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Magazin Mitbestimmung

Industrienahe Dienstleistungen: Jobmaschine Wolfsburg AG

Ausgabe 06/2014

VW und Wolfsburg organisieren sehr erfolgreich zusammen den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft rund um den industriellen Kern. Von Annette Jensen

Manche haben auf diesen Moment ein Jahr lang gewartet. Nun erscheint in der weiten, zeltartigen Halle ihr Name auf der Leuchttafel, und sie schlendern, eilen, schreiten zum Treffpunkt. Dort wartet schon Melanie Wendland. Die gelernte Automobilkauffrau hat kurz zuvor die wichtigsten Daten auf ihrem Tablet studiert, jetzt geleitet sie die Kunden eine Treppe hinunter zu ihrem neuen VW. „Für fast alle ist das ein Glücksmoment – und deshalb macht mir das Spaß, was ich tue“, sagt die 28-jährige Autostadt-Mitarbeiterin. Manchmal fließen in diesen Momenten Freudentränen. Wendland nimmt sich Zeit, erklärt GPS-System, Scheibenwischerknopf und zeigt den Ölstandskontrollstab im Motor. Das am Morgen abgegebene Gepäck wird gebracht, und die Kundenbetreuerin macht ein Foto, das ihre Kollegen den Neuwagenbesitzern bei der Ausfahrt übergeben werden; oft ist darauf die ganze Familie zu sehen. Etwa jeder vierte Volkswagen-Kunde kommt nach Wolfsburg, um seinen Wagen persönlich abzuholen. 

Doch ein Großteil der jährlich zwei Millionen Besucher der VW-Autowelt schaut nur die Ausstellung an und lässt sich das immerhin 15 Euro Eintrittsgeld kosten. Dominik Mohn, studierter Theologe und Philosoph, ist seit 13 Jahren dabei. Kenntnisreich und mit Verve spricht der Tourguide ebenso über den Wasserverbrauch der Baumwollproduktion und die sozialen Folgen des Klimawandels wie über die Entwicklung eines Autos. Er begleitet die Besucher zu Design-Ikonen in der Oldtimerausstellung oder zum Porsche-Tempel, wo die Besucher im Halbdunkel bei pathetischer Musik hinabsteigen zum silbrigen PS-Heiligtum, das ein junger Mann mit Federwedel nach jedem Probesitzen eines Kunden wieder in den Zustand der Unberührtheit zurückversetzt. 

Auch 70 Pädagogen gehören zum Autostadt-Team. Stephanie Frobese ergründet mit Kita- und Grundschulkindern die Funktionsweise von Zahnrädern oder das Phänomen Strom. Die batterie- und windradbetriebenen Pappvehikel, die die Mädchen und Jungen bauen und später mitnehmen dürfen, haben nirgendwo ein VW-Logo. „Wenn wir hier Schleichreklame machen würden, könnten wir als außerschulischer Lernort nicht bestehen“, ist sie überzeugt. Schließlich seien gerade Lehrer und Erzieherinnen bei solchen Fragen extrem sensibel. Die 32-Jährige ist stolz, dass die Autostadt vom Land Niedersachsen als offizieller Lernort anerkannt wurde und 42 Kitas und Grundschulen regelmäßig Kurse buchen. Der 23-jährige Veranstaltungskaufmann und Hobbymusiker Niklas Lenhardt hat ebenfalls das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein: Er organisiert Jazzkonzerte im ZeitHaus der Autostadt und andere Events. 

IMAGEFÖRDERUNG

Etwa zwei Drittel der Kosten erwirtschaftet die Autostadt selbst, den Rest schießt das Mutterunternehmen zu. „Wir sind ein Instrument, um das positive Image des Konzerns zu fördern“, sagt Tobias Riepe, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit. Marktforscher haben herausgefunden, dass jährlich etwa 10 000 Menschen in der Autostadt die Entscheidung treffen, sich als Nächstes ein VW-Modell anzuschaffen. Und auch wenn die Kinder keine kleinen Geschenke mit Firmenemblem mit nach Hause tragen, so wissen sie doch ganz genau, bei welchem Unternehmen sie gewesen sind. 

