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Magazin Mitbestimmung

Pflege: Telecare verändert die Pflege

Ausgabe 06/2014

Ist es hilfreich, wenn so genannte Pflegeinterventionen digital per Touchscreen dokumentiert oder wenn Leute mit Weglauftendenzen per Sender geortet werden? Folgen für die Beschäftigten untersucht ein Hans-Böckler-Forschungsprojekt. Von Karin Hirschfeld

Im Film heißt die Lösung des Pflegenotstands Vera. Der Roboter in Frauengestalt, mit matronenhaftem Äußeren und fest geschnürter Schürze, überwacht die Diät des betagten Hausherrn, sie misst seinen Blutdruck und rettet ihm bei einer Herzattacke das Leben. Allzu weit ist dieses Szenario aus dem Science-Fiction „Real Humans“ von den realen Möglichkeiten gar nicht entfernt: In Altenheimen servieren die ersten Roboter den Heimbewohnern Getränke oder fahren Berge von Wäsche über die Flure. Ingenieure entwickeln, auch durch Millionengelder der EU gefördert, vielseitige Serviceroboter für die Pflege. Diese sollen eines Tages als „künstliche Begleiter“ für Pflegebedürftige taugen, ihnen ein unabhängiges Leben erleichtern und möglichst auch kommunikative Stärken aufweisen. Ob artifizielle Pfleger namens Vera oder Care-o-bot je in breiter Masse Einzug in deutsche Pflegeheime oder Seniorenwohnungen halten werden, ist derzeit kaum abzusehen. Noch sind es die menschlichen Pflegekräfte, nach denen stationäre wie ambulante Anbieter angesichts des steigenden Pflegebedarfs händeringend suchen. Auch hier durchdringen technologische Innovationen zunehmend den Arbeitsalltag, wenngleich sie meist weit weniger spektakulär sind als Pflegeroboter. Den Pflegebedürftigen und Beschäftigten bringen sie eine Reihe von Veränderungen – die Aussicht auf neue Freiheiten und Entlastungen, aber auch erhöhte Kontrollpotenziale und, im negativen Fall, eine Aushöhlung der Pflegeinteraktion. Ein aktuelles Forschungsprojekt am iso-Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft Saarbrücken untersucht Technologien in der Pflege samt ihren Auswirkungen und Gestaltungsmöglichkeiten. Erste Ergebnisse liegen jetzt vor.

PFLEGE AUS DER FERNE

Vor allem in dünn besiedelten Gebieten könnte ein Ansatz an Bedeutung gewinnen, bei dem sich Teile der pflegerischen Betreuung über räumliche Distanzen hinweg abspielen: Telecare. Dabei werden Daten zwischen den zu Hause lebenden Menschen und dem Pflegeanbieter ausgetauscht – beispielsweise über Messungen von Blutzucker, Blutdruck oder Puls. Sensoren lösen Alarm aus, wenn eine Person stürzt oder sich ungewöhnlich lange nicht bewegt, und eine Reihe technischer Hilfen im Haushalt erleichtert das selbstständige Wohnen. Pflegekräfte leisten Unterstützung über das Telefon oder Videotelefonie, im Notfall rückt der Pflegedienst oder der Arzt an. Durch diese Pflege mit Abstand lassen sich Heimunterbringungen länger hinausschieben. „Noch steckt Telecare hierzulande in den Kinderschuhen – anders beispielsweise in Skandinavien, Schottland oder den USA“, sagt Projektleiter Volker Hielscher vom iso-Institut. Das liegt sicher auch an der Finanzierungslogik des deutschen Pflegesystems, das auf Leistungen vor Ort abzielt. Eine Schwäche der Tele-Pflege: Vieles lässt sich aus der Distanz nur schwer bewerten – erst recht da, wo es um sensible menschliche Belange geht. Dietmar Erdmeier, Gewerkschaftssekretär im Bereich Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand und im Beirat des Forschungsprojekts, ist auch aus Haftungsgründen skeptisch: „Wenn eine Pflegekraft den Gesundheitszustand einer Person beurteilen soll und sie nicht persönlich in Augenschein nehmen kann, ist das auch ein Sicherheitsproblem.“ 

