungsgerichtshof folgen dann irgendwo im gehobenen Mittelfeld. Ganz an der Spitze die beiden Institutionen, denen die Österreicher und Österreicherinnen am meisten vertrauen: Rechnungshof und Arbeiterkammer, kurz AK.

Wobei es „die“ Arbeiterkammer streng besehen nicht gibt, obwohl die Österreicher von „der Kammer“ reden. Es gibt die neun Arbeiterkammern in den Bundesländern mit ihrem jeweiligen Präsidenten. Eine Bundesarbeiterkammer gibt es nicht: Diese Aufgabe wird von der Wiener Arbeiterkammer miterfüllt, ihr Präsident ist gemeinhin „der österreichische Arbeiterkammerpräsident“. 

Diese hohe gesellschaftliche Reputation der Arbeiterkammern ist erstaunlich. Denn vor 20 Jahren noch lag das Image der AK am Boden. In den Augen der Bevölkerung erschien die AK als abgeschlossene Bürokratie, in der Apparatschiks ihr Unwesen trieben, deren Nutzen sich für kaum jemanden erschloss und die auch noch regelmäßig von Skandalen erschüttert war. Das Zerrbild wurde von Multifunktionären wie dem damaligen steirischen AK-Präsidenten Alois Rechberger geprägt, der sich nicht nur ein fürstliches Salär aus diversen Quellen gönnte, sondern auch noch AK-Gelder missbräuchlich für seinen Wahlkampf als SPÖ-Nationalrat verwendete; ein fetter Posten ging sogar für Zigarren drauf. AK-Funktionäre wie Rechberger wurden vom Boulevard und von dem damals aufstrebenden jungen Rechtspopulisten Jörg Haider, der die Chance roch, die Interessenvertretung der Arbeitnehmer zerschlagen zu können, als „Paradebonzen“ vorgeführt. Die Arbeiterkammer war in einer tiefen Legitimationskrise.

Heute ist das alles anders. Tumpels Nachfolger Rudolf Kaske, ein gelernter Koch und bisher Vorsitzender der Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida, übernahm im Vorjahr ein wohlgeordnetes Haus und konnte sich ein Jahr lang profilieren, ehe er sich bei den Arbeiterkammerwahlen in diesem Frühjahr zur Wahl stellen musste.

AK-WAHLEN ALS LEGITIMATIONSTEST

Die Kammermitgliedschaft ist verpflichtend, alle unselbstständig Beschäftigten – knapp drei Millionen – des Landes sind Mitglieder. Von denen gingen diesmal knapp 40 Prozent zur Wahl. In den vergangenen 25 Jahren pendelte die Beteiligung zwischen 30 und 50 Prozent. War der Absturz der Wahlbeteiligung Anfang der 90er Jahre vor allem eine Reaktion auf die Skandale, sehen die heutigen Mitglieder eine funktionierende Institution mit meist klaren Mehrheitsverhältnissen. Wozu also wählen gehen? Die Fraktion sozialistischer Gewerkschafter konnte in diesem Jahr praktisch überall zulegen und ihre Dominanz ausbauen – in Wien erhielten die Sozialdemokraten etwas weniger als 60 Prozent, in Kärnten und im Burgenland über 70 Prozent, in Nieder- und Oberösterreich und Salzburg über 60 Prozent. Nur in der Steier­mark setzte es harte Verluste. In Tirol und Vorarlberg sind traditionell die christlichen Gewerkschafter stärkste Fraktion. Auch die Grünen gewannen flächendeckend dazu. Die rechten freiheitlichen Gewerkschafter fielen auf knapp unter zehn Prozent zurück. 

Gegründet 1920, sind die Arbeiterkammern ein Produkt der demokratischen Revolution und der Umbruchswirren von 1918. Die Sozialdemokratie hatte die Republik begründet und in den ersten Nachkriegsjahren in einer großen Koalition mit den Christlichsozialen regiert. Doch der Umbruch konnte von den Sozialdemokraten nicht vollends kontrolliert werden. Arbeiter- und Soldatenräte wurden etabliert und entwickelten ein Eigenleben. Die österreichische Sozialdemokratie verstand es aber, den linken Flügel zu integrieren und die spontaneistischeren Tendenzen der Arbeiterbewegung in institutionelle Bahnen zu lenken. Die Arbeiterkammern spielten dabei eine nicht unbedeutende Rolle. Seither hat Österreich neben der freiwilligen Interessenvertretung durch die Gewerkschaften auch eine öffentlich-rechtliche. Im Unterschied zu Deutschland übrigens, wo meist den Industrie- und Handelskammern keine gesetzlichen Arbeitnehmervertretungen gegenüberstehen – außer in Bremen und im Saarland.