Die Betriebsratsvorsitzende Iris Exner war früher Buchhändlerin in einem Kollektivbetrieb, doch Ende der 1990er konnte der sich nicht mehr halten. Damals lag die Arbeitslosigkeit in der Stadt bei 17 Prozent, und ohne die Viertagewoche in der Autoproduktion hätte es noch katastrophaler ausgesehen. Exner begann als Ticketkontrolleurin, bildetet sich fort, wurde Teamleiterin in verschiedenen Bereichen und ist seit 2010 freigestellt. Etwa die Hälfte der rund 1000 Beschäftigten sind Mitglied bei der IG Metall, die einen Dienstleistungstarifvertrag geschlossen hat. Der garantiert auch in der Autostadt die 35-Stunden-Woche und 30 Tage Urlaub. Zwar bekommen die Mitarbeiter keine Wochenendzuschläge so wie drüben im Werk. Doch immerhin kennen sie ihren Dienstplan fürs ganze Jahr. 

Wohl kaum eine andere Stadt ist so eng mit einem Unternehmen verbunden wie Wolfsburg mit VW. Beide sind 1938 zusammen quasi auf der grünen Wiese entstanden, beide gerieten in den 1990er Jahren in eine tiefe Krise, als bei VW Zehntausende von Arbeitsplätzen auf der Kippe standen. Mit der von Personalvorstand Peter Hartz ersonnenen 28,8-Stunden-Woche gelang es damals, Massenentlassungen zu verhindern. Doch an der problematischen Monostruktur änderte das noch nichts. Deshalb gründeten VW und Wolfsburg 1998, zum 60. Geburtstag, gemeinsam die Wolfsburg AG (WOB) mit dem Ziel, die Arbeitslosigkeit vor Ort zu halbieren. Das ist gelungen: Heute suchen weniger als fünf Prozent der Wolfsburger einen Job, und es gibt etwa so viele Stellen wie Einwohner; morgens sind die Züge aus Braunschweig und Berlin proppenvoll mit Pendlern. 

PLUS VON 40.000 JOBS

Vor allem Neugründungen von Unternehmen bringen frischen Wind nach Wolfsburg. „Bei uns geht vieles sehr schnell, weil wir sowohl die Unternehmenslogik als auch die Denkweise von Verwaltungen gut kennen“, sagt Wolfsburg- AG-Vorstandssprecher Julius von Ingelheim. 500 bis 600 Firmen hat das Unternehmen in den vergangenen Jahren bei der Gründung und Ansiedlung begleitet. Neben zahlreichen VW-Zulieferern, die Komponenten herstellen oder als Dienstleister direkt zum Band bringen, sind das Start-ups aus den Bereichen IT, erneuerbare Energien oder auch Gesundheitsvorsorge. 

Die WOB AG selbst beschäftigt etwa 130 Menschen, zum Großteil Projektentwickler und Unternehmensberater, und hat nach eigenen Angaben über 16 000 neue Arbeitsplätze angestoßen. Insgesamt verzeichnet Wolfsburg seit Ende der 1990er Jahre ein Plus von 40 000 Jobs. Hotels und Läden sind entstanden, und neben der Autostadt locken auch das experimentelle Naturwissenschaftsmuseum Phaeno und der Bundesligaclub VfL Wolfsburg Touristen an. 

Ortswechsel. Etwa 30 Kilometer weiter südwestlich, in Braunschweig, liegt der Campus von VW Financial Services (FC). Hinter den Glasfassaden arbeiten rund 5000 Menschen, weltweit sind 11 000 damit beschäftigt, den Fahrzeugabsatz zu fördern – durch unschlagbar günstige Autokredite und Leasingkonditionen, Versicherungen und Aktionsgeschäfte, aber auch durch die Finanzierung von Händlern und Vertragswerkstätten. „Der Konzern versetzt uns in die Lage, im Markt einmalige Angebote zu machen“, erklärt der Betriebsratsvorsitzende und gelernte Bankkaufmann Waldemar Drosdziok. Wer beispielsweise 2013 einen Seat bestellte, musste für den Kredit null Prozent Zinsen zahlen. 