Bewegungsmelder und Datenerfassung in Echtzeit_ In stationären Pflegeeinrichtungen gewinnt das elektronische Monitoring an Gewicht – insbesondere bei demenzkranken Personen. Bewohner mit Weglauftendenzen lassen sich beispielsweise mittels eines am Armband befestigten Senders jederzeit orten. Verlässt die Person einen definierten Bereich, erhält die Pflegekraft ein Signal. „Für die Beschäftigten bietet das eine Entlastung, denn ihr Arbeitsalltag ist äußerst eng getaktet. Das macht es ihnen schwer, die Pflegebedürftigen immer persönlich im Blick zu behalten“, sagt Hielscher. Durch den Technikeinsatz gewinnen Bewohner oftmals neue Freiheiten – insbesondere dann, wenn die Alternative im Sedieren oder Einschließen bestünde. Vorbehalte gibt es, wo ausgefeilte Monitoringsysteme angesichts knapper Ressourcen die persönliche Zuwendung ersetzen sollen: „Technik darf Beziehungsarbeit in der Pflege nicht zur Arbeit am Überwachungsterminal machen“, fordert Dietmar Erdmeier von ver.di. „Außerdem ist sicherzustellen, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Bewohner nicht leidet.“ Auch bei der Dokumentation lässt sich ein klarer Trend zur EDV verzeichnen: Angesichts verschärfter Qualitätsstandards in der Pflege sind Umfang und Komplexität der Datenerfassung enorm gestiegen. Zu dokumentieren ist jede Pflegeintervention im Alltag – vom Blutzuckermessen bis zur Flüssigkeitszufuhr. „Alle geforderten Daten auf Papier nachzuhalten wird immer schwieriger“, sagt Volker Hielscher. Das Dokumentieren per Touchscreen oder Tastatur wird von vielen Pflegekräften als Zeitgewinn verbucht und vermittelt überdies die Sicherheit, für externe Kontrollen gewappnet zu sein. Denn die Software fragt alle erforderlichen Daten automatisch ab. Zugleich hat das Rückwirkungen auf die Steuerung des Arbeitsprozesses. So wird jede Abweichung vom festgelegten Ablauf sichtbar und begründungspflichtig. 

Die Frage nach Transparenz und Leistungskontrolle ist denn auch einer der entscheidenden arbeitspolitischen Aspekte. „Häufig kann die Leitung jederzeit den Status für alle Bewohner abfragen. Und das ist den Pflegekräften bewusst“, so die Beobachtung des Sozialforschers. Dennoch findet die Systemeinführung oft ohne Beteiligung der Beschäftigten statt. Auch in Sachen Qualifikation gibt es Nachholbedarf. Weniger entscheidend ist dabei das Qualifikationsniveau der Pflegekraft, sondern vor allem die individuelle Technikaffinität – eine weitgehend generationenabhängige Frage. In der Altenpflege-Ausbildung spielen die digitalen Medien bislang eine geringe Rolle.

 Inwiefern sich der Kern der Pflegearbeit durch den verstärkten Technikeinsatz verändert, ist noch eine offene Frage. „Pflegekräfte billigen neue Technologien dann, wenn sie merken, dass sie die Arbeit erleichtern, und wenn auch die Patienten die Technik akzeptieren“, weiß Hielscher. Denn die Pflegequalität und die Qualität der Arbeit sind im professionellen Verständnis der Beschäftigten eng gekoppelt. Die Grenze ist da erreicht, wo die Essenz der Pflegearbeit auf dem Spiel steht: die persönliche Interaktion zwischen Pflegekraft und Patient. Für Vera und ihre maschinellen Artgenossen sind das derzeit keine besonders guten Aussichten.

Mehr Informationen

„Technikeinsatz in der Pflegearbeit“ heißt das Forschungsprojekt am iso-Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft in Saarbrücken unter Leitung von Volker Hielscher und mit dem Kooperationspartner Kuratorium Deutsche Altershilfe. Es wird gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung und läuft noch bis Ende 2014. 

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