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Magazin Mitbestimmung

Mitbestimmung: Der Einfriertrick

Ausgabe 07+08/2014

Immer mehr Firmen nutzen die Rechtsform der Europäischen 
Aktiengesellschaft, SE, um Mitbestimmungsstandards zu verwässern. Die Gewerkschaften fordern eine Schließung der Schlupflöcher. Von Guntram Doelfs

Im Dezember 2013 hat sich der Axel Springer Verlag in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) umgewandelt. Seit Langem hat Springer mehr als 2000 Beschäftigte und ist auch in vielen europäischen Ländern aktiv. Als Verlag unterlag das Unternehmen bislang aber dem sogenannten Tendenzschutz, der Medien­unternehmen eingeräumt wird, die der politischen Meinungsbildung dienen. Eine Folge sind sehr eingeschränkte Mitbestimmungsrechte, unter anderem gibt es keinen mitbestimmten Aufsichtsrat. Ende 2013 verkaufte Springer einen Großteil seiner Regionalzeitungen sowie seiner Programmzeitschriften, um sich stärker dem digitalen Onlinegeschäft zu widmen. Damit stand plötzlich die Frage im Raum, ob Springer überhaupt noch als Verlag betrachtet werden kann. Wäre dem nicht so, würde der Tendenzschutz entfallen. Dem hat Springer nun mit der fast zeitgleichen SE-Gründung vorgebaut. Wie zuvor in der AG sind auch im SE-Aufsichtsrat keine Arbeitnehmervertreter vorgesehen.

Zehn Jahre nach Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft wächst die Zahl der Firmen, die den Gang in eine SE nutzen, um Mitbestimmungsvorgaben zu umgehen. „Wir beobachten seit einiger Zeit einen klaren Trend dahin, dass Unternehmen mit einer Mitarbeiterzahl knapp unter dem Schwellenwert von 2000 Mitarbeitern über eine SE-Gründung die Mitbestimmung einfrieren und die anstehende paritätische Mitbestimmung verhindern wollen“, sagt Daniel Hay, Experte für Unternehmensrecht beim IG-Metall-Vorstand. 

Formaljuristisch ist der Vorgang schlecht angreifbar. Schließlich gibt es unterschiedliche Motive, eine SE zu gründen: von einem besseren Image über steuerliche und unternehmensorganisatorische Gründe bis eben hin zur Frage der Mitbestimmung. Zum anderen lässt sich die Entwicklung schwer in konkrete Zahlen fassen. „Es ist statistisch nicht wirklich belegbar, was das einzelne Unternehmen mit einer SE-Gründung für Ziele verfolgt“, sagt Tanja Jacquemin, Bereichsleiterin Betriebs- und Branchenpolitik beim IG-Metall-Vorstand. Wenn es aber gehäuft Unternehmen sind, die zum Zeitpunkt der SE-Gründung 1700 bis 1900 Mitarbeiter, jedenfalls unter 2000, haben, „liegt die Vermutung nahe, dass sie eine SE gründen, um die Mitbestimmung zu vermeiden“. Auch für Martin Lemcke, Bereichsleiter Mitbestimmung beim ver.di-Bundesvorstand, ist es längst ein Trend. „Die zahlreichen Beispiele, die ich beobachte, reichen mir als Beleg.“ 

HARTE INDIZIEN

Eine Analyse aktueller Zahlen des Europäischen Gewerkschaftsinstituts über den Stand der SE-Entwicklung in Europa liefert Indizien, die die Beobachtungen der Gewerkschafter stützen. Im April 2014 gab es in Europa 2125 SE-Gesellschaften, von denen 289 „normale“ SE waren, also Unternehmen, die tatsächlich operativ tätig sind. Von diesen 289 Unternehmen kommen 138 Unternehmen aus Deutschland. Von den 135 deutschen SE hatten 59 Unternehmen weniger als 500 Beschäftigte, weitere 53 mehr als 500 Beschäftigte und nur 26 Unternehmen mehr als 2000 Beschäftigte.