Etwa 50 Schreibtische stehen im Großraumbüro, in dem auf der einen Seite die Leasingangebote noch auf Papier und auf der anderen die Finanzierungsanfragen ausschließlich am PC bearbeitet werden. Privatkunden, die bei einem VW-Händler sitzen und über den Kauf eines neuen Autos verhandeln, haben in der Regel ihren Kaffee noch nicht ausgetrunken, bis die Antwort von hier kommt. Täglich mehrere Hundert Anfragen erhalten Bankkauffrau Susanne Wagner und ihre Kollegen, und jeden Abend haben sie Kredit- und Leasingverträge über neun bis 15 Millionen Euro bearbeitet und an den Handel ausgezahlt. Wagner macht die Arbeit auch nach 25 Jahren noch Spaß. Das Betriebsklima sei „perfekt“, und wer lieber Teilzeit arbeite, habe hier keine Schwierigkeiten, das durchzusetzen. 

Inzwischen können die Kunden bei der VW-Bank aber auch ein Girokonto führen, ihr Geld anlegen oder einen Kredit für ihr Häusle erhalten. In der Filiale in Braunschweigs Innenstadt geht es ruhig zu; wer in das verwinkelte Altstadtgebäude kommt, hat einen Termin. Vorbei an einem weißen VW up!, der mit einem Kran in einen Lichtschacht eingeschwebt ist, gelangt man zu Sven Liemann. Früher hat er bei einer Sparkasse gearbeitet, seit drei Jahren berät er hier künftige Eigenheimbesitzer. Auch er ist voll des Lobes über seinen Arbeitgeber: Die betrieblichen Leistungen und die Bezahlung seien deutlich attraktiver als im Rest der Branche. 

Gut die Hälfte der VW-FC-Beschäftigten ist gewerkschaftlich organisiert, auch für die Banker gilt die 35-Stunden-Woche; eine technische Vorrichtung verhindert, dass spätabends noch gearbeitet werden kann. Controller oder Risikomanager, die das Unternehmen zunehmend braucht, reagieren oft etwas befremdet, wenn sie die IG-Metall-Schilder im Betrieb entdecken, berichtet Waldemar Drosdziok. Nicht wenige aber überzeugte ein anderes Argument, hierher zu wechseln: Die Betriebskita „Frechdaxe“ mit 180 Plätzen hat mehrere Auszeichnungen für ihre pädagogischen Konzepte gewonnen. Gegründet wurde die VW-Bank 1948 mit einem Dutzend Leuten auf dem Wolfsburger Werksgelände, doch Anfang der 1980er Jahre musste die inzwischen 400-köpfige Truppe aus Platzmangel umziehen. Noch heute ticken in den roten Backsteingebäuden vis-à-vis vom Wolfsburger Bahnhof die Uhren freilich anders als bei den Dienstleistungstöchtern. In den kilometerlangen Hallen ist alles genaustens getaktet, ohne Pause dröhnt hier der Herzschlag der Pressmaschinen. Viereinhalb Stunden dauert es, bis aus verzinkten Stahlblechplatten eine fertige Karosserie entstanden ist; alle 18 Sekunden verlässt ein Auto die Fabrik. 

ABTEILUNG BEIPACK

Wer im Dreischichtbetrieb gesundheitlich nicht mehr mithalten kann, wird als „leistungsgewandelt“ bezeichnet und bekommt eine Aufgabe in der Abteilung Work2Work. Abdelhafid Khemiri hat jahrzehntelang Getriebe montiert, heute arbeitet der 61-Jährige in der Abteilung „Beipack“. Dort stellt er passend zum jeweiligen Auto Fußmatten, Verbandkästen und andere Teile zusammen. Runde für Runde sammelt er die Ausstattung für fünf Autos in ein Wägelchen; Lohnabstriche musste er nicht hinnehmen. Auch wer einfach mal was anderes machen will, hat bei VW gute Chancen auf einen Arbeitsplatzwechsel, ohne deshalb finanziell schlechter dazustehen. Günther Wege, heute Meister bei Beipack, war vorher 16 Jahre lang in der Logistik beschäftigt. Sein Kollege wechselte nach seiner Ausbildung im Modellbau zur Werksfeuerwehr. 