Heute haben die Arbeiterkammern im Wesentlichen drei Aufgaben: Sie sind abgesicherte Interessenvertretung im Gesetzgebungsverfahren und müssen konsultiert werden. Sie sind im öffentlichen und im Fachdiskurs eine Macht. Sie haben, zweitens, einen umfangreichen Stab an Experten und funktionieren deshalb als linker Thinktank, vor allem in wirtschaftspolitischen Fragen, aber auch in Sachen Konsumentenschutz und Ähnlichem. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, Markus Marterbauer, einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler des Landes, Leiter ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung. Drittens bieten sie hochqualifizierten Service: Rechtsschutz in Arbeitsrechtsangelegenheiten, Beratung und Unterstützung in allen Fragen des Konsumentenschutzes. Beratung und sonstige juristische Hilfe stehen prinzipiell der gesamten Bevölkerung offen, Rechtsschutz in Arbeitsrechtsprozessen nur Mitgliedern, wobei es auch hier Grenzfälle gibt: Ein Selbstständiger, der eine Anstellung durchsetzen will, wird durchaus auch von der AK vertreten, obwohl er ja erst nach dem Prozess ein „unselbstständig Beschäftigter“ – und somit AK-Mitglied – ist. 

Die Pflichtmitgliedschaft und der daraus folgende Mitgliedsbeitrag von 0,5 Prozent des Bruttogehaltes aller Mitglieder (durchschnittlich 5,97 Euro pro Mitglied und Monat) sorgen für eine ordentliche finanzielle Ausstattung der Kammern, was ihnen die Möglichkeit gibt, hochqualitative Arbeit zu machen. Ohne die Wirtschaftsexperten der Arbeiterkammer stünden sowohl die Gewerkschaften wie auch die Sozialdemokraten mit ziemlich leeren Händen da.

EINE ART LINKER THINKTANK

Für die hohe Reputation in der Bevölkerung sind zwei Dinge ausschlaggebend: einerseits das Servicenetz, das die AK bietet. Jeder Österreicher und jede Österreicherin weiß, dass er oder sie bei der Arbeiterkammer zu so ziemlich jedem Problem im Job oder mit Firmen verlässliche Beratung bekommt. Die AK ist einfach die Institution, „zu der man hingeht“, wenn man ein Problem hat. Der zweite Grund ist, dass die AK zwar politisch ist, aber nicht wirklich parteipolitisch erscheint. Einer der Hauptgründe dafür ist, dass nach den Skandalen der 80er und 90er Jahre eine strenge Linie gefahren wurde: Die Spitzenrepräsentanten der AK sind nur der AK verpflichtet, sie sind nicht gleichzeitig auch noch Nationalratsabgeordnete oder Ähnliches. Ex-Präsident Tumpel war der erste AK-Präsident, der nicht gleichzeitig für die SPÖ im Nationalrat saß. Dies gab ihm und gibt den heutigen AK-Spitzenfunktionären die Möglichkeit, Forderungen an die gesamte Regierung – derzeit von SPÖ und ÖVP gebildet – zu stellen, ohne Rücksichten auf eine zweite Rolle nehmen zu müssen. 

Gewiss, die AK ist auch eine formalisierte Institution mit all den Charakteristika, die solche Institutionen auszeichnen: Trägheit des Apparates, hierarchische Ordnung, die den Eigensinn der in ihr Beschäftigten oft frustriert und bisweilen auch lähmt. Aber im Rahmen dessen ist sie eine eher aufgeschlossene Institution. Hier arbeiten kritische, unabhängige Intellektuelle, und sie prägen bis zu einem gewissen Grad die innere Kultur. Gerade die schwere Krise der Arbeiterkammer vor 20 Jahren hat sie für neue politische Formen offen gemacht – dass sie sich ändern muss, hat sie früher begreifen müssen als etwa die SPÖ oder die Gewerkschaften. Die AK-Funktionäre haben die Kooperation mit NGOs gesucht, und in ihrem Spitzenteam dominieren Leute, die durchaus fähig sind, über den Tellerrand zu blicken. Mit dem neuen AK-Präsidenten Rudolf Kaske avancierte beispielsweise jener Gewerkschaftsvorsitzende zum AK-Präsidenten, den man vorher bei Anlässen häufig in der ersten Reihe sah, zu denen nicht automatisch jeder Gewerkschaftsführer hinkommt, etwa bei Menschenrechtsdemonstrationen beispielsweise gegen Abschiebungen. 

Aufgrund der mittlerweile beinahe 100-jährigen Geschichte der Arbeiterkammern und der Umstände ihrer Entstehung war das Verhältnis zwischen AK und Gewerkschaften meist eher unproblematisch. Die AK wurde vom Gros der Gewerkschaften von Beginn an als eine nützliche Institution zur Vertretung von Arbeitnehmerrechten angesehen und weniger als Konkurrenz auf dem gleichen Feld. Die Sorge etwa deutscher Gewerkschaften, eine gesetzliche Interessenvertretung könne der freiwilligen schaden, versteht man nicht wirklich. „Mir würde kein Land in Europa einfallen, mit dem ich, was die Absicherung von Beschäftigteninteressen betrifft, tauschen möchte“, sagt Wolfgang Katzian, der Chef der Angestelltengewerk- schaft GPA-djp und gleichzeitig oberster Funktionär der sozialdemokratischen Gewerkschafter. „Und das hat zweifellos mit der Existenz einer gesetzlichen Interessenvertretung neben den Gewerkschaften zu tun.“ Was die Experten der AK inhaltlich aufbereiten, werde oft von den Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene auf den Boden gebracht. „So läuft die sinnvolle Kooperation zwischen AK und Gewerkschaften.“ 

KOOPERATION ODER KONKURRENZ?

