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Magazin Mitbestimmung

Dienstleistungsforschung: Dienstleistung im Test

Ausgabe 06/2014

Deutsche Unternehmen können Produktion, wenig entwickelt 
ist dagegen das Denken in digitalen Geschäftsmodellen, sagen die Dienstleistungsarbeit-Fachleute vom Fraunhofer-Institut. Und prophezeihen eine massive Veränderung der Arbeitswelt. Von Stefan Scheytt

 Von einem Besuch bei Bernd Bienzeisler und Sibylle Hermann kommt man je nach Naturell und Weltbild sorgenvoll, irritiert oder auch halbwegs zuversichtlich zurück. Im Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart forschen der Soziologe und die Psychologin – gemeinsam mit rund 300 Kollegen des IAO und des kooperierenden Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) – in mehreren Geschäftsfeldern über die Zukunft der Arbeit im Allgemeinen und über Dienstleistungen im Besonderen. Zu ihrem Competence-Center Dienstleistungsarbeit gehört auch das ServLab, in dem die Wissenschaftler Dienstleistungsideen vor ihrer Markteinführung testen. Mit ihren Auftrag­gebern aus der Hotellerie, dem Maschinenbau oder dem Gesundheitswesen, darunter auch regelmäßig Gewerkschafter und Betriebsräte, simulieren sie die Interaktion zwischen Dienstleister und Kunde in ihrer ganz spezifischen technischen und organisatorischen Arbeitsumgebung; nicht selten kommen dabei Schauspieler zum Einsatz, sogar eine Beduftungsanlage steht bereit, um die Situation so realistisch wie möglich nachzustellen. „Wir ziehen daraus viele Erkenntnisse über Qualifikationsbedarfe und Schulungskonzepte für Mitarbeiter“, sagt Sibylle Hermann. Seit eineinhalb Jahren beraten die IAO-Forscher zum Beispiel Betriebsräte von Servicegesellschaften der Telekom, deren Wechsel vom Kupfer- zum Glasfaserkabel große Auswirkungen für die Beschäftigten und deren Qualifikation hat (siehe Seite 28).

Freilich erscheinen solche Veränderungen fast unbedeutend im Vergleich zu den Verwerfungen, die durch die Digitalisierung der Wirtschaft noch zu erwarten sind und wie sie sich in Dienstleistungsbranchen wie dem Verlagswesen, dem Buchhandel, der Reise- oder Musikbranche schon lange deutlich zeigen. Jetzt aber scheint es so, als würden auch klassische Branchen in den Sog der digitalen Revolution geraten. „Im produzierenden Gewerbe ist der Megatrend, mit datenbasierten Dienstleistungen Geld zu verdienen“, sagt Bernd Bienzeisler (siehe auch seinen Beitrag auf S. 16). „Zwischen Produzent und Kunde können völlig neue Akteure auftauchen und den ‚digitalen Kontrollpunkt‘ zum Kunden besetzen. Dadurch verschieben sich die Machtverhältnisse: Der produzierende Betrieb rückt in der Wertschöpfungskette um eine Stufe nach unten.“ Seine Kollegin Sibylle Hermann spricht von einem Wettlauf zwischen der Real- und der Internetwirtschaft um diese digitalen Kontrollpunkte: So ist es etwa den Autobauern Daimler und BMW mit ihren Carsharing-­Angeboten zwar gelungen, sich als Mobilitätsdienstleister zu etablieren; aber was ist, wenn Google, SAP oder die Telekom ihnen Konkurrenz machten? „Natürlich müssen auch dafür Autos gebaut werden, aber entscheidend ist, wer am Ende mehr von der Mobilitätsdienstleistung profitiert – der Autohersteller oder der vermittelnde Dienstleister?“

Auch dank der Gewerkschaften, findet Bernd Bienzeisler, stehe die deutsche Wirtschaft mit ihrer starken realwirtschaftlichen Basis heute gut da, viel besser etwa als England, das seine Industrie zugunsten der Finanzdienstleistungen vernachlässigte. „England wäre heute froh, es hätte noch mehr von der als ‚old economy‘ verspotteten Industrie.“ Deutsche Industrieunternehmen seien relativ gut in der Beherrschung der Produktionsprozesse und deren softwaretechnischer Unterstützung. „Was sie aber weniger gut können, ist das Denken in neuen, digitalen Geschäftsmodellen“, urteilt Bienzeisler. „Von der Idee, selbst einmal Google zu werden, sind sie weit entfernt.“ Er sei deshalb „nur verhalten optimistisch“.