Personalleiter Martin Rosik blickt von seinem Schreibtisch auf den Mittellandkanal – die Grenzlinie zu der Welt da draußen. Das Gespräch mit der Journalistin führt er zusammen mit Betriebsrätin Daniela Cavallo; man ergänzt sich. „Mitbestimmung, Mitverantwortung und Miteinander sind bei Volkswagen zentral. Dazu gehört, dass wir niemanden fallen lassen, der jahrzehntelang Leistung gebracht hat und plötzlich gesundheitlich ein Handicap hat. Wir prüfen aber ebenso jede Leistung auf ihre Wettbewerbsfähigkeit“, so Rosik. Und Cavallo fügt hinzu: „Für uns als Betriebsrat sind Dienstleistungen vom Catering über das Gesundheitswesen bis zum hoch spezialisierten IT-Bereich unverzichtbarer Bestandteil des Unternehmens. Auch hier haben wir Beschäftigung gesichert und neue Arbeitsplätze geschaffen.“

Gut 90 Prozent der Belegschaft gehören der IG Metall an – und die verfolgt seit Langem das Ziel, möglichst viele Arbeitsbereiche unterm VW-Dach zu halten. In den Kantinen gibt es die legendäre Currywurst aus der betriebseigenen Schlachterei, und auch eine Gärtnerei zählt zum Universum. Die Architektin Sandra Dziggel plant bei VW in Wolfsburg Büros und deren Ausstattung. In vielen Unternehmen würde so etwas ein externer Dienstleister übernehmen, doch hier schätzt man die enge Abstimmung mit den späteren Nutzern. 

Die Fertigungstiefe ist nach wie vor deutlich größer als bei anderen Automobilkonzernen. Vorne am Band in der Montage stehen ausschließlich VW-Mitarbeiter – doch in den Hallen sind selbstverständlich auch Menschen mit Kleidung anderer Firmen anzutreffen, die Teile anliefern. Der Betriebsrat geht davon aus, dass heute etwa zwei Drittel der Kollegen im F&E-Bereich einen VW-Arbeitsvertrag haben und etwa ein Drittel bei Dienstleistern angestellt ist. „Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es in der Autoindustrie einen ständigen Aushandlungsprozess, was zum Kernprozess gehört und was die Kernkompetenz ausmacht. Im Vergleich zu anderen hat VW viel drinnenbehalten“, sagt Manuel Nicklich von der FU Berlin, der sich wissenschaftlich mit der Entwicklung von industrienahen Dienstleistungen beschäftigt. 

Dass VW heute in Wolfsburg wesentlich mehr Personal in Verwaltung und Modellentwicklung beschäftigt als in den 1980er Jahren, liegt aber auch daran, dass der Konzern inzwischen zwölf Marken unter seinem Dach vereinigt. Jeder, der hier irgendwo Karriere machen will, muss den Durchlauferhitzer Wolfsburg passieren. Zugleich gelten heute Tätigkeiten wie Vormontage, die früher als Teil der Produktion angesehen wurden, oft als „Service“. Aufs Ganze betrachtet steht die Herstellung bei den großen Automobilkonzernen aber immer noch im Zentrum. Dagegen kümmert sich beispielsweise der ehemalige Baukonzern Bilfinger und Berger inzwischen überwiegend um die Finanzierung und das Management von Immobilien – und die Bautätigkeit wird zur Nebensache, beschreibt Nicklich den Unterschied der Branchen. 

Obwohl das VW-Werksgelände eine Stadt in der Stadt ist – allein die Hallen überspannen einen Raum fast von der Größe Monacos, und dazwischen liegen 70 Kilometer schnurgerade Straßen –, reicht der Platz längst nicht mehr aus, um alle 60 000 Beschäftigten unterzubringen. In knapp 100 weiteren Immobilien in Wolfsburg sind heute VW-Leute zu finden; nicht selten sitzen sie mit den Beschäftigten von Dienstleistern Tisch an Tisch. Doch während man bei BMW in München für die Mitarbeiter aus Forschung, Entwicklung und IT-Bereichen einen riesigen überdachten Platz mit Cafés geschaffen hat, damit sie sich gegenseitig inspirieren, gibt es solch kreativitätsanregende Architektur in Wolfsburg nur für die Kundschaft in der Autostadt. 

Designer, die seit Jahren bei VW arbeiten und beim Gespräch nicht von der Pressestelle beaufsichtigt werden, äußern durchaus Frust über die Arbeitsbedingungen: Sie sind zwar gut bezahlt – doch innovationsanregend empfinden sie die Atmosphäre nicht. Ausgerechnet in München, und damit fernab vom Wolfsburger Kosmos, gibt es die VW-Arbeitsgruppe, die sich mit Big Data und Internet beschäftigt. Und das VW-Carsharing-Projekt Quicar wird in Hannover getestet.

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