Eine Auswertung Ende 2013 von Lasse Pütz, Experte für das Thema in der Hans-Böckler-Stiftung, zeigt, dass von den damals 135 europäischen Gesellschaften in Deutschland immerhin 39 über eine sogenannte Vorrats-SE gegründet wurden. Das sind von großen Wirtschaftskanzleien fertig eingerichtete, „leere“ SE, in die interessierte Unternehmen schlüpfen können. „Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, speziell familiengeführte Unternehmen, schlagen des Öfteren diesen Weg ein“, weiß Doris Meißner von der Hauptverwaltung der IG BCE. Meißner ist dort als Juristin und Expertin für europäisches Arbeitsrecht tätig. 

Doch die SE ist nicht das einzige Instrument zur Vermeidung von Mitbestimmung in Deutschland. „Dazu bietet das deutsche Recht längst viele Möglichkeiten, die auch genutzt werden“, schildert Doris Meißner. So nutzen viele Firmen eine Rechtslücke im Drittelbeteiligungsgesetz, um durch Ausgründung in Tochtergesellschaften unter dem Schwellenwert von 500 Beschäftigten (Drittelbeteiligung) zu bleiben. Wenn diese Unternehmen sich in eine SE umwandeln, wird der mitbestimmungsfreie Zustand auf Dauer festgeschrieben, und zwar unabhängig davon, ob das Unternehmen in Zukunft in Deutschland eine Größenordnung erreicht, die sogar die paritätische Mitbestimmung erfordern würde. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Ströer Media AG, Branchenprimus im Bereich Außenwerbung in Deutschland. Im Aufsichtsrat der AG saßen keine Arbeitnehmervertreter, obwohl der Konzern insgesamt rund 1600 Beschäftigte in Deutschland zählt. Die sind geschickt auf Tochtergesellschaften verteilt. Am 18. Juni nun beschloss die Hauptversammlung die Umwandlung in eine SE. Die geplante SE-Satzung sieht auch weiterhin keine Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat vor. „Die Gründung einer SE hilft, die aufwendige Ausgründungsstrategie aufzugeben und viele GmbHs wieder im Konzern zusammenzuführen“, sagt IG-BCE-Expertin Meißner.

Unternehmen mit Drittelbeteiligung wiederum nutzen die Umwandlung in eine SE, um nicht unter die paritätische Mitbestimmung zu fallen, vermutet Doris Meißner: „Wenn ein Unternehmen mit drittelbeteiligtem Aufsichtsrat sich in eine Europa-AG umwandelt, ist diese Beteiligungsform bis an das Ende aller Tage festgeschrieben, auch wenn das Unternehmen beträchtlich wachsen würde und irgendwann 10000 Arbeitnehmer in Deutschland hätte.“ 

SCHLUPFLÖCHER SCHLIESSEN

Der DGB und seine Mitgliedergewerkschaften fordern deshalb ein Ende dieser „missbräuchlichen Nutzung der Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft“, wie es in einem auf dem Bundeskongress beschlossenen Leitantrag zur Mitbestimmung heißt. 

Zunächst wäre der deutsche Gesetzgeber gefordert, endlich die Lücke im Drittelbeteiligungsgesetz zu schließen. Die zweite Änderung muss nach Auffassung der Gewerkschaften direkt an der SE-Gesetzgebung ansetzen, um die Frage der Mitbestimmung im Unternehmen einer wachsenden Beschäftigtenzahl anpassen zu können. „Wir plädieren in solchen Fällen für eine Neuverhandlungspflicht über die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer in der SE. Der deutsche Gesetzgeber hat bei der Umsetzung der SE-Richtlinie in nationales Recht den Begriff der strukturellen Änderung nicht näher definiert“, sagt Daniel Hay. 

Abhilfe muss also aus Berlin kommen. „Da sind wir über den DGB bemüht, die Politik entsprechend zu bearbeiten“, ergänzt Tanja­ Jacquemin. Allerdings: Mit einem schnellen Erfolg rechnen weder sie und noch ihre Kollegen. Im politischen Berlin spielt das Thema Mitbestimmung derzeit keine Rolle. Das will die „Offensive Mitbestimmung“ ändern, die sich der neue DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann auf die Fahne geschrieben hat.

MEHR INFORMATIONEN

Zur Europa-AG siehe auch den Beitrag im Infodienst Böckler­Impuls.

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