NEUES KLASSENBEWUSSTSEIN

Dass die Digitalisierung die Arbeitswelt massiv verändern wird, steht für Bienzeisler außer Frage, aber wie es am Ende wirklich kommt, wisse niemand. Der Soziologe erinnert an die Telearbeit, der man vor Jahren einen Siegeszug voraussagte, der jedoch ausblieb. Sehr wahrscheinlich sei eine Polarisierung der Arbeit in einfache, prekäre, auf Abruf basierende Tätigkeiten und andererseits in hoch qualifizierte Jobs. Nachdem bereits Dienstleistungsarbeitsplätze im Einzelhandel oder im Verlagswesen verloren gegangen seien, hätten etwa Sachbearbeiter in der Versicherungsbranche, die ihre Prozesse stark automatisiere, keine guten Aussichten, auch Verkäuferinnen an der Supermarktkasse sieht Bienzeisler in absehbarer Zeit nahezu verschwinden. Doch auch die Tätigkeiten höher qualifizierter Dienstleister könnten überflüssig werden. Sibylle Hermann: „Beraterjobs könnten umso gefährdeter sein, umso mehr Wissen im Netz zu beziehen ist. Und wer sich die Onlineangebote amerikanischer Universitäten anschaut, die weltweit und zum Teil kostenlos verfügbar sind, kann auf den Gedanken kommen, ob es in 30 Jahren noch so viele Universitäten und Professoren gibt.“

Mit ihren Datenschätzen fordern die digitalen Dienstleister die Industrie heraus, die lange Zeit nur vom Produkt her dachte und erst dann an den Service. Doch inzwischen würden die alten „Silostrukturen“ überall aufbrechen, sagen die IAO-Wissenschaftler. „Wenn man anwendungs- und lösungsorientiert arbeitet wie wir, wird die Unterscheidung zwischen Dienstleistung und Produkt immer unwichtiger“, sagt Sibylle Hermann, das IAO selbst habe seine organisatorischen Strukturen immer wieder angepasst. Auch in der Forschungspolitik und -förderung sieht Bernd Bienzeisler das Auflösen sektoraler Grenzen: „Das Bewusstsein, dass Technologieförderung eng an die spätere Anwendung geknüpft sein muss, ist enorm gewachsen. In den Ministerien arbeiten heute Referate zusammen, bei denen das früher kaum möglich gewesen wäre. Und die meisten Unternehmen haben das Thema Industrie 4.0 auf dem Schirm.“ Gewerkschaftsfeindlich müsse diese Entwicklung nicht zwangsläufig sein. „Ich kann mir vorstellen, dass die unglaubliche Dynamik der Digitalisierung unserer Arbeitswelt eine Art neues Klassenbewusstsein wachsen lässt“, glaubt Bienzeisler. „Gerade die höher Qualifizierten machen sich nach meiner Wahrnehmung zunehmend Gedanken darüber, ob das alles wirklich zu ihrem Vorteil als Beschäftigte ist. Möglicherweise liegt darin ein interessantes Potenzial für die Gewerkschaften.“

Die Fraunhofer-Gesellschaft

Forschen für die Praxis ist die zentrale Aufgabe der 1949 gegründeten Fraunhofer-Gesellschaft, zu der heute mehr als 80 Forschungseinrichtungen mit 22 000 Mitarbeitern gehören, darunter 66 Institute als selbstständige Profit-Center wie das IAO in Stuttgart. Über 70 Prozent des Leistungsbereichs Vertragsforschung, der jährlich ca. 1,6 Milliarden Euro beträgt, erwirtschaftet die Fraunhofer-Gesellschaft mit Aufträgen von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen sowie mit öffentlich finanzierten Forschungsprojekten. Knapp 30 Prozent werden von Bund und Ländern als Grundfinanzierung beigesteuert.

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