Doch wer braucht noch Gewerkschaften, wenn eine gesetzliche Interessenvertretung zum Beispiel in arbeitsrechtlichen Fragen hervorragend berät und vertritt? Tatsächlich spielt diese Frage praktisch keine Rolle. Gewerkschaften agieren auf betrieblicher Ebene, was die AK nicht tut. Das Rückgrat der Gewerkschaften sind die Betriebsräte. Die Tarifpolitik ist Sache der Gewerkschaften, die AK hat damit nichts zu tun. Wenn Gewerkschaften Mitglieder verlieren oder ihre Legitimation schwindet, dann ist das meist Folge von Schwächen in der Tarifpolitik, von Schwierigkeiten, auf betrieblicher Ebene – vor allem in kleinteiligen Branchen – Organisationsstrukturen aufzubauen, oder von unzeitgemäßer Führungskultur. Kurzum: Wo es den Gewerkschaften schlecht geht, ist sicher nicht die Konkurrenz der AK im Servicebereich die Hauptursache. „Wenn es uns gut geht, geht es auch den Gewerkschaften gut und vice versa“, sagt sehr entschieden Wolfgang Mitterlehner, der Kommunikationschef der Arbeiterkammer. 

In der Praxis sind etwaige Probleme schon durch die enge Verzahnung von AK und Gewerkschaften entschärft. Man könnte auch sagen: Die Gewerkschaften kontrollieren die AK de facto. Die Hunderte Arbeiterkammerräte – die bei den AK-Wahlen gewählten Vertreter im AK-„Parlament“ – sind in aller Regel Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte. Die jeweiligen Arbeiterkammerpräsidenten in den neun Bundesländern werden von den Gewerkschaften ausgedealt. Vereinfacht wird das noch durch die Tatsache, dass in praktisch allen Bundesländern (außer Tirol und Vorarlberg) die Mehrheit in den Gewerkschaften und den Arbeiterkammern von der gleichen Fraktion gestellt wird, den Sozialdemokraten. Das erleichtert die Kooperation, ja, man kann mit verteilten Rollen agieren. Es soll schon vorgekommen sein, dass sich die AK in einer Kampagne zurückhält, um die Gewerkschaften den Erfolg einfahren zu lassen. 

Hinzu kommt, dass Österreich ein kleines Land ist. Die größte Einzelgewerkschaft, die Angestelltengewerkschaft GPA-djp, hat 270 000 Mitglieder. Ein Zwerg, verglichen etwa mit der deutschen IG Metall mit ihren 2,3 Millionen Mitgliedern. Was aber auch heißt: Keine Gewerkschaft ist groß und damit finanzkräftig genug, um sich einen riesigen Stab leisten zu können. Die Gewerkschaften wissen, dass sie die Expertenschar der AK niemals ersetzen könnten. 

ERFOLGSGESCHICHTE DES KORPORATISMUS

Die AKs sind gewiss ein ganz entscheidender Beitrag zu dem, was man etwas ironisch das „österreichische Mirakel“ nennen kann, das schnell zur Sprache kommt, wenn man sich mit ausländischen Experten unterhält. Soll heißen: Als routinierter Österreicher hat man die mediokre Performance der hiesigen politischen Klasse, die Ideen­losigkeit und die Selbstblockade der Regierungsparteien gerade in grellen Farben geschildert, da fragen die schon retour: „Aber wie kann ein derart schlecht regiertes Land ökonomisch und sozial so gut dastehen?“ 

Denn bei allen Problemen, die das Land auch haben mag, ist es im internationalen Vergleich eher ein Vorzeigeland. Neben einer Reihe anderer Gründe ist dafür wohl vor allem die spezifisch österreichische Spielart des Korporatismus verantwortlich, also die Sozialpartnerschaft und das Problemlösen im Konsens. Tatsächlich gibt es, entgegen landläufiger Meinung, eine ganze Bibliothek internationaler vergleichender Forschung, die den Schluss nahelegt, dass korporatistisch geprägte Länder nicht erstarren, sondern langfristig besser abschneiden als Länder, in denen eher der Konflikt regiert. 

Die AK sind neben Gewerkschaften und der Wirtschaftskammer und Institutionen wie der Vereinigung österreichischer Industrieller einer der wichtigsten Bausteine in dieser Architektur.

MEHR INFORMATIONEN

Herbert Hönigsberger: STRATEGIE FÜR DIE EINFÜHRUNG EINER ARBEITSKAMMER IN BRANDENBURG. Konzeptions- und Kommunikationsstudie. Arbeitspapier 300 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2014. 67 Seiten, 15 Euro. PDF zum kostenfreien Download

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